Bruno Bauer


Was ist jetzt Gegenstand der Kritik?

(Juni 1844)



Was ist jetzt Gegenstand der Kritik?: Allgemeine Literaturzeitung, Monatsschrift, hg. v. Bruno Bauer, Charlottenburg (Verlag v. Eckbert Bauer) Juni 1844 (Nr. 8) S. 18-26.
Abgedruckt in Bruno Bauer, Feldzüge der reinen Kritik, Nachwort von Hans-Martin Sass, Frankfurt/M, Suhrkamp Verlag, 1968, S. 200-212.
HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



Diejenigen, die in den öffentlichen Blättern der Entfremdung der Masse gegen eine Richtung, welche der gegenwärtigen Verstimmung Herr zu werden sucht, ein paar abgebrochene Worte geliehen haben, konnten sich unmöglich eines Erfolgs erfreuen, der ihrer eigenen Stellung größere Sicherheit gegeben und ihnen eine begründetere Achtung gegen sich selbst eingeflößt hätte. Wie die Menge, deren Organ zu sein, ihre tägliche Bemühung ist, mit der Entwicklung der letzten Jahre unbekannt, fühlen sie sich durch die neue Wendung der Dinge einfach nur befremdet: – sie sind also auch nur imstande, diese für sie befremdende Überraschung mehr oder weniger naiv oder indolent oder mit einigem Poltern auszusprechen. „Wunderliche Richtung!“ „Ein Standpunkt, bei dessen Gedanken es einem schon fröstelt!“ „Hochmut, von dessen Anblick die ganze Nation sich mit Widerwillen abwenden muß!“ – das ist die ganze Skala von Redensarten, auf welcher diese Redner der Menge auf- und niedersteigen.

Die tiefe Kluft, die ein „paar hochmütige Egoisten“ von der Menge scheidet, diese Kluft, von welcher sich jene Sprecher der Nation, „mit Widerwillen abwenden“ und welche die „Egoisten“ zum Gegenstand eines anhaltenden Studiums machen, um ihre Bedeutung für die Zukunft kennenzulernen und zugleich aufzuheben, ist zum Teil dadurch entstanden, daß die überwiegende Mehrzahl selbst derjenigen, die an der Entwicklung der letzten Jahre tätigen Anteil nahmen oder mit Enthusiasmus ihr folgten, in einzelnen literarischen Produkten, also auch in einem einzelnen Werke, in einer Zeitung, in einer Zeitschrift – also auch wohl in einem einzelnen Aufsatze eine Entscheidung sahen, die unumstößlich, für alle Zeit ausreichend, also unfehlbar von einem nahen Siege begleitet sein müsse. Man stand in demselben Irrtum, wie diejenigen, die der drohenden Entwicklung ein Ende gemacht zu haben meinten, indem sie die Grenzen der literarischen Verhandlungen enger zogen und eine Art von Literatur äußerlich abschlossen, die im Grunde auch innerlich abgeschlossen war und sich nicht einmal als Wiederholung derselben Wendungen fortsetzen könnte. Ein Abschnitt der neueren Entwicklung war in der Tat vollendet.

Man hat es schon oft bemerkt, belobt, bewundert und bespottet, daß der Bildungsgang der Deutschen, ihre bemerkenswertesten Taten, ihre revolutionären Aufregungen und Kämpfe literarisch waren. Auch die Aufregung und Bewegung der letzt-verflossenen drei Jahre gehörte dem Gebiet der Literatur an, und daß man sie als eine solche auffaßte und mit Teilnahme begrüßte, war der erste Fehler, den man beging – der Fehler, der sich so schnell mit einer Ungeheuern Erschlaffung und Ermattung selbst bestrafte. Es war hinreichend, daß die Literatur mit einem neuen Werke bereichert wurde, daß eine Zeitschrift mit einem gediegenen und originellen Aufsatz auftrat, um alle Enthusiasten mit der Hoffnung zu erfüllen, daß das Alte vor der Macht des Neuen sich unmöglich mehr lange halten könne. Lest, lest, rief man, gebt es allen zu lesen, und ihr werdet sehen, daß wir gewonnen haben. Das Neue war aber keine bloß literarische Erscheinung; wenn es der Literatur angehörte, so war es zugleich der Schluß einer Literatur, die bisher die Hauptbeschäftigung einer ganzen Nation gebildet hatte; es war nicht mehr der Gegenstand einer bloßen Lektüre, die dem Lesepublikum nichts weiter als einen oberflächlichen Anflug mitzuteilen vermag; es war vielmehr der Preis eines Kampfes, den der Mensch mit sich selbst zu bestehen hatte. Die literarische Teilnahme gab einer Menge von Leuten nur einen Anflug von neuen Ideen, deren wahrer Inhalt nicht ins Innere drang, draußen stehenblieb und in der Form von Stichworten und Phrasen der Gegenstand einer gutgemeinten Verehrung wurde. Der literarische Charakter, welcher der Entwicklung der deutschen Nation eigen ist, mag aber immerhin mit vollem Recht bespöttelt und selbst wegen seines herabstimmenden und entnervenden Einflusses angeklagt werden: – im Zusammenhange der Weltgeschichte, die bisher an der Gesamtaufgabe der Menschheit nur einzelne Nationen fragmentarisch arbeiten lassen konnte und es nicht umgehen konnte, daß jede Nation ihren besonderen Ruhm durch eine eigentümliche Schuld erkaufte – in diesem Zusammenhange hat jener Charakter doch seine hohe Bedeutung, die gerade von den Enthusiasten der neuen literarischen Bewegung verkannt wurde.

Spottet immerhin über eine Nation, deren geistiges Budget auf der Leipziger Ostermesse berechnet wird, lacht über den Toren, der in wahnsinniger Selbstvergessenheit über neuen literarischen Arbeiten brütet und den Hochmut hat, durch ein paar Federzüge der Welt eine andere Gestalt zu geben, – nennt aber auch die einzige geschichtliche Epoche, die nicht von der Feder gebieterisch vorgezeichnet war und ihre Erschütterung mit einem Federstrich beschließen lassen mußte.

Das war der andere Fehler, den man im entscheidenden Augenblick beging und nun büßen muß, daß man die literarische Bewegung nicht rein als literarische und theoretische faßte und durch das praktische Verhältnis der Freude, des Enthusiasmus und der Approbation der Resultate vom Studium und der eingehenden theoretischen Beschäftigung sich loskaufen zu können hoffte. Man teilte auch hierin wieder den Irrtum der Gegner, die von dem Augenblicke an, wo die Theorie sich von den letzten gemeinschaftlichen und Korporationsvoraussetzungen befreit hatte, die Fähigkeit zu einem wissenschaftlichen Kampfe verloren hatten und auf das praktische Verhältnis der Mißbilligung und Verdammung angewiesen waren. Die Masse der Freunde und der Feinde war in gleicher Weise unfähig, dem Gange der Sache zu folgen: die Gegner waren von vornherein mit ihr fertig, weil sie auf ebener Erde nicht gehenlernen wollten – die Freunde, weil sie immer schon am Ende standen: die Gegner gehörten der Innung der blinden Sehenden an – die Freunde sahen und wußten immer alles, was die Theorie in einem gründlichen und langsamen Verzicht hervorbringen muß, längst im voraus. Die Forschung hat nie einsamer gestanden als in der Zeit, wo ihre Gegner die Furcht hegten, daß alle Welt für sie eingenommen sei.

Die Masse der Aufgeklärten konnte nach dem äußern Schlag, der sie endlich traf, nur deshalb so entschieden zusammenfallen, weil sie schon vorher in sich verfallen war, und ihr Verfall hätte auch ohne alle äußere Dazwischenkunft eintreten müssen, da endlich der Zeitpunkt gekommen war, daß die Theorie sich gegen ihre scheinbare Verbündete richten und diese gestehen mußte, die Wendung, die jetzt einzutreten scheine, hätte ihr allerdings nicht in den Sinn kommen können. Diese Wendung war aber nicht einmal eigentlich neu. Die Theorie hatte beständig an der Kritik ihrer selbst gearbeitet und sich immer bemüht, keine Stichworte aufkommen zu lassen — sie hatte der Masse nie geschmeichelt und über ihren Beifall sich keine Illusionen gemacht – sie hatte sich immer davor gehütet, sich in die Voraussetzungen ihres Gegners zu verstricken. Man hatte ihr Bemühen nur nicht gemerkt, und es gab außerdem ein Stadium ihrer Entwicklung, wo sie gezwungen war, sich auf die Voraussetzungen ihres Gegners aufrichtig einzulassen und sie für einen Augenblick ernst zu nehmen, kurz, wo sie noch nicht vollständig die Fähigkeit hatte, der Masse die Überzeugung zu nehmen, daß sie mit ihr eine Sache und ein Interesse habe. Trotzdem, daß sie den Liberalismus selbst einer auflösenden Kritik unterwarf, durfte man sie noch für eine besondere Art desselben, vielleicht für seine extreme Durchführung halten : trotzdem, daß ihre wahren, entscheidenden Entwicklungen über die Politik hinausgingen, mußte sie doch noch dem Schein verfallen, daß sie politisiere, und dieser unvollkommene Schein hatte ihr die meisten der oben bezeichneten Freunde gewonnen.

Die allgemeine Befremdung war daher ein unvermeidliches Ereignis, als die Kritik anfing, jenen Schein von sich abzulösen und ihre wahre Tendenz reiner zu verfolgen. Jetzt, nachdem die Kritik begonnen hat, sich zu läutern, sich selbst zu kritisieren und ihre früheren Arbeiten dadurch sicherzustellen, würde es zu spät sein, wenn man ihr wegen der Stellung, die sie vor zwei Jahren noch zum Teil einnahm, einen Vorwurf machen wollte.

Vorwürfe sind in dieser Angelegenheit bedeutungslos, es kommt vielmehr darauf an, die Erklärung davon zu geben, wie es kam, daß die Kritik damals in die politischen Interessen hineingezogen wurde, daß sie sogar politisieren mußte. Sie war angeklagt – damit ist die Frage beantwortet –, sie mußte ihren Prozeß führen – nicht nur um sich zu verantworten, sondern hauptsächlich, um die Widersprüche ihrer Gegner zu entwickeln –, sie mußte ihren Prozeß vor einem Tribunal führen, welches in jenem entscheidenden Augenblicke sich noch der Grundsätze rühmte, die die Theorie sich angeeignet hatte, und zu gleicher Zeit, wo es sich auf dieselben berief, gezwungen war, sie aufzugeben.

Die Kritik hatte sich aus einem Weltzustande herausgebildet, in welchem das Alte und Neue, das Alte, welches die Kritik eben sosehr eigentlich erst schafft wie das Neue, sich noch gegenseitig durchdrangen, beschränkten, aber auch stützten und trugen.

Als der Bruch eingetreten war, war das Alte, welches sich dem Neuen widersetzte, so wenig mehr wirklich das Alte, als die Katholische Kirche z. B., die sich der Reformation gegenüber bildete, noch die Kirche des Mittelalters war, die eben jenes Prinzip in ihrem Schöße getragen hatte, das sich als die Reformation selbständig hinstellte.

Wenn diejenige Macht, die sich gegen die kritische Bewegung erklärt, nicht mehr das Alte selber ist, so ist es doch die Konsequenz des Alten, der richtige Sinn, die richtige Durchführung desselben, das Geständnis, welches der Gegensatz des Neuen ihm abgedrungen hat.

Die Formen des Alten, aus welchem sich die Kritik herausentwickelte, waren die Gefäße, in welchen sich – wenn auch unter fortwährendem gegenseitigem Widerstreben – die allgemeinen Interessen der Gesellschaft entwickelten. Diese Formen erhielten sich aber nur, erhielten sich auch im erweiterten Umfange, wenn es einmal zum Kampf gekommen und die engere Form zerbrochen war, weil jene Interessen noch nicht so weit entwickelt waren, daß ihre allgemeine Bedeutung außer Zweifel gesetzt werden konnte. Sie erhielten sich, weil sie nichts als der Ausdruck der Beschränktheit waren, die der Forschung, der Arbeit und Bewegung noch eigen war – einer Beschränktheit, die also noch einen gediegenen Inhalt und die Möglichkeit einer ungeheuren Entwicklung besaß.

Indem die Kritik auftritt und der Forschung eine neue Form, d. h. die Form gibt, die sich nicht mehr zu einer äußern Begrenzung umwandeln läßt, ist die Fähigkeit der alten Formen, sich zu erweitern, an ihrer Grenze angelangt. Im ersten Augenblick dieser neuen Wendung macht das Alte seinem Gegensatz Vorwürfe, es ist sogar so unvorsichtig, die Frage aufzuwerfen, ob das Neue mit ihm verträglich sei, und nur in diesem ersten Augenblicke ist ein Kampf zwischen beiden Seiten möglich. Er wäre aber auch da nicht einmal möglich, wenn das Alte die Frage nach der Verträglichkeit oder Unverträglichkeit in ihrer Reinheit hinstellte und theoretisch behandelte – es bedürfte dann nur einer Vergleichung beider Seiten und einer einfachen Darstellung derselben: diese Vergleichung ist ihm aber im Anfange am wenigsten möglich, da es im Augenblick der Überraschung weder sich noch das Neue kennt: in seiner Verlegenheit beruft es sich vielmehr auf seine früheren liberalen Tendenzen und zwingt es die Kritik zu dem Beweise, daß sie gerade diese Tendenzen entwickelt habe. „Es gereicht dem Kritiker nicht zur Unehre, wenn er durch diese eigentümliche Verwicklung sich bewegen läßt, die Sache noch einmal den Parteien vorzulegen, die sich zu ihren Richtern aufgeworfen haben, da diese Parteien ihr wahres Wesen entwickelt haben und der Kritik nur Nutzen daraus erwachsen kann, wenn sie sich mit ihrer geschichtlichen Voraussetzung auseinandersetzt.“

Der Kritiker gibt nämlich nun jenen Versicherungen von freier Entwicklung ihre letzte Deutung; er setzt es auseinander, daß er gefehlt habe, als er jene im allgemeinen zugestandene Erlaubnis in einem einzelnen Fall ernstlich sich zugute kommen ließ. Er gesteht, daß er absichtlich gefehlt, „mit freiem Vorbedacht und nach reiflicher Überlegung“ den Irrtum begangen habe, jene Permission, mit welcher man sich bisher groß wußte, auf die Gefahr hin sich zugute kommen zu lassen, daß sie am Ende desavouiert und ihr Gebrauch als ein Attentat angeklagt werden würde.

An diesem Punkte hätte die Kritik entweder stehenbleiben oder sogleich weiter vorschreiten, das ganze politische Wesen ihrer Prüfung unterwerfen und als ihren Gegner darstellen sollen, – wenn es nur möglich gewesen wäre, daß sie im damaligen Kampfe hätte stehenbleiben können, und wenn es nur auf der anderen Seite nicht ein gar zu strenges geschichtliches Gesetz wäre, daß ein Prinzip, indem es sich mit seinem Gegensatze zum ersten Male mißt, sich von ihm herabdrücken lassen und die Forderung aufstellen muß, daß er mit seinen vorgegebenen Vorzügen Ernst machen solle. Das politische Wesen war soeben noch der Widerspruch gewesen, daß es allerdings durch die Beschränktheit seiner Formen den Egoismus der Parteien, der Stände und der Korporationen gezügelt hatte: war es also nicht eine notwendige Konsequenz, daß die Kritik die Forderung aufstellte, es solle sich zur vollkommenen Öffentlichkeit und Freiheit entschließen?

Wenn die Kritik diese Konsequenz ziehen mußte, so wird man doch zugleich zugeben, daß sie sich immer unsicher fühlte, wenn sie sich auf Forderungen dieser Art einließ, und daß sie durch diese Forderung mit ihren wahren Elementen in Widerspruch trat, in einen Widerspruch, der in jenen Elementen bereits seine Auflösung gefunden hatte.

Jene Forderung sprach die Kritik noch in einer andern Wendung aus. Auf dem einen Gebiete, auf welchem sie sich rein durchgeführt hatte, durfte sie am Schluß ihrer Arbeit dem nach seiner Vollendung ringenden Menschen zurufen, daß er nun, da seine Unvollkommenheit, die er bisher als eine fremde, weit über seine Kräfte hinausliegende Welt sich vorgestellt hatte, erkannt sei, eben dieselbe Unvollkommenheit in sich selbst zu verlegen habe, um sie als seinen innern Mangel zu bekämpfen. War es nun nicht natürlich, war es nicht unvermeidlich – gehörte es nicht zu den Irrtümern des Jahres 1842, daß sie an diese theoretische Beschäftigung mit dem Menschen einen politischen Exkurs anknüpfte und an das politische Wesen dieselbe Forderung stellte? War sie nicht durch alle jene Wendungen, die man von seiten des Bestehenden gegen sie gebrauchte – siehe z. B. das vollendete Organ desselben: Gruppe (in der „guten Sache der Freiheit“) –, die sie auch nicht überfliegen durfte, da sie Gemeingut der damaligen Welt waren, dazu gezwungen. für einen Augenblick das menschliche und das politische Wesen zu identifizieren?

In der „Judenfrage“ wurde dasselbe Versehen begangen. Die Judenfrage, welche seit der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts noch schwebte, mußte nämlich erst in ihre richtige Stellung gebracht werden: – als eine religiöse und theologische Frage und als eine politische. Als die Behandlung und Lösung beider Fragen ist die Kritik weder religiös noch politisch, während sie nachher, nachdem sie zum Schluß noch einmal die Grundtäuschung, die bisher die Lösung der Frage unmöglich machte, richtig bezeichnet hat, dem politischen Charakter der Zeit und den politischen Voraussetzungen ihrer Gegner ein Opfer bringt. Die Judenfrage ist eine religiöse. Die Aufklärung glaubte sie zu lösen, indem sie den religiösen Gegensatz als einen gleichgültigen bezeichnete oder sogar leugnete. Die Kritik mußte ihn dagegen in seiner Reinheit darstellen. Auf der andern Seite, wo man für gegenseitige Ausschließung kämpfte, sah man nur den Gegensatz: dagegen hatte die Kritik zu zeigen, wie beide Seiten des Gegensatzes zusammengehören und wie sich demnach das Schicksal des ganzen Gegensatzes bestimmt. Der Gegensatz war ferner ein politischer, und die Kritik hatte ihn wiederum nur in seinen verschiedenen Formen darzustellen und zu erklären. Ihre Darstellung war zugleich die Beurteilung der Ansprüche, die man von Seiten der Juden und ihrer Verteidiger an das politische Wesen stellte, und die Würdigung der heuchlerischen Wendungen, welche die Politiker z. B. in Baden und Frankreich gegen die Juden gebrauchten. Den Juden wird gezeigt, daß sie über den Zustand, von dem sie Freiheit verlangten, in einer Illusion befangen wären, und daß sie sich über sich selbst die größte Illusion machten, wenn sie Freiheit und Anerkennung der freien Menschlichkeit zu verlangen meinten, während es ihnen nur um ein besonderes Privilegium zu tun sei und nur zu tun sein könne. Was das politische Wesen betrifft, welches den Ansprüchen der Juden gegenübersteht, so folgte die Kritik den Widersprüchen desselben bis zu dem Punkte, wo der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis seit fünfzig Jahren am gründlichsten durchgearbeitet war – bis zum französischen Repräsentativ-System, wo die Freiheit der Theorie von der Praxis desavouiert wird und die Freiheit des praktischen Lebens in der Theorie vergeblich ihren Ausdruck sucht. Nachdem nun noch die „Grundtäuschung“ über den religiösen Gegensatz beider Parteien und über das Verhältnis desselben zu dem Gegensatz der Privilegien aufgehoben war, hätte der Widerspruch, der in den Verhandlungen der französischen Kammer nachgewiesen war, der Widerspruch der freien Theorie und der praktischen Geltung der Privilegien, der gesetzlichen Geltung der Privilegien und eines öffentlichen Zustandes, in welchem der Egoismus des reinen Individuums der privilegierten Abgeschlossenheit Meister zu werden sucht, als ein allgemeiner Widerspruch auf diesem Gebiete gefaßt werden müssen.

Dieser Schritt war aber damals unmöglich – nicht nur, weil die Kritik in dieser Untersuchung selbst noch kämpfte, mit ihrem politischen Gegensatz gespannt war, – nicht nur, weil das politische Wesen bei seinem Worte und seinen Versicherungen gefaßt werden mußte – sondern auch, weil die Kritik ohne jene Spannung, ohne diese Wendung, ohne diesen letzten Rest einer innern Verwicklung mit ihrem Gegensatz unmöglich war und zu dem Punkte, wo nur noch ein Schritt übrigblieb, nicht hätte kommen können. Jene Spannung muß der Kritik einen Teil ihres Feuers geben, das sie weitertreibt; die Verwicklung, wäre sie im Grunde auch noch so locker, ist für die Gründlichkeit ihrer Arbeit notwendig: – diejenigen, die von vornherein, ohne sich mit ihm gemessen zu haben, mit dem Gegensatze fertig sind, können sogleich mit einer utopischen Phrase dastehen, aber wenn sie sich am Ende zu befinden meinen, wird es sich im Ernste zeigen, daß sie noch nicht einmal über den Anfang ins klare gekommen sind.

Eine ähnliche Wendung wie die bisher betrachteten war es, wenn die Kritik hin und wieder von einem freien Volke sprach, welches die Revolution geschaffen habe, von der richtigen Würdigung, welche die Religion in der französischen Revolution gefunden habe, oder von den Menschenrechten, die seit 1789 den Kampf mit dem feudalistischen Prinzip begonnen haben, als von einer Bürgschaft, die auch für spätere Kämpfe noch Bedeutung habe.

Um es mit einem Worte zu sagen: die Zeit der Revolution, in welcher das französische Volk den gewaltsamen Versuch machte, sich als ein freies Volk zu behaupten und auch mit der religiösen Tradition zu brechen, war für die Kritik nicht mehr und nichts weniger als ein Symbol] wie das freie politische Wesen, auf welches sie am Schluß ihrer Erörterungen zuweilen hinwies, ein Symbol – also nicht genau und im prosaischen Sinne jene Zeit der revolutionären Versuche der Franzosen – ein Symbol, also auch nur ein phantastischer Ausdruck für die Gestalten, die sie am Ende ihrer Arbeiten sah.

Es war ein schwacher und augenblicklicher Tribut an die Zeit, der bis dahin ganze Systeme von phantastischer Bauart zum Opfer dargebracht waren.

Die Reinheit, mit welcher sich die Theorie auf einem Gebiete durchgeführt hatte, machte es ihr möglich, ihre phantastische Verirrung zu erkennen und den Weg zu treffen, der aus dem Gewebe der Phrasen, in welche sie sich zuletzt hatte verlaufen müssen, herausführte.

Die französische Revolution war ein Experiment, welches durchaus noch dem achtzehnten Jahrhundert angehörte. Sie wollte eine neue menschliche Ordnung stiften – die Ideen, die sie hervorgetrieben hatten, führten aber über den Zustand, den sie mit Gewalt aufheben wollte, nicht hinaus: nachdem sie daher die feudalistischen Abgrenzungen innerhalb des Volkslebens aufgehoben hatte, war sie gezwungen, den reinen Egoismus der Nationalität zu befriedigen und selbst anzufeuern sowie auf der andern Seite durch seine notwendige Ergänzung – die Anerkennung eines höchsten Wesens –, durch diese höhere Bestätigung des allgemeinen Staatswesens, welches die einzelnen selbstsüchtigen Atome zusammenhalten muß, zu zügeln. Robespierre war der wahre Exekutor der Revolution, als er Anacharsis Clootz, den Sprecher des Menschengeschlechts, als eine Anomalie in der Revolutionsmaschine hinrichten ließ und seinem Dienst des höchsten Wesens die atheistischen Führer der Partei des Gemeinderats zum Opfer brachte. Seine und St. Justs kolossale Idee, ein „freies Volk“ zu bilden, welches nur nach den Regeln der „Gerechtigkeit und Tugend“ lebt – (siehe z. B. St. Justs Bericht über Dantons Verbrechen und den andern über die allgemeine Polizei) –, konnte sich nur durch den Schrecken für einige Zeit halten und war ein Widerspruch, gegen welchen die gemeinen und selbstsüchtigen Elemente des Volkswesens in der feigen und heimtückischen Weise reagierten, die von ihnen nur zu erwarten war.

Nach dem Sturze Robespierres eilte die politische Aufklärung und Bewegung dem Punkte zu, wo sie die Beute Napoleons wurde, der nicht lange Zeit nach dem 18. Brumaire zu Lafayette sagen konnte, „mit meinen Präfekten, Gendarmen und Geistlichen kann ich mit Frankreich machen, was ich will“. Denselben Ausgang hatte es mit der philosophischen und religiösen Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts. Der Spinozismus hatte dies Jahrhundert beherrscht – sowohl in seiner französischen Weiterbildung, die die Materie zur Substanz machte, wie im Deismus, der die Materie mit einem geistigeren Namen benannte. Spinoza, der bis zum Schluß des Jahrhunderts im Banne lag, weil man sein Verdienst noch nicht anzuerkennen vermochte, hatte das Verhältnis, zu welchem seine Substanz im schroffsten Gegensatz zu stehen schien, auf seinen reinsten Ausdruck gebracht – seine französische Schule und die Anhänger des Deismus waren nur zwei Sekten, die sich über den wahren Sinn seines Systems stritten. Er war der vollendetste religiöse Virtuos, dessen Neigungen zu schwärmerischen Ansichten in seinem deutschen Schüler, in Edelmann, bis zum Phantastischen entwickelt waren. Das einfache Schicksal dieser Aufklärung war ihr Untergang in der Romantik, nachdem sie sich der Reaktion, die seit der französischen Bewegung begann, hatte gefangengeben müssen.

Mit dem Spinozismus war die neuere Kritik endlich ins reine gekommen, es war also eine Inkonsequenz, wenn sie – war es auch nur an einzelnen falsch auslaufenden Punkten – die Substanz auf einem Gebiete unbefangen voraussetzte. Das Versehen wurde gut gemacht, indem sie sich selbst kritisierte, die Entwicklung der Nationalitäten während der Zeit der Aufklärung verfolgte und den Versuch machte, das Extrem der politischen Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, die Revolution, einer neuen Prüfung zu unterwerfen. Wenn die Kritik sich selbst und die politische Aufklärung zu ihrem Gegenstande macht, so ist die notwendige Folge, daß die Erscheinung, die in dieser Vollendung unserer Zeit angehört – die Masse –, der Gegenstand ist, dem sie vorzugsweise ihr Studium widmen muß.

Die Masse ist das bedeutendste Erzeugnis der Revolution – der Niederschlag, der aus der Neutralisation der feudalistischen Gegensätze hervorging; sie ist das Phlegma, welches zurückgeblieben ist, nachdem sich der Egoismus der Nationalitäten in den Revolutionskriegen erschöpft hatte; sie ist die getäuschte Menge, welche die Illusionen der politischen Aufklärung, überhaupt der ganzen Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, einer grenzenlosen Verstimmung übergeben haben; sie ist der natürliche Gegner der Theorie, die sich über die Tradition des vorigen Jahrhunderts zu erheben sucht, und je mehr sich diese Theorie entwickeln wird, um so mehr wird sie die Masse zu einer kompakten machen.

Die Franzosen haben eine Reihe von Systemen aufgestellt, wie sie zu organisieren sei – sie haben aber phantasieren müssen, da sie die Masse, wie sie ist, als brauchbares Baumaterial ansahen.

Als die deutschen Aufklärer in ihren Hoffnungen vom Jahre 1842 sich plötzlich getäuscht sahen und in ihrer Verlegenheit nicht wußten, was nun anzufangen sei, kam ihnen noch zur rechten Zeit die Kunde von den neueren französischen Systemen. Sie konnten nun von der Hebung der untern Volksklassen reden, und um diesen Preis durften sie sich der Frage überheben, ob sie nicht selbst zu der Masse gehörten, die eben nicht nur in den untersten Schichten aufzusuchen ist.

Ein geistiges Wesen kann aber nicht gehoben werden, wenn es nicht verändert wird, und verändern läßt es sich nicht, ehe es nicht den äußersten Widerstand geleistet hat. Was man heben will, muß man bekämpfen.

Diejenigen, deren ganzes Besitztum das Wort „Organisation der Masse“ ist, haben bereits bewiesen, daß sie ungefähr ahnten, ob und wie weit dieses richtige Verhältnis eingeleitet ist.



Zuletzt aktualisiert am 20.5.2009