Clara Zetkin

 

Der genialste revolutionäre Realpolitiker

(24. Januar 1924)


Prawda (Moskau), Nr.19 vom 24. Januar 1924.
Clara Zetkin, Für die Sowjetmacht, Artikel, Reden und Briefe, Berlin 1977, S.339-343.
Kopiert mit Dank von der verschwundenen Webseite Marxistische Bubliothek.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In jener Zeit, da Karl Marx sein mächtiges Haupt für immer sinken ließ, schrieb Engels: „Die Menschheit ist um einen Kopf kürzer gemacht, und zwar um den bedeutendsten Kopf.“ Dieser Worte erinnert man sich jetzt beim Ableben Lenins, in dessen Person das revolutionäre Weltproletariat einen unersetzlichen Verlust erlitten hat. Wahrhaftig, die Menschheit ist um einen Kopf kürzer gemacht, und zwar um den bedeutendsten Kopf. Und man muß hinzufügen: Die Menschheit wurde um ein großes Herz ärmer. Lenin war nicht nur der führende Kopf, sondern auch das flammende Herz des revolutionären Rußlands, der entbrennenden Weltrevolution. Die Verbindung von Verstand und Herz war ein Grundzug, ein wesentlicher Bestandteil seiner herausragenden Größe. Neben einem scharfen, mächtigen Verstand schlug in ihm ein heißes Herz, dem kein menschliches Leid fremd war. Das fühlten die breiten Massen des Volkes, all die einfachen und ungebildeten Menschen, die mit feinem, instinktivem Empfinden Schein von Sein zu unterscheiden vermögen. Wenn sie Lenin eine ganz und gar außergewöhnliche Verehrung und Liebe entgegenbrachten, so war das nur der Widerhall seiner eigenen tiefen Liebe zu diesen Massen. Die gebildeten Leute – darunter auch seine Feinde – verneigen sich mit Respekt vor seinem genialen Verstand, dem Reichtum seines Wissens, vor der eisernen Kraft seines Willens. Das Volk verehrt ihn seines großen, gütigen Herzens wegen. Es liebte Lenin grenzenlos, weil es dessen grenzenlose Liebe fühlte. Gerade diese Liebe erzeugte in den Millionenmassen Sowjetrußlands und der ganzen Welt ein unerschütterliches Vertrauen zu dem treuesten und genialsten seiner Führer. Das Lebenswerk Lenins als des Führers der russischen proletarischen Revolution, als des Führers der Weltrevolution hat nicht seinesgleichen in der Geschichte. Es ist aus einem Stück wie ein Monolith. Es vollendete sich, als es den höchsten Gipfel erreicht hatte. Lenin war keineswegs in dem Sinne der genialste Schüler von Marx, daß er marxistische Formeln nachbetete, sondern im besten Sinne des Wortes, im Sinne der progressiven und schöpferischen Entwicklung der Marxschen Ideen.

Lenin war der größte Marxist der Tat. Bei ihm verwandelte sich der aus überragendem Talent und gründlichem, sorgfältigem Studium geborene Gedanke in Willen, und der Wille, gelenkt von dem sich rasch orientierenden gesunden Verstand, leitete die Menschen, formte die Ereignisse, „machte Geschichte“. Der Führer der großen russischen Revolution, Lenin, war zugleich ihr Kind; er wuchs und erstarkte gemeinsam mit ihr in dem Bestreben, der Revolution ihre großen Ziele zu weisen. So ging er im festen, unerschütterlichen Glauben an die revolutionäre Kraft der Arbeiter- und Bauernmassen allen voran zur Eroberung der Staatsmacht. So gelang ihm auch das schwere Werk, den proletarischen Staat vor dem wütenden Ansturm der Feinde zu verteidigen und die ersten schwierigsten, opferreichen Schritte zur Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft zu tun. Mehr als irgend jemand sah und verstand er die ungeheure historische Tragik der proletarischen Revolution in Rußland, die im Widerspruch zwischen dem leidenschaftlichen revolutionären Willen zum Kommunismus und den zurückgebliebenen objektiven Bedingungen besteht. Er sah die rauhe und erbarmungslose Wirklichkeit ebenso klar, wie er das große Ideal des Kommunismus niemals aus dem Auge ließ. Er war der größte, genialste revolutionäre Realpolitiker aller Länder und Zeiten.

Lenin war zutiefst davon überzeugt, daß die proletarische Revolution in Rußland vom Beginn des Kommunismus kündet, daß jedoch ihre gewaltige Aufgabe, die Welt zu verändern, nicht im nationalen Rahmen, sondern endgültig nur durch die Weltrevolution zu lösen ist. Ihm sind wir vor allem als dem Begründer der Kommunistischen Internationale verpflichtet. Er lenkte mit so fester, aber auch so kluger Hand dieses Schiff durch die gefährliche Übergangsperiode, als die erste gewaltige Woge der Revolution zurückprallte und die folgende noch nicht sichtbar war. Alle Zweige und Formen der Arbeiterbewegung, alle Gebiete der kommunistischen Arbeit wertete er danach, welche Bedeutung sie als Resultat des vorwärtsdrängenden geschichtlichen Lebens der Arbeiterklasse hatten, als Elemente, die zur Schwächung der Bourgeoisie und zur Stärkung der Kampfkraft des Proletariats beitrugen. In den Genossenschaften und Gewerkschaften, in den Jugend- und Frauenorganisationen und besonders in der Aufklärungs- und Bildungsarbeit spürte er den Atem des neuen Lebens, die feurig und stürmisch hervorbrechende Sehnsucht von Millionen: Zum Licht – aus eigener Kraft! Die Historiker und Biographen werden über Lenin und sein Werk viele dicke, gelehrte und herrliche Bücher schreiben. Jedoch, wie sie ihn und sein Werk auch rühmen mögen,es wird noch zu wenig sein. Können wir, die wir ihn kannten und liebten, denn in dieser ersten bitteren Stunde der Trennung auch nur flüchtig andeuten, was er war und was er uns allen, dem Proletariat, den Ausgebeuteten und Geknechteten der ganzen Welt gegeben hat, geschweige denn es erschöpfend behandeln? Uns bedrückt das Bewußtsein eines unersetzlichen Verlustes. Gewiß, die qualvolle Zeit der langen Krankheit unseres teuren Lehrers zwang und lehrte uns, ohne ihn den von ihm markierten Weg zu gehen, im Geiste seiner Hinweise zu handeln. Allein, er lebte noch; wir konnten noch auf seine Genesung hoffen. Er mußte zurückkehren, dieser zuverlässige und genialste, alle um Haupteslänge überragende, dieser uns so nötige, so unersetzliche geniale Führer! Kann denn solch ein Herz stillstehen? Kann denn solch ein hervorragender Geist aufhören zu leuchten? Kann denn sein eiserner Wille erlöschen? Uns ist Lenin nicht gestorben. Auch im Tode ist er für uns lebendig, er wird immer lebendig bleiben, immer, immer der unsterbliche Führer und Lehrer sein, das große Vorbild unseres Lebens und Handelns. Die Sonne hat sich für uns gleichsam verdunkelt mit dem Tod dessen, was vergänglich an unserem großen Führer war. Diese Sonne wird sieghaft erstrahlen, wenn mit der Weltrevolution das Unsterbliche in Lenin triumphiert. Um Lenin trauern bedeutet nicht, zu klagen und zu zaudern. Ihm geziemt nur ein Denkmal: der energischste, entschlossenste Kampf für den Sieg der Weltrevolution. Die Leninsche Idee muß sich in Massenbewußtsein verwandeln, sein Wille – in Massenwillen, sein revolutionärer Kampf gegen alle die Menschheit fesselnden Kräfte – in revolutionären Massenkampf. Allein die Weltrevolution wird die Lenin würdige Ehrung sein.


Zuletzt aktualisiert am 19.7.2008