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Der Kampf, Jg. 4 11. Heft, 1. August 1911. S. 495–499.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wenn wir es nicht selbst gewusst hätten, der Jubel unserer Gegner bewiese es zur Genüge: die Arbeiterklasse Oesterreichs hat durch das Vorgehen der tschechischen Separatisten eine Einbusse an Kraft, an Macht und Ansehen erlitten. Wie hat die Bourgeoisie stets den Internationalismus herabzusetzen, ihn als gleichgültig, wertlos, ja schädlich für die Arbeiterklasse hinzustellen versucht! Und heute, da dem österreichischen Proletariat ein Stück dieses Internationalismus verloren gegangen, heute jubelt sie! Heute ist nicht die Rede von der „Wertlosigkeit“ der internationalen Solidarität, heute kann man sehen, dass die Ausbeuter Oesterreichs und ihre politischen Handlanger ganz genau wissen, dass durch die nationale Spaltung der Gewerkschaften wie durch die Lockerung des Gefüges der Parlamentsfraktion der Arbeiterklasse eine Quelle ihrer Kraft unterbunden, ein Teil ihres Ansehens abhanden gekommen ist. Jetzt wird es deutlicher als jemals: Der Internationalismus ist kein leerer Wahn. Die Gegner jubeln und leider jubeln sie mit Recht. Denn die Hoffnung, die wir noch vor einem Jahre, zur Zeit des Kopenhagener Kongresses hegen durften, dass den tschechischen Separatisten der Gegensatz zur gesamten Internationale bedenklich erscheinen, dass sie durch ihn zur Einkehr und Umkehr veranlasst würden, muss heute aufgegeben werden. Der tschechische Separatismus besteht und wird nicht so bald verschwinden. Die Tatsache ist schmerzlich, aber sie muss als Tatsache anerkannt werden, nach ihr muss sich unsere Taktik richten. Mit vollem Recht verweist ein Artikel des Genossen Hannich, der in- und ausserhalb der Partei starkes Aufsehen gemacht hat, gerade auf diesen Punkt. Er sagt [1]:
„Die tschechischen Arbeiter wollen in ihrer Mehrheit von dem Internationalismus, wie er von uns Deutschen bisher aufgefasst und gepredigt worden ist und wie er sich in den zentralistischen Gewerkschaftsorganisationen verkörpert, nichts mehr wissen, und uns fehlen die Machtmittel, sie wieder zu dieser zentralistischen, gewerkschaftlichen Organisation zurückzuführen, oder so weit sie ihr noch angehören, dabei festhalten zu können ... Dass die tschechischen Genossen von ihren separatistischen Bestrebungen ablassen und als reumütige Sünder gegen das zentralistische gewerkschaftliche Prinzip umkehren werden, ist durchaus nicht anzunehmen.“
Genosse Hannich hat recht. Wir müssen mit dem tschechischen Separatismus als feststehender Tatsache rechnen, es wäre ein falscher Glaube, annehmen zu wollen, dass die deutschen Genossen in der Lage sind, gegen den Willen der Tschechen die internationale Geschlossenheit wieder herzustellen. Wie in allen Fällen ist auch hier der Zerstörer stärker als der Aufbauer. Die tschechischen Separatisten gehen mit geringschätziger Gebärde über die Ansichten und Beschlüsse des Proletariats aller Nationen hinweg, ihnen fehlen die starken Bande der internationalen Solidarität und „Machtmittel“ haben die deutschen Sozialdemokraten weder zur Verfügung, noch wären sie willens, sie anzuwenden. Zur Solidarität kann man eben niemand zwingen.
Wir dürfen uns daher keiner Täuschung darüber hingeben, dass unsere besten Absichten am Widerstand der Separatisten scheitern müssen, da das Ideal der Internationale auf gewerkschaftlichem und politischem Gebiet nur erreichbar ist, wenn alle Nationen es erstreben. Soweit sind wir mit Genossen Hannich vollständig einverstanden und auch darin, dass es notwendig ist, den Tatsachen in die Augen zu sehen, sich klar zu werden, wie wir unsere Taktik der nun einmal leider gegebenen Situation anzupassen haben. Dagegen stehen wir im schroffsten Gegensatz zu der Auffassung, die Genosse Hannich von dieser neuen Taktik hat. Er sagt, wir müssen „umlernen“, wir sollen den „Separatismus nicht weiter als einen argen Verrat an den sozialdemokratischen Prinzipien brandmarken“, vielmehr „müssen auch wir einen nationalen Boden beziehen“. Eine Polemik gegen diesen höchst überraschenden Vorschlag ist um so weniger nötig, als sämtliche Parteiorgane der deutschen Sozialdemokratie, die sich mit ihm beschäftigten, mit aller Schärfe den Standpunkt entschiedenster Ablehnung eingenommen haben. Dagegen ist es keineswegs überflüssig, das Verhältnis der deutschen zu den tschechischen Sozialdemokraten noch recht gründlich zu diskutieren. Der Moment ist gekommen, wo es möglich und notwendig geworden auszusprechen: was ist. Die Frage, die Genosse Kautsky in diesem Heft des Kampf stellt, und viele ähnliche, schweben Tausenden auf den Lippen und in unseren Organisationen macht sich bereits einiger Unmut darüber geltend, dass der Flut von ungerechten Angriffen, die die tschechischen Separatisten Tag für Tag gegen die internationale Gewerkschaftsbewegung, wie auch gegen die deutsche Sozialdemokratie vorgebracht, insbesondere von Seiten unseres Zentralorganes, nur ein beharrliches Schweigen entgegengesetzt wurde.
Dieses Schweigen war sicher gut, solange noch die Hoffnung bestand, dass die Separatisten bald zur Besinnung kommen werden. Es stellte die äusserste Konsequenz jener Taktik dar, deren sich die deutschen Sozialdemokraten in Oesterreich im Gegensatz zu manchen Bruderparteien des Auslandes stets befleissigt haben. Sie unterscheiden auf das schärfste die Auseinandersetzung mit dem Feind von der mit dem Freund. Während die Regel in allen Kriegen ist, dass der Feind lieber zehn Hiebe zuviel als einen zu wenig erhalten muss, sollte bei der Meinungsverschiedenheit mit dem Freunde stets gelten: lieber zehn Hiebe zu wenig als einen zu viel.
Diese Taktik haben die deutschen Sozialdemokraten in Oesterreich gegenüber den tschechischen Separatisten bis auf die Spitze getrieben. Sie haben sich überhaupt nicht gewehrt, obwohl sie von den Separatisten aber schon sehr ausgiebig als Feinde, ja ärger als Feinde behandelt wurden. Wir werden dem Beispiel der Separatisten nicht folgen, wir werden sie auch fernerhin nicht so behandeln wie sie uns. Aber der Moment ist gekommen, wo das Schweigen nicht mehr möglich ist, wo in aller nüchternen Ruhe alles Notwendige ausgesprochen werden muss.
Wir haben nicht nötig, ausführlich zu bekräftigen, dass die deutschen Sozialdemokraten in Oesterreich seit jeher aus tiefster Ueberzeugung für die volle Gleichberechtigung der Tschechen mit den Deutschen eingetreten sind, dass sie stets verlangt haben, dass beiden Nationen die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten offenstehen müssen, dass sie im allgemeinen beide als vollkommen gleichwertig angesehen haben.
Aber so schmerzlich auch das Geständnis ist, es muss endlich doch gemacht werden, in einem, in einem einzigen Punkt wurden die tschechischen Genossen von den deutschen seit langen Jahren als minderwertig erkannt. Dieser einzige Punkt ist der Internationalismus.
Wir wollen damit nicht sagen, dass nicht hie und da auch einmal deutsche Genossen in die Gefahr kommen, vom Internationalismus abzuirren – der Artikel des Genossen Hannich ist ein sprechendes Beispiel für diese glücklicherweise äusserst seltenen Fälle – aber die grosse Masse der deutschen Genossen liess sich durch solche Irrtümer Einzelner niemals verleiten, treu und fest auf dem Standpunkt der Internationale zu beharren.
Ebensowenig wollen wir aber sagen, dass dieses harte Urteil für alle tschechischen Sozialdemokraten gilt. Gerade die von der tschechoslawischen Partei ausgeschlossenen Genossen Jura, Merta, Veska u. . w. liefern den besten Beweis, dass man auch als Tscheche voll und ganz international sein kann. Aber für die grosse Mehrheit der tschechischen Sozialdemokraten müssen wir leider konstatieren, dass sie noch immer minderwertig im Internationalismus ist.
Es fällt uns bei weitem nicht ein, diese Minderwertigkeit etwa als „nationalen Charakterzug“ betrachten zu wollen, wir wissen nur zu gut, wie das alles historisch entstanden ist, welche harten Kämpfe die tschechischen Arbeiter gegen das bürgerliche Gesindel aller Schattierungen zu führen hatten, wie die Hauptwaffe gegen sie stets die nationale Phrase war. Aber wir wissen leider auch, wie sie Schritt für Schritt dem Gegner erlagen und wie sie aus lauter Angst, Sünden gegen die Nation zu begehen, schliesslich ganz vergessen haben, dass es auch Sünden gegen die Internationale gibt.
Die Minderwertigkeit der tschechischen Sozialdemokraten im Internationalismus ist eigentlich erst seit dem Kopenhagener Kongress allgemein sichtbar geworden, aber sie besteht beinahe so lange, wie es eine tschechische organisierte Partei gibt und die deutschen Sozialdemokraten in Oesterreich haben stets mit ihr zu rechnen gehabt. Sie haben mit ihr gerechnet und – man darf es ohne Ruhmredigkeit sagen – sie haben sich den tschechischen Genossen gegenüber stets als Brüder benommen. Und zwar hatten die Deutschen – gerade infolge der tschechischen Minderwertigkeit im Internationalismus – die Rolle des älteren, kräftigeren Bruders, der den jüngeren, schwächeren zu schützen hat. In diesem Sinne haben die deutschen Sozialdemokraten jahraus, jahrein die tschechischen vor der Oeffentlichkeit zu decken gesucht, sie haben alle Mühen und Künste aufgewendet, damit die Schwäche der tschechischen Genossen nicht offenkundig werde, damit die Arbeiterbewegung in Oesterreich als Einheit erscheine, damit auch die tschechischen Genossen als vollwertig im Internationalismus angesehen werden.
Es soll hier keineswegs die ganze Geschichte der Partei aufgerollt werden, deren jedes einzelne Blatt ein Beleg dafür ist, wie die tschechischen Genossen immer mehr ihren nationalistischen Gelüsten gefrönt und die Sorge für die Internationalität einfach den Deutschen zugeschoben haben.
Wie weit die deutschen Sozialdemokraten in der Deckung der Schwächen der tschechischen gegangen sind, kann jeder sehen, der die Uebersetzungen der Artikel aus der separatistischen Presse liest, die die deutschen Gewerkschafts- und Parteiinstanzen übersetzen liessen, um sie – in ihren Archiven aufzuheben. Sie haben sie nicht veröffentlicht, weil sie wussten, dass die blosse Publikation ohne ein Wort der Kritik einen wahren Entrüstungssturm des deutschen Proletariats gegen die tschechischen Separatisten entfesseln müsste. Sogar gegen die eigenen Genossen haben die deutschen Sozialdemokraten im Interesse des Ansehens der gesamten Bewegung, im Hinblick auf die Möglichkeit, dass die Separatisten zur Einsicht kommen, die tschechische Minderwertigkeit im Internationalismus gedeckt.
Die Deutschen dürfen mit Stolz bekennen, dass sie ihre Pflicht als Internationale voll und ganz erfüllt haben. Freilich konnten sie nicht erreichen, was unerreichbar war. So konnten sie die Minderwertigkeit der Tschechen im Internationalismus nur deshalb durch so lange Zeit decken, weil einer öffentlichen Auseinandersetzung ausgewichen wurde. Zu einem Gesamtparteitage, einer gemeinsamen Beratung und Weiterbildung des Nationalitätenprogramms reichte die Kraft der Sozialdemokratie in Oesterreich in den letzten Jahren nicht mehr aus. Das Prestige der Internationale konnte nur deshalb solange erhalten werden, weil sie möglichst wenig beansprucht wurde.
Schritt für Schritt haben die Tschechen gegen den Internationalismus Front gemacht. Sie waren es, die 1907 die nationalen Klubs in der Reichsratsfraktion durchgesetzt haben, sie waren es, die im Verband der sozialdemokratischen Abgeordneten niemals als Gleiche unter Gleichen berieten und beschlossen, sondern als geschlossener Klub mit fertigen Beschlüssen in der Verbandssitzung aufmarschierten. Sie machten die Einigung bezüglich jeder kleinsten Detailfrage im Verbände zu einem äusserst komplizierten Problem, sie verunmöglichten in so und so vielen Fällen die Einigung und boten leichten Herzens der Welt das Schauspiel, Sozialdemokraten im Parlament gegeneinander stimmen zu sehen. [2] Sie stellten rücksichtslos immer weitergehende nationalistische Forderungen auf, da sie erwarteten, dass sich die Deutschen für die Erhaltung der internationalen Geschlossenheit, für die Erhaltung des Verbandes alle Opfer abringen lassen würden.
Doch allzu straff gespannt, zerspringt der Bogen. Die vollständige Missachtung der Kopenhagener Beschlüsse durch die Separatisten, die Aussichtslosigkeit aller Verhandlungen mit ihnen lastete schwer auf der Tätigkeit des Verbandes im Parlament, der in den letzten Wochen vor der Auflösung unter immer grösser werdenden Reibungen zu arbeiten hatte. Als sich Genosse Modráček, ohne sich an die Meinungen des Verbandes zu kehren, aus privater Initiative auf den Obstruktionspfad begab, war die Unhaltbarkeit des Verbandes in der heutigen Form nur allzu deutlich geworden.
Schliesslich schlug die Aufstellung separatistischer Kandidaten gegen deutsche Sozialdemokraten in Böhmen dem Fass den Boden aus.
Das bisherige Verhältnis der deutschen zu den tschechischen Sozialdemokraten wurde für die Zukunft offensichtlich unmöglich. Es war ausgeschlossen, dass auch fernerhin die tschechische Minderwertigkeit im Internationalismus durch die Deutschen gedeckt werden konnte. Eine neue Form der Beziehungen der deutschen Sozialdemokraten zu den tschechischen ergab sich aus zwingender Notwendigkeit ganz von selbst. Die Deutschen können die Rolle des „älteren Bruders“ nicht länger spielen. Es wäre nicht nur unmöglich, sondern geradezu schädlich für die Bewegung, wenn sie es auch fernerhin als ihre Aufgabe ansehen würden, die Fehler der Tschechen, die aus ihrer Minderwertigkeit im Internationalismus entspringen, vor der Oeffentlichkeit zu verheimlichen und zu decken. Die Deutschen müssen sich daran gewöhnen, die Tschechen auch in diesem Sinne als vollkommen mündig zu behandeln, dass sie sie für ihr Vorgehen als allein verantwortlich betrachten. Die Deutschen müssen die Versuche aufgeben, die bitteren Konsequenzen der Handlungen der Tschechen auf sich zu nehmen und gutmachen zu wollen, sie müssen sie sie selber tragen lassen. Die tschechischen Sozialdemokraten können nur aus den Tatsachen lernen, wohpn ihr Verhalten führt, das die Internationalität zwar von den anderen fordert, sich um ihre Erhaltung aber auch nicht die geiingste Sorge macht.
Die erste Frucht dieses neuen Standpunktes war, dass die deutschen Sozialdemokraten im Parlament sich den tschechischen gleichgestellt haben, dass sie ihrem Klub dieselbe Bedeutung gaben, die bisher nur der tschechische hatte.
Die Deutschen haben diesen Schritt nicht etwa getan, weil sie das System der nationalen Klubs für besser halten als den „Verband“. Ganz im Gegenteil. Sie sehen nach wie vor im Verbände die wirksamste Vertretung der Interessen des Proletariats, aber nur in einem Verbände, der wirklich einer ist, in dem alle nicht nur gleiche Rechte, sondern auch gleiche Pflichten haben. Indem die Deutschen vorläufig das Schwergewicht ihrer Tätigkeit in ihren Klub verlegen, vollziehen sie nur einen Akt der Pädagogik. Die tschechischen Sozialdemokraten können nun sehen, wohin es führt, wenn alle dasselbe fordern würden – wie sie. Das Vorgehen der Deutschen entspringt nicht, wie oberflächliche Betrachtung meinen könnte, autonomistischen Bedürfnissen, sondern erstrebt auf neuen Wegen das alte Ziel, die Förderung und Stärkung der internationalen Geschlossenheit unserer Parlamentsfraktion.
Während auf politischem Gebiet die Folgen der separatistischen Aktion erst sichtbar zu werden beginnnen, stehen wir auf gewerkschaftlichem vor vollständig vollendeten Tatsachen. Die Bemühungen der deutschen Sozialdemokraten im Dienste des Internationalismus können daher auf gewerkschaftlichem Gebiet nicht mehr darin liegen, die Konsequenzen aus der Zerstörungsaktion zu ziehen, sondern es ist bereits möglich, an den Wiederaufbau einer möglichst einheitlich geschlossenen Organisation zu denken. Genosse Otto Bauer sieht wie mir scheint vollständig richtig, wenn er in der vorigen Nummer des Kampf erklärt: „Solange der Kampf um die gewerkschaftliche Organisation tobt, ist die Einheit des politischen Kampfes unmöglich“. Der Ausgangspunkt des Friedens kann nur dort sein, wo der des Krieges war: in den Gewerkschaften. Genosse Bauer erkennt auch, dass der Internationalismus nur als ein Produkt der Einsicht aller wiedererstehen, nicht aber durch Zwang oder Machtmittel hergestellt werden kann. Man kann zwar gegenüber Gewerkschaftsschädlingen alle Gegenseitigkeitsverträge aufheben, ihnen alle finanzielle Hilfe verweigern, wenn aber einmal eine Zerstörungsaktion so weite Kreise gezogen wie die separatistische, so versagen solche Mittel. Die einzige Wehr bleibt die Aufklärung, die einzige Hoffnung, dass den Tschechen schliesslich doch die ökonomischen Notwendigkeiten zum Bewusstsein kommen werden. Genosse Bauer hält es für ausgeschlossen, dass in absehbarer Zeit der vollständig zentralistische Internationalismus in den Gewerkschaften wieder verwirklicht werden könne. Die Separatisten haben die Gewerkschaftsorganisation zersprengt, nur sie können den Schaden wieder gutmachen, leider aber niemals jene, die ihr treu geblieben. Und so bleibt denn in der von den Separatisten geschaffenen Situation nichts anderes übrig, als im Geiste des Internationalismus nach dem kleineren Uebel zu suchen. Dieses sieht Genosse Bauer in der territorialen Abgrenzung der Wirkungsgebiete der internationalen und tschechoslawischen Gewerkschaften. Die österreichische Gewerkschaftsorganisation soll so geteilt werden, als ob Oesterreich in zwei Reiche zerfallen wäre. Das Verhältnis der beiden Gewerkschaftsorganisationen wäre dann genau das, das etwa die Gewerkschaften Deutschlands zu jenen Englands besitzen. An Stelle der Sprengung der Organisation in jedem einzelnen Betrieb soll eine Teilung in zwei Gebiete eintreten, in deren jedem nur eine zentrale Gewerkschaftsorganisation ihren Sitz hat. Für jeden, der die Bedingungen gewerkschaftlicher Kämpfe kennt, ist klar, dass das letztere tatsächlich das kleinere Uebel ist.
Der Bauersche Vorschlag ist sicher im Dienste des Internationalismus gemacht. Ob die Separatisten aber auch nur für dieses kleinere Uebel zu haben wären, darf bei ihrem jetzigen Zustand billig bezweifelt werden. Vorläufig entfernen sie sich von uns nicht nur in den Fragen der gewerkschaftlichen und politischen Organisation, sondern die letzten Ereignisse – das „gemeinsame Vorgehen“ mit den bürgerlichen Parteien aller Schattierungen in Mähren – zeigen nur allzu deutlich, dass sie der Fluch des Nationalismus nicht nur von den Genossen der andern Nationen wegführt, sondern sie auch vergessen lässt auf alle Notwendigkeiten des Klassenkampfes.
Das Maximum der Internationalität zu erzielen, ist die Taktik der deutschen Sozialdemokraten. Sie lassen sich dabei durch das Geschrei der National-verbändler über den „nationalen Verrat“ nicht einschüchtern, sie wissen, dass sie kein nationales Recht preisgeben, wenn sie für alle Nationen gleiche Rechte fordern. Ebensowenig wie sie sich von den deutschen Nationalisten verleiten lassen werden, die Tschechen zu Übervorteilen, ebensowenig werden sie sich von den tschechischen Nationalisten dazu engagieren lassen, für die tschechische Nation höhere Forderungen zu stellen als für die deutsche. Das Mass der Forderungen der tschechischen Nation, für das die deutschen Sozialdemokraten eintreten, kann einzig und allein bestimmt sein durch das der deutschen, die sie zu vertreten haben.
Was den tschechischen bürgerlichen Nationalisten gelang, den deutschen wird es nicht gelingen. Die deutschen Sozialdemokraten werden sich nicht verhetzen lassen. Sie werden die Schwierigkeiten, die die Separatisten in der Arbeiterbewegung erzeugt haben, nicht damit beantworten, dass sie auf deren Standpunkt herabsteigen, dass sie auch minderwertig im Internationalismus werden. Im Gegenteil. Es ist der Stolz der deutschen Sozialdemokraten in Oesterreich, dass sie international waren, sind und bleiben.
1. Nordböhmische Volksstimme, 12. Juli 1911.
2. Bei dieser Sachlage wirkt es geradezu komisch, wenn eines der tschechischen Blätter sich in den letzten Tagen sogar dazu versteigt, die Konstituierung des deutschen sozialdemokratischen Klubs unter dem Titel zu melden: „Die deutschen Sozialdemokraten treten aus dem Verband aus.“
Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024