Bruno Bauer


Bekenntnisse einer schwachen Seele

(Juni 1842)



Bekenntnisse einer schwachen Seele: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, hg. v. Arnold Ruge, Dresden 1842, Nr. 148-149 (23. Juni u. 24. Juni), S. 589-596 (anonym).
Abgedruckt in Bruno Bauer, Feldzüge der reinen Kritik, Nachwort von Hans-Martin Sass, Frankfurt/M, Suhrkamp Verlag, 1968, S. 70-90.
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Denn wovon das Herz voll ist,
davon geht der Mund über.


Allen Leidenden und Unglücklichen überhaupt, sagt man, ist der Schlaf und der Traum zum Tröste gesandt. In ähnlicher Weise könnte man sagen, daß den Schwärmern und den Parteien, die sich für mit Unrecht Unterdrückte halten, von einem gütigen Geschick eine völlige Bewußtlosigkeit über öffentliche Verhältnisse und eine unbegrenzte Einbildung auf ihre eigne Wichtigkeit geschenkt sei. Die Opposition hält sich immer für den Mittelpunkt des Kreises, in dem sie sich irgendein Plätzchen anzueignen gewußt hat, ja in den sie vielleicht noch nicht einmal eingedrungen ist; alles bezieht sie auf sich, alles, meint sie, bezieht sich und richtet sich auf sie; was ihr gefällt, betrachtet sie als Zugeständnisse, die ihr und nur ihr gemacht werden; Maßregeln, die ihr mißfallen, gelten ihr nur als solche, die ausdrücklich gegen sie gerichtet werden, so wie sie andrerseits auf jeden Lufthauch achtet und in ihm den Vorboten des Sturms vermutet, der das Bestehende über den Haufen werfen wird. Gibt es Krieg? Wird der Kaiser widerstehen können? flüsterten sich die ersten Christen zu, wenn man von unruhigen Bewegungen an der Grenze hörte. Jetzt wird auch unsre Sache entschieden und zum Sieg gelangen, denkt die Opposition, „wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen“. Aber Rom blieb noch lange stehen, es steht heute noch, und das Bestehende besteht ewig.

Die Opposition hat die beschränkten Ansichten der Leute in der Provinz, die es für unmöglich halten, daß nicht alles in der Hauptstadt von der letzten energischen Demonstration ihres Herrn Bürgermeisters, namentlich aber von seiner bedeutenden Äußerung gegen den Herrn Regierungsrat sprechen sollte. Jede Illusion hat etwas Einschmeichelndes und für den Armen, der ihrer bedarf, eben weil sie für ihn Bedürfnis ist, etwas Wohltätiges. Man wird niemanden mutwillig in dem Schlafe stören. Aber alles hat seine Zeit, und Schlaf und Illusion dürfen nicht ewig dauern. Wozu wäre denn die Hauptstadt da, wenn nicht zuweilen Leute aus der Provinz sie besuchten, um zu erfahren, daß man ihre Helden und deren große Taten in ihr nicht kennt? Und das Bestehende und dessen ewige Herrlichkeit, die Macht und ihre Gnaden und Schrecken, wozu wären sie, wenn nicht dazu, daß sie der Opposition von Zeit zu Zeit imponierten und sie in jedem Falle dann, wenn ihre Einbildung unerträglich geworden ist und dem Ganzen zu schaden droht, demütigten?

Ein solcher Fall war jetzt eingetreten.

Die deutsche Opposition, die Theorie, die Wissenschaft, die philosophische Kritik hatte sich bis zu dem Grade des Hochmuts verstiegen, der der äußerste genannt werden kann – sie hatte die heiligsten und festesten Grundlagen des Bestehenden für Schein und Illusionen erklärt, und in ihrem wissenschaftlichen Zerstörungswerke war sie so weit fortgeschritten, daß sie aus einer deutschen Opposition eine französische, aus einer germanischen eine romanische, aus einer wissenschaftlichen eine politische, aus einer „Denk-Revolution“ eine kritische Tat zu werden drohte. Es war die höchste Zeit, daß eine eingebildete Macht zum Gefühl ihrer Ohnmacht und eine Richtung, die das Wesen des Bestehenden für eine Illusion erklärte, dahin gebracht würde, daß sie sich selbst als die nichtigste Illusion erkannte. Wer von Siegen und gelungnen Gewalttaten träumt, mag vielleicht nicht gern erwachen. Wenn aber der Sieg nur ein Mord, wenn die Gewalttat, wie es Leo, unser Wächter und Wecker, aus den Bewegungen der Schlafenden richtig diviniert hat, ein „Vatermord“ und ähnliches ist, wer wird dann nicht demjenigen, der ihn geweckt hat, dankbar sein?

Unser Erwachen war schrecklich, aber es ist gut, daß wir nicht mehr träumen. Wir drücken die Hand, die uns aufgeschüttelt hat. Wie wir alle zusammen, die an der äußersten wissenschaftlichen Opposition teilnahmen, zur Vernunft gebracht sind, ist im Ganzen bekannt genug. Es sei mir daher erlaubt, einiges nur von meinen persönlichen Erfahrungen mitzuteilen und namentlich von dem Eindruck, den die gesunde Wirklichkeit und deren bedeutendstes wissenschaftliches Organ, die hiesige literarische Zeitung, auf mich gemacht hat, ein dankbares Bekenntnis abzulegen.

Unmöglich konnte Cicero aus der Provinz, in der er sein erstes öffentliches Amt verwaltet hatte, mit einer größeren Einbildung von der Bedeutung seiner Amtstätigkeit den Boden von Italien wieder betreten, als unsereines nach dem unbedeutendsten Geschäft aus der Provinz in die Hauptstadt zurückkehrt. Unser Stolz ist noch größer, weil wir uns noch dazu einbilden, daß wir an unsre liebe Person gar nicht denken – kurz, weil wir Schwärmer sind, die sich damit täuschen, daß sie nur für Prinzipien zu kämpfen meinen. Was sagt man also von uns? fragte ich die ersten, die ich möglicherweise daraufhin anreden konnte, und erfuhr zu meinem Schrecken, daß man uns nicht kennt, von unsern Träumen nichts weiß, daß die Gewerke ruhig ihren Gang gehen, die Polizei väterlich wacht und die Wiedertäufer für unsre Denkrevolution in dem öffentlichen Interesse keinen Platz übriglassen. Die eifrigen Anhänger des Bestehenden wenigstens, meinen wir, müßten gegen uns in einer heftigen Spannung stehen – und ich erfuhr, daß sie uns nicht beachten, daß unser kritisches Bestreben sie kaltläßt, sie nicht berührt und ihnen als ein Jugendtraum erscheint, den wir selbst belächeln würden, wenn wir nur erst zu Amt und Würden oder zu dem Alter gelangt sind, welches uns zu einem Amte befähigt. Ihre Gleichgültigkeit gegen unsre Kämpfe, ihre Sicherheit und absolute Selbstbefriedigung im Bestehenden nennen wir Unglauben an die Idee, beweisen aber damit nur, daß uns das Eine, was not tut, fehlt, der wahre und der schwierigste Glaube, der Glaube an das Bestehende.

Bei unsern altern Brüdern aber, die ein geistiger Vater mit uns gezeugt hat, die dasselbe Blut wie wir in ihren Adern haben, wenn es auch langsamer rollt, werden wir doch unbedingte Teilnahme finden? Nein! nein! ruft man uns entgegen, ihr geht zuweit! Viel zuweit, so weit, daß wir euch nicht folgen können. Unter solchen Umständen sehnt man sich ordentlich nach einem Gegner und ist ein Feind, der die Waffen mit uns kreuzt, eine wahre Wohltat. Als Unterdrückte glauben wir von Gegnern umzingelt zu sein, und wir finden keine, wenn wir auch noch so fleißig suchen. Kann derjenige, der uns züchtigt, Gegner heißen? Darf der Erzieher, während er straft, mit dem Zögling räsonnieren? Höchstens kann er ihm sagen, was ihm fehlt, und uns fehlt das Herz und die innre Wärme. Dagegen hilft es uns nichts zu erwidern, daß wir nicht nur mit dem Herzen, sondern mit Leib und Seele an unsern Prinzipien hängen, daß wir für die Idee glühen: wir werden nur hören, daß diese Glut nur die Fieberhitze des Gedankens ist, daß es gar nicht auf das Denken, sondern auf das reine Herz ankommt. Sonst gilt der Spruch: das Herz muß doch an etwas hangen; jetzt ist das Herz alles, und wir sind herzlos und kalt. Wir gehen zuweit; man kennt unsre Arbeiten nicht, und wer sie kennt, belächelt sie. In der Tat sind wir kalt. Die Wirklichkeit hat uns erkältet und unsern fieberhaften Paroxysmus gelöst. Wir sind vernichtet, schon deshalb vernichtet, weil wir keinen Gegner haben. Es gibt kein bessres Mittel gegen eine Denkrevolution, als die Träumer zu wecken und sie in die Wirklichkeit zu führen: sie werden selbst nicht begreifen, was ihre frühere Spannung heißen sollte. Den Provinzialisten führe man in die Hauptstadt: seine Einbildung wird verschwinden, wenn er sieht, wie Hunderttausende arbeiten, ohne an die enormen Kämpfe der winzigen Landstadt zu denken. Den erobernden Gedanken lasse man nur immerhin zuweit gehen: die eiskalte Eröffnung, daß er zuweit geht, vielleicht schon zuweit gegangen ist, wird ihn auf seinem chimärischen Siegeszuge aufhalten und so gewiß vernichten, wie auch einen neueren Erobrer die Eisfelder Rußlands vernichteten. Den Nachtwandler rufe man nur bei seinem wahren Namen – nur auf ein Wort kommt es an –, und er stürzt von seiner Höhe herab. Die Opposition ist nur so lange stark, als man selbst durch Entgegenstemmen ihr die Einbildung gibt, sie habe Kraft und Leben: man höre auf, sie zu beschäftigen, man nehme ihr die Gelegenheit, sich anzustrengen, und sie wird so gewiß umfallen, als derjenige stürzt, dem wir plötzlich unsre Schultern nicht mehr entgegenstemmen. In Paris, sagt man, könne man die französische Revolution erst gründlich studieren und verstehen lernen, in Rom die römische Geschichte, an der Küste Ioniens die Ilias. Man hat recht. Der Kleinstädter wird die Bulletins der Festlichkeiten der Hauptstadt nicht verstehen. Wir alle, die wir zuweit gegangen sind, lebten auch nicht in der Metropole der Wissenschaft. Zufällig befanden wir uns, als wir zuweit gingen, außerhalb derselben, aber wir mußten uns auch als zuweitgehende von ihr entfernen, die Malcontents ziehen sich gewöhnlich auf ihre Güter – die unsrigen sind unsre Luftschlösser – zurück, und alle, die an einer extremen Opposition teilnehmen, sind als solche, wie man uns bereits zugegeben haben wird, die eigentlichen und wahren Provinzialisten. Kein Wunder daher, daß wir die Bulletins der Berliner literarischen Zeitung nicht verstanden, nicht begriffen, daß sie uns fremdartig, ja lächerlich vorkamen und der wahre Maßstab für sie uns fehlte. Wir mußten erst gestürzt, vom Dach gefallen, aus dem Luftschloß verjagt, aus der Provinz in die Hauptstadt, aus dem Traum in die Wirklichkeit geführt sein, um diese merkwürdige Erscheinung gehörig schätzen, anerkennen und für uns nützlich machen zu lernen. Solange wir noch im Traume lebten, hatten wir nicht Fassungskraft genug, um einzusehen, daß eine wöchentliche Zeitungsnummer eine „Denkrevolution“ besiegen könne, die sich nicht nur aller Gebiete des menschlichen Lebens bemächtigt hatte, sondern auch auf dem Sprunge stand, praktisch zu werden; wir begriffen nicht, wie ganze Richtungen und Systeme durch ein paar Aufsätzchen widerlegt sein sollten, und am meisten verletzte es unsern Eigendünkel, daß wir in diesen Aufsätzen nicht einmal den Versuch einer wirklichen Widerlegung erblicken konnten, sondern die reine Proklamation unsrer Schändlichkeit und Nichtigkeit sehen mußten. Verständig betrachtet, erklärt sich aber die Sache sehr leicht. Wir sind besiegt: so ist es, weil es die Wirklichkeit und das Bestehende so haben will. Kampf wäre bei einer so ernsthaften Willenserklärung von beiden Seiten Torheit, sowohl von Seiten des Bestehenden als von unsrer Seite, wenn wir uns einem so festen Willen noch irgendwie entgegenstemmen wollten. Dem Bestehenden ist es genug, daß es unsre Nichtigkeit dekretiert und unsre Niederlage will; seine Allmacht ist ohne Räsonnement und Vermittlung: so wie es will, so geschieht's, so wie es gebeut, so steht es da. Es will, weil es will; es will, weil es ist; besteht es doch auch, weil es besteht. Seine wahren Repräsentanten sind daher auch weit über den Kampf erhaben, mit dessen Schein wenigstens sich die literarische Zeitung beschäftigt. Wir alle, unsre Prinzipien, unsre Arbeiten, unser Meister: Alles ist ihnen unbedeutend. Wozu also Kampf? Das einzige scheinbar Bedeutende an uns ist vielleicht unsre Weigerung, das Bestehende als das Absolute, Allerherrlichste und Allervollkommenste anzuerkennen. Aber diese unsere Einbildung, daß an unserer Anerkennung irgend etwas gelegen sein könne, ist das Lächerlichste von der Welt und kann das Bestehende auch nicht einen Augenblick in Bewegung versetzen.

Ganz ohne Vermittlung, Schein und Bewegung kann es aber doch nicht abgehen. Wir konnten durch einen Schlag aus dem Traum geweckt werden: das ist gewiß und zum Teil geschehen. Da wir aber doch gar zu sehr an Vermittlung und Übergänge gewöhnt sind, da ferner auch die Natur zwischen Schlaf und Wachen jenen wohltätigen Zwischenzustand des dämmernden wachen Traumes gesetzt hat, da endlich derjenige, der bisher nur im Finstern gelebt hat, nicht auf einmal an das volle Licht geführt werden oder der Unglückliche, der lange Zeit ohne Nahrung geschmachtet hat, nicht sogleich mit derben Speisen bedient werden darf, so ist durch die literarische Zeitung für einen wohltätigen Übergang gesorgt.

Wir sind, sozusagen, an Kampf gewöhnt: gut! die literarische Zeitung tut so, als kämpfe sie gegen uns, wenn sie auch im Grunde von unsrer Niederlage überzeugt ist und eigentlich uns nur verkündigt, daß wir nichts sind. Wir haben besondre Stichworte, die uns so fest eingeprägt sind, daß wir sie sogar im tiefsten Schlafe aussprechen: schadet nichts! Die genannte Zeitung lallt sie uns vor, damit wir uns in der wirklichen Welt nicht zu fremd fühlen. Mit derselben Herablassung besänftigt die Mutter ihr Kind, indem sie mit kindischer Zunge seine Lieblingsworte ihm vorlallt oder auch wohl vor ihm auf- und abtänzelt. In unserm Traum pflegen wir zu rennen und nur zu oft uns zu überstürzen; auch darin läßt es die mütterliche Zeitung an ihr nicht fehlen: sie springt vor unsern Augen und zeigt uns, wie man springen muß, ohne von der Stelle zu kommen. Die Mutter weiß, wann es Zeit ist, dem Kinde das Spielzeug zu nehmen, und vertröstet es, wenn es darüber ungeduldig wird, es würde alle die schönen Sachen wieder bekommen, wenn es fein artig sein würde. Unser Spielwerk sind Systeme, das Hegelsche war unser liebstes: die literarische Zeitung nimmt es uns und verspricht uns, es aufzuheben, bis wir artige, wohlerzogene Kinder sein würden.

Solche Mutterliebe tut Wunder, und an uns ist das Wunder wirklich vollbracht. In einem gewissen Alter sind die Kinder bereits ungläubig, und sie zweifeln, ob das Spiel der Erwachsenen Ernst ist. Wir zweifeln nicht nur, sondern glauben so ziemlich gewiß sein zu können, daß bald gar nicht mehr von Spiel die Rede sein werde. Die Mutter lallt und tänzelt nicht immer vor dem Kinde, das Spielzeug wird später nicht wieder herausgegeben; alles war nur Schein, der im Ernst des späteren Lebens vergessen oder desavouiert wird. Aber kann denn auch der Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachen ewig dauern? Ist die Herablassung der Mutterliebe in der gefährlichsten Krisis unsrer Kindheit nicht anzuerkennen? Wir sind erwachsen genug, um einzusehen, daß es nicht unser Schaden ist, wenn dieses letzte Spiel mit Stichworten, Prinzipien und Systemen uns für den Ernst des Bestehenden vorbereitet, wo wir arbeiten, aber nicht mehr spielen müssen.

Da es nicht genug ist, daß nur uns geholfen ist, da allen geholfen werden soll, da es auch selbst der literarischen Mutter nicht unlieb sein wird, daß ihre Liebe zu den Kindern zur allgemeinen Anerkennung komme, so – werden wir kein überflüssiges Werk verrichten, wenn wir ihr spielendes Unterrichtsverfahren nach seinen einzelnen Stadien schildern. Daß sie anfangs eine sehr ernste, bitterböse Miene macht, darf uns nicht irremachen. Sie meint es wahrlich nicht so ernst, wie es die Schwachen allerdings im ersten Augenblick wohl nehmen könnten. Ernst ist es ihr nur mit dem Schrecken, den sie zu unserm Besten uns einjagen will, um uns für ihre Belehrungen empfänglich zu machen. Sie fährt uns entweder über das „Unwesen“ an, das wir in Deutschland, in dem lieben, unschuldigen Deutschland angerichtet haben (Nr. i, S. i), oder sie führt uns ein Gespenst vor, von dem sie uns sagt, daß wir es seien, damit wir einen recht gründlichen Widerwillen gegen uns selbst bekommen und sogleich von vornherein für ihre weitern Belehrungen und Manipulationen empfänglich seien. Unsre Religion, unser Gottesdienst wie unsre Sittlichkeit haben nur „Essen, Trinken und Wasserbad“ zum Kern; alle „menschlich-geselligen Bande“ sind von uns aufgelöst. So weit sind wir gekommen, daß wir das „Tier“ zum Ideal des Menschen, den tierischen Zustand zum Normalzustand des Menschen gemacht haben: „alle menschliche Entwicklung haben wir wenigstens auf ein Minimum herabgesetzt, welches uns vor dem Tiere einen traurigen, bald verschwindenden Vorzug geben würde“. Wer kann glauben, daß unsre Mutter alle diese Dinge als baren Ernst genommen wissen wolle? Sie hat ein viel zu weiches Herz, als daß sie ihre Kinder im Ernste kränken könnte. Wenn der Mund der Bösen glätter denn Butter ist und sie doch Krieg im Sinne haben, so spricht nur unsre Mutter kriegerisch, aber ihre Lippen bleiben weich, glatt und gelinde wie Butter und können ihre Butternatur nicht immer verleugnen. Dürften wir das kühne Bild gebrauchen, das aber durch den Gegenstand und dessen innre Natur vollkommen gerechtfertigt ist, so abenteuerlich oder albern es aussieht, so würden wir sagen, die Schwerter und Pfeile selbst, die unsre Literarische uns präsentiert, damit wir den gedeihlichen Gebrauch davon machen, sind nur aus Butter geformt. Und spricht nicht in der Tat das Mutterherz zu uns, wenn die Literarische zugesteht, daß wir, die doch das Essen und Trinken zur höchsten Religion erhoben haben, „immer doch teilweise an der höheren Wahrheit, die wir verachten, teilnehmen“? Haben wir denn nicht überhaupt noch Religion, wenn auch die Religion des Tieres, und hat die Literarische nicht Recht, wenn sie sagt, daß wir uns „von den Begriffen und der Bildung des Christentums nicht gänzlich isolieren“ können? (Nr. i, Seite 5, 6.) Sie will durchaus nicht, daß wir nicht springen und guter Dinge sein sollen. Im Gegenteil! Sie hat an dem Mutwillen der Wissenschaft selbst noch einen heimlichen Wohlgefallen, sie freut sich innerlich an den Sprüngen der Wissenschaft, ist aber verständiger als wir und gibt uns den Rat, die Maske des „Ernstes“ zu gebrauchen, „den tiefen Ernst“ dem Satyrgesicht der Wissenschaft einzuprägen und den „Laken“ der „Würde“ ihren puris naturalibus überzuwerfen (Nr. 1). Oder weiß die Sibylle vielleicht, daß die Philosophie solange noch nicht schädlich war, als „der Ernst der sauren Arbeit des Gedankens“ sie charakterisierte und die offene, weltliche Heiterkeit ihr noch als Sünde galt? Daß die äußre Salbung ihr auch innerlich gedeihlich war? Daß der weite Philosophenmantel ihren schnelleren Fortschritt hinderte? So ist es. Der tiefe Ernst und die Würde sind das Zeichen der Wiedergeburt der Wissenschaft, die Siegel ihrer Bekehrung und Aufopfrung für die himmlischen Güter, der Beweis, daß sie ihr irdisches Unwesen aufgegeben und zu einem himmlischen Wesen geworden ist. Der Ernst und die Würde sind die Sache selbst, die Wissenschaft nichts als ein Schein geworden, sie gelten in der geistlichen Welt für sich allein schon, wie in der himmlischen der reine Glaube als solcher und die Gerechtigkeit nichts gilt. Der Wissenschaft ergeht es in ihrer würdigen Umwandlung wie dem „Witz“ und der „Satire“, wenn sie, wie das literarische Münchlein uns lächelnd ankündigt, in der „Polemik“ der neuen geistlich-literarischen Welt zu „erlaubten Waffen“ werden oder wenn man, wie dasselbe Münchlein uns versichert, in dieser Polemik „selbst eine gewisse Keckheit gern nachgesehen hat“ (Nr. 8, S. 181). Der Witz und die Satire und selbst die Keckheit müssen sich würdig benehmen, saurer Ernst bleiben, d. h. weder Witz noch Satire sein, noch die Mönchskutte anrühren oder ihre eigne ablegen, denn „der wilde Tumult, das ungeschickte Überrennen und blinde Umsichschlagen“ würde ja dem Mittelalter, in dem das Münchlein lebt und an das es aus allen Leibeskräften glaubt – wenn die würdige Haltung und der saure Ernst entscheidet, so hat auch der Leib in der Wissenschaft etwas zu bedeuten –, ein Ende machen. Die literarische Mönchskutte ist gescheit: sie weiß, daß sie alle Sünden tilgt: voll von Erbarmen läßt sie daher alle zu, sowohl die reine Wissenschaft als deren Keckheit in der Polemik; alle bedeckt sie ohne Ausnahme, um sie zu tilgen.

Sogar der „freien Wissenschaft“ nimmt sie sich an. Mit Recht! Denn die freie Wissenschaft des jetzigen Mittelalters ist diejenige, „die sich bewußt ist, daß sie zu keinen dem Christentum feindlichen Resultaten kommen kann“ (Nr. 4, S. 85). Frei ist der Mönch, der es sich bewußt ist, daß er aus seiner Kutte nicht heraus kann; frei ist vor allem derjenige, der das Gelübde getan hat, von der Freiheit frei zu sein; auch der Vogel ist frei, der es sich bewußt ist, daß er niemals, er mag flattern, wie er will, den Käfig verlassen kann. Am freiesten sind die Beschnittnen, und die Wissenschaft ist erst frei, wenn ihr die Flügel beschnitten sind.

Das ist „die freie Wissenschaft, der die evangelische Kirche sich anvertraut hat“ (Nr. 10, S. 230). Kein Verständiger wird es ihr verdenken. Auf diesem Felsen wird sie sicher gegründet sein.

Merkwürdiger Widerspruch! Sonst schwärmten die Hegelianer für den Widerspruch, keiner war ihnen groß und hart genug, um ihn nicht zu verdauen, und ihre Liebe gegen ihn war so groß, daß sie ihn womöglich in seiner Originalgestalt in dem Spiritusglase ihres Systems aufzubewahren suchten. Sie machten auf die Widersprüche ordentlich Jagd, spießten sie in ihrem Naturalien-Kabinett auf und nannten das, die zerstreuten Glieder von dem Organismus der Wahrheit sammeln. Sie haben aber Unrecht getan, in ihrer Metamorphose zu Junghegelianern das Erbarmen gegen den "Widerspruch und holden Irrtum zu verleugnen; Liebe, Geduld und Vertrauen ist ihnen fremd geworden, seit sie den Widerspruch kritisch erklären und nicht mehr in seiner Urgestalt anerkennen; dafür beschämt sie nun die „freie theologische Wissenschaft“, die „nicht allein frei ist, die Wahrheit, sondern auch frei, den Irrtum anzunehmen“ (S. 230). „Ja in der Liebe zur Wahrheit drängt sich diese Wissenschaft zum Irrtum“ und „sammelt“ sie wie wir früher „die zerstreuten Glieder des herrlichen Organismus“ der Wahrheit. Um frei zu werden, müssen wir wieder Kinder werden und die bunten Schmetterlinge, die merkwürdigen Käfer sammeln – sammeln, aber ja nicht als Naturforscher sezieren und erkennen.

Noch mehr! Der freien Wissenschaft ist es „wesentlich, keine Vorschriften, woher sie auch kommen, anzunehmen über ihren Weg und ihr Ziel“ (ebend.). Unerhörte, aber höchst notwendige Freiheit! Die wahre Freiheit, die Freiheit von der Freiheit! Die Wissenschaft bildete sich bisher ein, daß ihr Ziel, ihr Weg und ihr Anfang das Selbstbewußtsein sei, daß ihr Ziel und ihr Ausgangspunkt das Beisichselbstsein des Menschen sei. Torheit! Die wahre Freiheit besteht darin, keinen Besitz, keine Heimat, kein Ziel und Ende zu haben. Man muß auch vom Selbstbewußtsein frei sein. Der Vagabund, der Landstreicher ist erst wirklich frei. Die vagabundierende Wissenschaft ist nicht nur frei, sondern auch heilig und vollkommen, denn sie strebt ins Blaue, sie sieht nicht auf die Erde, sondern ins Blaue; sie ist im Grunde ein heiliger Pilgrim, denn im Blauen sieht sie ihr Ziel; im Blauen ist ihr Schatz und ihr Herz enthalten, denn ihre „letzte Aufgabe“ ist, „das Urbild der Kirche anzuschauen“ (ebend.). In ihrem Paß ist ihr also doch ihr Ziel vorgeschrieben, und die Reiseroute braucht sie sich nur deshalb nicht im voraus bestimmen zu lassen, weil sie so glücklich ist, daß sie überall, wo sie hinkommt, den blauen Himmel über ihr hat, oder weil derjenige, der immer ins Blaue sieht, sich doch nicht um die Wege bekümmern kann.

Die List war wohlberechnet. Um frei zu werden, werden wir Vagabunden, und Vagabunden werden wir, um nur frei und heilig zu werden. Das Mittelalter wird zum Erstaunen „prolongiert“, wir müssen noch an das Mittelalter glauben, denn wir sind heilige Pilgrime geworden. Glück auf die Reise! Die Mönche des christlichen Altertums nannten sich Philosophen und ihr Gewerbe Philosophie, teils weil sie sahen, daß diese Art des Gewerbes am meisten geehrt war, teils weil sie es am meisten haßten und in der Kutte ihm ein Ende zu machen hofften. Unsre modernen literarischen Mönche haben demnach sehr wohl begriffen, was sie in unsren Zeiten zu tun haben: derjenige Gegensatz nämlich, der ihnen am verständlichsten und am nächsten ist, ist die Reformation: wohl! ihr Wahlspruch wird nun die Reform, reformiert werden muß das Alte, und indem sie unter diesem Schilde sich den Schein einer ungemeinen Liberalität geben, erhalten sie die Möglichkeit, in der eigentlichen Revolution auch die eigentliche Reform zu bekämpfen und am Ende zu ersticken. Reform, nicht Revolution! ist von Anfang an (Nr. 2, S. 34) ihr Feldgeschrei. Reform! aber keine Revolution, sowie keine Reaktion! (Nr. 4, S. 81.) „Der Revolutionär“, belehrt uns unser Reformer, „bekämpft die bestehenden Verhältnisse und Institutionen nicht bloß deshalb, weil sie nichts taugen oder weil eine Änderung objektiv notwendig erscheint, sondern nach ganz abstrakten Idealen, oder weil sie seinen Maximen und Tendenzen nicht entsprechen.“ „Abstrakt, tot, negativ, willkürlich“ ist der „Inhalt“ der Revolution. Wie „edel“, adelig, ja hochadelig und wahrhaft fürstlich, wenn nicht geistlich, ist dagegen die „Gestalt einer organischen, in objektiv notwendigen Reformen fortschreitenden Staatsentwicklung“! (Nr. 13, S. 298.) Wenn nun aber die „objektiven“ Verhältnisse durch und durch verderbt sind und eine Veränderung an Haupt und Gliedern verlangen, darf dann die Revolution immer noch nicht ihr Haupt erheben? Wenn die bestehenden Verhältnisse der Idee vollständig widersprechen, wo kann die Idee dann anders existieren als in dem reinen Selbstbewußtsein, welches aus der Verderbnis sich gerettet hat und die wahren Formen seiner Existenz als Ideale zunächst in sich trägt? Hat das Selbstbewußtsein eben als solches nicht das Recht zu verlangen, daß es seine innren Bestimmungen in den Gesetzen und Einrichtungen des Bestehenden wiederfindet? Nein! der geistliche Reformer, der reformatorische Mönch bleibt dabei, daß nur der natürliche Mensch das Seine sucht und daß nur das Bestehende Recht hat. Ist einmal, wie er doch zuweilen zugibt, die Revolution notwendig, so ist sie es nur als „Konsequenz der bereits vorhandnen völligen Entsittlichung und Zerrüttung des Staatslebens“. Der Schmutz allein muß sie gebären; der Bergstrom, der sich brausend in die versumpfte Ebene herabstürzt, darf nicht im Haupt des Berges und an der Stätte, wo die Elemente in ihrer ersten Reinheit gemischt werden, entspringen. Der Philosoph des Klosters scheint nun aber doch die Änderung, wenn sie „objektiv notwendig“ ist, eben als notwendig anzuerkennen; das historisch Gegebne ist ihm ferner das eigentlich Notwendige: welches Schicksal wird also die Revolution von ihm zu erfahren haben, wenn sie von ihm als „historisch gegebne“ vorgefunden wird? Ist sie ihm „die ideelle, begrifflich notwendige Grundlage der Freiheit“, die ihr gefolgt oder auf ihr als der historisch gegebnen Basis etabliert ist? Behüte! der geadelte Plebejer bleibt Plebejer; die Prädestination kann durch alle Anstrengungen des Verdammten, selbst durch die glücklichsten Fügungen des Ohngefährs nicht umgestoßen werden, der Rost der Zeit kommt allem zugute, er adelt alles durch den Anflug der Notwendigkeit, das historisch Gegebene ist sonst immer das Berechtigte; aber der Revolution kommt das Recht der Verjährung für ihren Besitzstand nicht zugute. Niemals kann sie zur „notwendigen Grundlage“ der folgenden Geschichte werden, sie ist für ewig geächtet; weil sie die Sünde gegen das organische allmähliche "Wachstum ist, kann sie von dem ersten besten Reformer aus ihrem Besitz getrieben werden – kurz, der Reformer darf gegen sie revolutionieren, aber sie darf es sich nicht einfallen lassen, sie selbst zu sein und als solche Anerkennung zu verlangen. Der naturwüchsige und geistliche Politiker hat das Vorrecht, die Natur als sein Vorbild zu betrachten und wie diese seine Entwicklung durch Zerstörung und Negation zu vermitteln: er zerstört die Revolution, aber beschämt sie zugleich durch die Hinweisung auf die Natur (Nr. i, S. 2), indem er sie fragt, ob sie wohl in der Natur ihresgleichen finde. Mit einem Druck setzt er die ganze ihm feindliche Welt unter Wasser, und in seinem Kloster auf der Bergspitze lacht er triumphierend über die Opfer seiner Naturkraft. „Als ob mit der Wegräumung des Alten die Entwicklung gegeben wäre!“ (ebendaselbst). Jawohl: „als ob!“ Der großmütige Reformer, der sich „durch Ruhe und Besonnenheit von Extremen fernhält“, bedarf der Extreme – denn wie wäre es ihm möglich, ohne den Gegensatz gegen dieselben seine löblichen Tugenden zu beweisen –, und er wird es nicht wagen, sie ganz zu vernichten. Damit man weiß, daß er sich (Nr. 8, S. 180) von ihnen fernhält, und damit er sich immer kontrollieren kann, müssen die Extreme, wenn die Sündflut sie unter Wasser gesetzt hat, aus dem Meer dieser geistlichen Polemik hervorsehen oder wenigstens, wenn die Flut sich verlaufen hat, als Trümmer noch erhalten sein. (Nur zuweilen, in besonders grimmigen Augenblicken [Nr. 1, S. 6] wünscht „der Ernst der deutschen Wissenschaft“, die Keime der Revolution „in ihrem Gebiete“ zertreten zu können.) Wenn also die Extreme bleiben, der Ernst sich besser besinnt, seine Existenz also darin besteht, daß er sich vollkommen in der Mitte hält und auf die Extreme grimmig hinblickt, und wenn er nun, dieser würdige und gründliche Ernst, zu gleicher Zeit die rechte Mitte nicht verächtlich genug ansehen kann, was tut dann der herrliche Mann? Der Jesuit muß, um er selbst zu sein, Alles sein. Keines der Extreme will er sein, die rechte Mitte (S. 251) verachtet er, ins Blaue immer zu wallfahrten, ist für die Dauer auch zu ermüdend: der Unglückliche, der sich für das Wohl der Welt aufopfert, er muß revolutionieren, um zu reagieren, abstrakte Ideale mit Gewalt durchsetzen, um die Entwicklung aufzuhalten, negieren, um zu negieren, zerstören, um zu zerstören. Er ist glücklich, dieser Jesuit, er vereinigt alle Genüsse und Empfindungen, in seiner Seele hat alles Platz, allen Zonen akklimatisiert er sich, wie ein Fürst hat er für jede Jahreszeit seine Residenz: noch mehr! Nur nach dem Tode, wenn seine Glieder an verschiednen Orten beigesetzt und unter den Schutz mehrerer Heiligen gestellt werden, kann ein Fürst mit seinem Herzen und Kopfe zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten sein: der ernste und besonnene Reformer ist in demselben Augenblick in der Mitte und auf der Höhe der extremen Prinzipien. Er revolutioniert, um zu reagieren. „Freiheit!“ ruft er als Revolutionär. „Soweit es möglich ist!“ setzt er als Mann der rechten Mitte hinzu, und als Reaktionär denkt er innerlich, die Möglichkeit schon auf ihr rechtes Maß, nämlich auf dasjenige Maß zurückführen zu können, aus welchem, damit der Kreislauf nie aufhöre, die Revolution wieder hervorbrechen könne. „Die eigentliche Revolution ist immer die Tat des unfreien Willens.“ (Nr. 4, S. 85; Nr. 7, S. 159.) Der literarische Jesuit ist daher für die Unfreiheit, damit die Äußerung derselben folge und er selbst die von ihm provozierte Tat durch einen „Mittelweg“ in den Abgrund stürzen könne, aus dem sie, nachdem er sie geheilt und zur Vernunft gebracht hat, mit frischen Kräften sich wieder erhebt. Der literarische Herr der Geschichte ist Alles und macht Alles. Das Meisterstück seiner Erfindung ist „die Freiheit, soweit es möglich ist“. Ohne diese Freiheit gäbe es keine Extreme, keine rechte Mitte, kurz keine Geschichte. Dank also dem philosophischen Kloster, welches den Vorrat nie ausgehen läßt! Wenn Mönche Philosophen sind, so müssen sie sich, wollen sie hinter der Kultur nicht zu sehr zurückbleiben, auch zu einem bestimmten System bekennen oder ein solches System wenigstens zuweilen loben. Da sie aber Philosophen sind, um die Philosophen zu stürzen, so müssen sie ein bestimmtes System in den Himmel erheben, um es heilig und also unphilosophisch zu machen. Als Philosophen beschämen sie die Philosophie, als Lobredner eines bestimmten Systems beschimpfen sie es. Sie sind Philosophen trotz der Philosophie: so loben sie ein System, wenn es ihnen auch während der Lobrede die Zähne weist. Welches System unsre geistlichen Lobredner zum Gegenstand ihrer Strafpredigt wählen würden, konnte jeder, der sich auf die theologische Praxis versteht, im voraus wissen. Die Junghegelianer pereant – es lebe das Hegelsche System! Mit dieser Serenade – denn das geistliche Ständchen soll das gefährliche System einschläfern – mit diesem Wiegenlied trat unsre liebevolle Mutter (Nr. i, S. 5) sogleich im Anfang auf. Uns nämlich, den Jüngsten der Jünger dieses Systems, uns allen galt dieses Wiegenlied zugleich, es sollte uns und das System in einen wohltätigen Schlaf versetzen: erst sollten wir vom Lobe des fürchterlichen Systems bezaubert werden und dann, wenn wir seine gepriesne himmlische Schönheit anerkannt haben – gute Nacht, Hegel! Gute Nacht, System! Gute Nacht, Philosophie! Hurrah! Es lebe Hegel! Zündet ein Freudenfeuer an und werft die bisherigen Jahrgänge der evangelischen Kirchenzeitungen und alle Vorlesungen über die Dogmatik der evangelischlutherischen Kirche, in denen Hegel bisher als philosophischer Schacher gekreuzigt ist, in die Glut hinein! Der Sünder ist gerechtfertigt, und heute ist große Freude im Himmel. Der literarische Ritter ist großmütig. Ohne daß er es nachweisen konnte, ohne daß er die Waffen dazu hatte, behauptete er früher, daß Hegel gegen die Religion arbeitete. Es lebe der Ritter! Es lebe die Großmut! Jetzt war es ihm mit Posaunenstößen beigebracht, daß Hegel allerdings die Religion untergraben habe. Welche Großmut! Er nimmt sich des Sünders an, und wie er früher nur behauptete, nicht bewies, so kostet es ihn jetzt nur ~einen Federstrich, um dem Schacher den Ablaßzettel auszustellen. Hegel für immer! Hegel ist Alles! „Bei Hegel Streben nach Übereinstimmung mit der Religion! Bei Hegel spekulative Dialektik! Bei Hegel der monarchische Staat in der Gliederung der Stände und Gewalten! Bei Hegel die Arbeit des wissenschaftlichen Gedankens“ (Nr. 1, S. 5). „Soviel ist gewiß, Hegel wollte nicht pantheistisch sein.“ „Ein großer Vorzug der Hegelschen Philosophie ist es ferner, daß sie bei aller Freiheit des Gedankens, bei aller Rücksichtslosigkeit der wissenschaftlichen Forschung doch von einer tiefen Achtung vor dem Bestehenden, Positiven durchdrungen ist, ja es sich recht eigentlich zum Zwecke macht, das Positive der Vergangenheit wie der Gegenwart in seiner immanenten Vernünftigkeit zu begreifen“ (Nr. 12, S. 275). Hegel hatte sich noch nicht mit dem modernen französischen Liberalismus verbündet (Nr. 13, S. 297). „Hegel eröffnet mit der Anerkennung der in Christo versöhnten Menschheit seine Betrachtung der christlich-germanischen Welt“ (Nr. 8, S. 179). Wahrscheinlich teilte Hegel, wenn er jetzt noch lebte, auch nicht die „wunderliche Abneigung Schlossers gegen die Verhältnisse und Zustände Preußens in neuester Zeit, für welche die Junghegelianer aus naheliegenden (wahrscheinlich fühlbaren) Gründen ebenfalls wenig Sympathie empfinden“ (ebend. S. 178). Hegel ist groß. Wenn er nicht Pantheist sein wollte, so reicht er fast an Schleiermacher, der (Nr. 3, S. 59) „sich bestimmt weigerte, Gott bloß als höchste Ursache zu denken“. Zeigt es sich auch bei einer „genauem Vergleichung“, daß Schleiermacher höher steht, so verdiente doch wenigstens seines guten Willens halber Hegel, ihm gleich zu stehen, denn beide wollten nicht, beide weigerten sich, beide verstanden sich nicht dazu, Pantheisten zu sein.

Wir könnten stolz sein und erklären, daß wir von Herzen gern den Hegel dem Bedürfnis der Mönche überlassen und uns von ihm trennen wollten. Die Resignation würde uns nicht einmal viel Überwindung kosten, denn dieser Hegel, dieser gepriesne und in den Himmel erhobne Hegel, der augenblicklich, sobald wir ihn den Herren abgetreten haben, im untersten Verließ des Klosters schmachten müßte, dieser Hegel kann unmöglich der echte Hegel, der Hegel sein, von dem die Junghegelianer den Atheismus, die Revolution, die Republik gelernt haben. Und doch ist es der echte Hegel. Wir dürfen nicht stolz, nicht verächtlich großmütig sein, unsre einzige Pflicht ist nur die Konsequenz, zumal da der Schein der Inkonsequenz nur auf die philosophierenden Mönche fällt. Mit Recht wird das Volk auf dem Markte getadelt, welches nicht tanzen wollte, als man ihm aufspielte, nicht weinen, als man klagte. Als man Hegel des Atheismus anklagte, haben wir den Beweis geliefert; wenn man ihn nun um seiner Religiosität willen und wegen seines positiven Charakters lobt, dürfen wir nicht widersprechen. Wir sind überwunden, wir gehen mit unserm geistigen Vater ins Kloster, und die Klosterpolizei wird schon dafür sorgen, daß wir alle, alt und jung, uns ordentlich aufführen. Damit unsre Bekehrung vollständig werde, richtet man gegen uns den Widerspruch, der in unsrer eignen Lehre liegt. Das Netz der Widersprüche, das wir selbst zu weben haben, stülpt man gleichsam über uns, wir verwirren uns somit endlich selbst im Labyrinth unsrer Phantasie. Wir leben, wie uns der literarische Mentor zu unserm Schrecken belehrt, in einer wunderlichen Zeit, in einer Zeit, „in welcher der geschichtliche Zusammenhang abgebrochen erscheint, vielleicht bis zu dem Grade, daß sozusagen kein Ding mehr aus dem andern folgt, in der, weil sie nicht weniger als alles in Frage stellt, die Wirklichkeit oder das, was man gemeinhin Leben nennt, in eine unendliche Menge von Möglichkeiten auseinandergefallen ist“. Schrecklich! eine solche Möglichkeit, ein „fatales Mittelding zwischen Theorie und Praxis, zwischen Nicht-Sein und Sein, also Doktrin“, ist unser System. Wir sind somit an zwei Stellen, nämlich an den beiden Seiten, die wir überhaupt den Waffen des Glaubens darbieten und aussetzen müssen, tödlich verwundbar und, merkwürdig genug! beide Seiten sind eigentlich nur eine einzige. Unsre Doktrin erbaut eine „Welt“, aber eine der Wirklichkeit entgegengesetzte Welt, eine Welt, die, um Boden zu gewinnen, „das Gebäude der christlichen Weltanschauung aus den Fugen“ zu sprengen droht. Wir sind daran schuld, daß „das Christentum in unsern Tagen einen doppelten Kampf zu kämpfen hat, einen Kampf um die Erhaltung seiner Herrschaft über die Geister und einen Kampf um die Bewahrung der Institutionen, durch welche es dem Leben der christlichen Völker seine Form und Gestalt gegeben hat“ (Nr. 7, S. 153-155). Dieser Kampf, den das Christentum zu bestehen hat, ist aber sehr leicht, so leicht, daß er von Kindern ausgeführt werden kann, so beschaffen, daß er das heilige Wort: „aus dem Mund der Unmündigen hast du dir dein Lob bereitet“, nur bestätigen muß. Sind wir schon deshalb des Unrechts überwiesen, weil uns gesagt ist, daß wir das Gebäude des Christentums aus seinen Fugen zu sprengen drohen, so werden wir vernichtet, indem uns zu Gemüte geführt wird, daß unsre Welt doch nur ein „Kartenhaus“, eine „Seifenblase“ ist. Wir fallen durch die innre „Ironie“ der Doktrin, die sich vorstellt, „ihre Worte seien Taten, während sie selbst vor dem Worte, welches die Tat ist, alsbald verschwinden muß“ (ebend.). Alsbald! das kräftige Wort, das Wunder tut, braucht nur ausgesprochen zu werden, so ist der Doktrin ein Ende gemacht und kommt es an den Tag, daß es mit ihr doch nur „viel Lärm um nichts war“ (ebend.). Das Beste an der Sache, das ebenfalls „alsbald“ zum Vorschein kommen wird, ist das Ergebnis, daß auch die literarische Polemik gegen uns weiter nichts als „viel Lärm um nichts war“, d. h. daß das literarische Kloster seine Pforten schließen, seine Mannschaften und geistlichen Ritter von ihren Ausfällen zum ungestörten Horas-Singen und zu würdigeren Beschäftigungen zurückrufen wird; denn wer wird sich dazu verstehen, länger als nötig ist viel Lärmen um nichts zu machen? Das Kloster wird sich auch deshalb schließen müssen, weil es alle unsre Prinzipien, Leidenschaften, Stichworte, ja das Hegeische System in sich aufgenommen, uns dadurch in sich hineingelockt und mit unsern weltlichen Neigungen und Liebhabereien auf Wasser und Brot gesetzt hat.

Unsre geistlichen Ritter wußten dies Ende schon im voraus. Derselbe Held, der uns sogleich beim ersten Ausfall (Nr. i, S. 4) gemessen, hat uns zu klein befunden und den schnellen Verlauf des Feldzuges vorausgesagt. Eine bloße „Denk-Revolution“ – was hat sie für Taten aufzuweisen? Kann „das hohle Wort“ zeugen oder gebären? „Ist es nicht eine Schande, daß es der Tat gegenüber sich zu spreizen wagt?“ „Etwa den Trotz gegen die Zensur“ ausgenommen (ebend.) – was hat es getan, geleistet, vollbracht?

Mit solchen Gegnern verlohnt es sich kaum zu kämpfen: wenn einmal der Kampf für den Augenblick doch notwendig ist, so dauert er nicht lange, und solange er währt, ist er im Grunde nur scheinbar, da der Feind mit dem hohlen Worte doch nichts ausrichten kann. Die Zensur braucht nur einmal den Trotz zu ahnden: – tont est per du!

Mit dem Kampfe hört auch eine andre Illusion auf. "Wir waren eine Partei – vielleicht lag darin gerade ein Teil unsrer Kraft, falls nämlich Parteien, wie die Vereinigung der Apostel zu beweisen scheint, das Salz der Erde sind –, das Bestehende, das in seiner Ruhe und Vollendung über den Parteien erhaben ist, mußte sich daher herablassen, gegen uns den Schein der Partei anzunehmen, oder vielmehr einen Teil seiner Oberfläche von sich ablösen und unter der Gestalt der Partei gegen uns ausschicken. Die Partei war aber eben nur Schein, ihre Stichworte waren nur Schein, ihre Worte waren nur scheinbar und die Hülle für die Tat, die dem Bestehenden allein zukommt und der es möglich war, uns den Weg zu versperren, uns zu züchtigen und zu bessern. Wenn wir gedemütigt sind, so werden die Stichworte vergessen, das Bestehende tritt in seine ausschließlichen Rechte ein, der Schein der Partei wird abgelegt, die ausgeschickten Vorposten, von denen keiner verlorenging, kehren in den Schoß der alleinseligmachenden Gemeinschaft zurück, und es gibt keine Parteien mehr. Unser Sturz ist damit vollendet, daß wir keine Partei mehr zu bekämpfen und uns sogar zu schämen haben, daß wir uns überhaupt nur mit dem Schein der Partei soviel zu tun machten.

Im letzten Augenblick unsrer Bekehrung regte sich noch einmal unser weltlicher Stolz. Wir meinten bisher, unsre Theorie sei an ihr selber Tat; da wir aber hörten, daß sie nur „das hohle Wort“ sei, und die Einbildung der innern Kraft noch nicht ganz aufgelöst war, so fühlten wir uns versucht, das lästige Maß, in das man uns einzwängte, von uns zurückzustoßen und unsre Fähigkeit zur Tat zu beweisen. Ohnehin hat man uns schon seit langer Zeit mit dem Vorwurf gereizt, daß unsre Rednerei ohnmächtig, die Schreiberei nur Träumerei sei. Man ist sogar so indiskret gewesen, uns gegen die Männer einer Tat, die seit fünfzig Jahren viel von sich reden macht, als bloße Theoretiker herabzusetzen. „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte.“ Es schien, als wollte man die Theorie auf den Punkt treiben, wo sie sagt: „Ich bin des trocknen Tons nun satt, muß wieder recht den Teufel spielen“. – Ein guter Genius hat uns aber trotz aller gewaltsamen Reizungen und Versuchungen davon abgehalten, die innre Ohnmacht zu offenbaren, für welche die literarische Zeitung den letzten, schlagendsten Beweis geliefert hat.

Der Trotz, die Gewalt und Tapferkeit gelten nichts mehr, seitdem der Schein allein siegreich ist und die Schwäche triumphiert. Die Schwäche gewinnt jetzt die Welt, und wie sie gewinnt, sind wir so indiskret gewesen zu verraten, indem wir diese Bekenntnisse einer schwachen Seele an das Tageslicht gezogen haben. Die Schwäche ist so stark, daß sie sogar Bekenntnisse nicht mehr zu fürchten hat.



Zuletzt aktualisiert am 20.5.2009