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Sowjetrussland, Die Wirtschaftskrise und Die Weltrevolution

1933


Veröffentlicht: von Gruppe Internationaler Kommunisten, Holland, in Proletarier Zeitschrift für Theorie und Praxis des Rätekommunismus Nr. 1 - Februar 1933.
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„Der Charakter der gegenwärtigen Krise ist ein anderer, weil es jetzt zwei Welten, zwei Wirtschaftssysteme gibt, weil die Weltwirtschaft, deren „Einheit“ immer nur eine relative war, in zwei Sektoren zerspalten ist, die grundverschiedene Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung aufweisen. Wir haben also nicht eine Phase des gewöhnlichen kapitalistischen Zyklus vor uns, sondern die Krise des gesamten kapitalistischen Systems. ... Es kann bei uns keine prinzipiellen Widersprüche zwischen den Tendenzen der technischen Entwicklung und der ökonomischen Hülle der Gesellschaft geben.“ (Bucharin)

Das ist die offizielle sowjetrussische Ideologie von der Stellung Russlands zur Weltkrise. Russlands Bedeutung für die Weltrevolution behandelt Stalin in seiner letzten Rede vor dem ZK und ZKK der russischen kommunistischen Partei. Er sagt dort u. a.:

„Die Erfolge des Fünfjahrplanes mobilisieren die revolutionären Kräfte der Arbeiterklasse aller Länder gegen den Kapitalismus, und deshalb ist die internationale revolutionäre Bedeutung des Fünfjahrplans unermesslich. Die Ergebnisse des Fünfjahrplanes haben gezeigt, ... dass es durchaus möglich ist, die sozialistische Gesellschaft in einem einzigen Lande aufzubauen ..., dass das kapitalistische Wirtschaftssystem bankrott und brüchig ist, dass es sein Zeitalter bereits überlebt hat und den Platz einem anderen, höheren System, dem sozialistischen Sowjetsystem abtreten muss. Das einzige Wirtschaftssystem, das keine Krise zu fürchten hat und Schwierigkeiten zu überwinden in der Lage ist, die für den Kapitalismus unlösbar sind, das ist das Sowjet-Wirtschaftssystem. ... Endlich haben die Ergebnisse des Fünfjahrplanes gezeigt, dass die Partei unbesiegbar ist, wenn sie weiß, wohin die Wege führen.“

Wohin die Wege in Wirklichkeit führen, das hat Varga, der Konjunkturspezialist der Sowjetunion, bereits vor mehr als 10 Jahren gezeigt, als er noch revolutionärer Marxist war. In seinem Buch „Die wirtschaftspolitischen Probleme der proletarischen Diktatur“, 2. Auflage, Hamburg 1921, heißt es auf Seite 11:

„Eine allzu schwere Bürde wurde Russland auferlegt. Es ist die höchste Zeit, dass die internationale Revolution vorwärtsschreitet und der Isoliertheit Russlands ein Ende bereitet. ... Nicht nur im Interesse Russlands, nicht einmal in erster Linie in seinem Interesse; sein Proletariat kann infolge des Ausbleibens der internationalen Hilfe nicht zusammenbrechen, wie es mit dem kleinen Ungarn geschehen ist. Dagegen besteht die Gefahr einer Ausschaltung Russlands als Motor der internationalen Revolution. Denn es soll nicht verschwiegen werden: Es gibt in Russland Kommunisten, die, des langen Wartens auf die europäische Revolution überdrüssig .geworden, sich endgültig auf eine Isoliertheit Russlands einrichten wollen. Dies bedeutet: Friede mit den Imperialisten, regelmäßiger Güteraustausch mit den kapitalistischen Ländern und Konzessionen der verschiedensten Art: Aufgabe der Auslandspropaganda, wie es gewissen Forderungen der imperialistischen Mächte entsprechen würde. Auf diese Weise würde ein neuer Staatstypus entstehen, in dem auf dem Unterbau einer breiten Bauernmasse die Arbeiterklasse die Herrschaftsgewalt ausübt. Dieser Staat würde seinen Überfluss an Lebensmitteln und Rohprodukten gegen die Erzeugnisse der kapitalistischen Welt austauschen und in dieser Weise direkt zur Wiedererstarkung der kapitalistischen Ordnung beitragen. Diese Strömung kann stark werden, wenn das proletarische Russland noch länger isoliert bleibt. Mit einem Russland, welches die soziale Revolution der anderen Länder als eine ihm fremde Angelegenheit betrachten würde, welches sich friedlich in den kapitalistischen Güteraustausch einfügen wollte, würden die kapitalistischen Länder allerdings in friedlicher Nachbarschaft leben können. Es liegt mir fern zu glauben, dass eine solche Einkapselung des revolutionären Russlands den Gang der Weltrevolution aufhalten könnte. Aber sie würde ihn verlangsamen.“

Die Gegenüberstellung dieser Äußerungen zeigt die ganze Problematik, die sich bei Beurteilung der Sowjet-Union für die Kommunisten aller Länder ergibt, soweit sie nicht von einer starren Partei-Ideologie gehindert werden, offen und vorurteilslos an die Frage heranzugehen. Heute soll die Frage nur gestellt werden. Im übernächsten Heft werden wir sie ausführlich behandeln und zu beantworten versuchen. Wir fordern alle Leser auf, möglichst bald und kurz ihre Meinung hierzu zu formulieren und sie uns zu schicken, damit wir in dem Heft ganze Arbeit machen können.

Um eine gründliche Diskussion zu erleichtern, fassen wir die Fragestellung noch einmal zusammen:

Der sowjetrussische Standpunkt:

1. In der Sowjet-Union wird der Sozialismus aufgebaut.

2. Die Sowjet-Union bleibt von der Weltwirtschaftskrise unberührt.

3. Die Sowjet-Union verschärft die Krise der kapitalistischen Wirtschaft.

4. Die Sowjet-Union ist deshalb ein vorwärtstreibender Faktor für die Weltrevolution.

Unser Standpunkt:

1. Die sowjetrussische Wirtschaftsform ist Staatskapitalismus.

2. Im Staatskapitalismus sind die Krisenursachen ebensowenig aufgehoben, wie im monopolistischen Kapitalismus; denn sie sind mit dem Wesen des Kapitalismus gegeben. Schon zeigt sich die Krise in Form von Agrar- und Außenhandelskrise, die sich gegenseitig verschärfen (z. B. wertmäßiger Rückgang des Außenhandels 1932 um 40 Prozent).

3. Die Sowjet-Union verschafft den anderen kapitalistischen Ländern eine fühlbare Entlastung, verschärft also nicht die Weltkrise, sondern mildert sie noch (z. B. steht Russland mit 11,3 Prozent an erster Stelle des deutschen Exports). Die Sowjetunion ist in das Gefüge des internationalen Imperialismus eingebaut. In dieser Situation, in der große Massen der Proletarier fragend nach Sowjetrussland schauen, schließt Russland mit Frankreich und rund 20 imperialistischen Staaten Nichtangriffspakte ab und macht den kommunistischen Arbeitern den Vorschlag: Bündnis mit der Sozialdemokratie!

4. Die sowjetrussischen Behauptungen 1-3 sind utopisch und reaktionär. Der Aufbau des Staatskapitalismus in Russland ist ein hemmender Faktor für die Weltrevolution geworden.

Was hat Genosse Stalin dem Herrn Campbell, dem größten amerikanischen Agrarkapitalisten, zu sagen?

Genosse Stalin: „Was die Propaganda anbelangt, so muss ich ganz kategorisch erklären, dass kein einziger der Vertreter der Sowjetregierung befugt ist, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes, in dem er sich befindet - weder direkt noch indirekt - einzumischen. In dieser Beziehung sind unserem gesamten Angestelltenpersonal der Sowjetinstitutionen in den Vereinigten Staaten die strengsten und schärfsten Weisungen erteilt. Ich bin überzeugt, dass Bron und seine Mitarbeiter mit Propaganda, ganz gleich in welcher Form, nicht das geringste zu tun haben. Wollte irgend jemand von unseren Angestellten die strengen Weisungen betreffs der Nichteinmischung übertreten, so würde er unverzüglich abberufen und bestraft werden. Selbstverständlich können wir für die Handlungsweise unbekannter und uns nicht unterstellter Personen keine Verantwortung tragen. Doch in Bezug auf Personen, die in unseren ausländischen Institutionen angestellt sind, können wir die Verantwortung und weitestgehende Garantien betreffs Nichteinmischung geben.

Herr Campbell: Darf ich dies Herrn Hoover übermitteln?

Genosse Stalin: Gewiss.

Herr Campbell: Wir wissen nicht, wer jene Leute sind, die Unzufriedenheit säen. Aber solche sind vorhanden. Die Polizei ermittelt sie und ihre Literatur. Ich kenne Bron und bin überzeugt, dass er ein ehrlicher und offener Mann ist, der seine Sache ehrlich macht. Es gibt aber so manchen.

Genosse Stalin: Es ist möglich, dass in den Vereinigten Staaten von Mitgliedern der amerikanischen Kommunistischen Partei Propaganda für die Sowjets getrieben wird. Doch besteht diese Partei in den Vereinigten Staaten legal, sie beteiligt sich legal an den Präsidentschaftswahlen, sie stellt ihren Präsidentschaftskandidaten auf, und es ist ganz begreiflich, dass wir auch in diesem Fall uns nicht in ihre inneren Angelegenheiten einmischen können.“ (Inprekorr, 13. Jahrg. 1933, Nr. 2.)

Zugegeben: eine solche Unterhaltung verlangt diplomatische Ausdrucksweise. Aber wir fragen: Spricht so ein Führer der „ehernen Kohorte der Weltrevolution“ oder ist das nicht vielmehr die Sprache der Kapitalisten „unter Brüdern“?

 


Zuletzt aktualisiert am 28.05.2011