Clara Zetkin

 

Der Kampf gegen den Faschismus

Bericht auf dem Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale

(20. Juni 1923)


Protokoll der Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, 12.-23. Juni 1923, Hamburg 1923, S.204-232.
Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd.2, Berlin 1960, S.689-729.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das Proletariat hat im Faschismus einen außerordentlich gefährlichen und furchtbaren Feind vor sich. Der Faschismus ist der stärkste, der konzentrierteste, er ist der klassische Ausdruck der Generaloffensive der Weltbourgeoisie in diesem Augenblick. Ihn niederzuringen ist eine elementare Notwendigkeit. Das aber nicht nur im Hinblick auf die historische Existenz des Proletariats als Klasse, die mit der Überwindung des Kapitalismus die Menschheit befreien muß; es ist auch eine Frage der Existenz jedes schlichten Proletariers, eine Frage des Brotes, der Arbeitsbedingungen und der Lebensgestaltung für Millionen und Millionen von Ausgebeuteten. Deshalb muß der Kampf gegen den Faschismus Sache des ganzen Proletariats sein. Es liegt auf der Hand, daß wir diesen tückischen Feind um so eher überwinden, je klarer und schärfer wir sein Wesen und die Auswirkungen seines Wesens erkennen. Bis jetzt ist reichliche Unklarheit über den Faschismus vorhanden gewesen. Nicht nur in den breiten Massen der Proletarier, sondern auch innerhalb ihrer revolutionären Vorhut, unter den Kommunisten. Die Meinung wurde vertreten und war früher wohl vorherrschend, daß der Faschismus nichts sei als gewalttätiger bürgerlicher Terror, und er wurde geschichtlich seinem Wesen und seiner Wirkung nach auf eine Stufe mit dem weißen Schrecken in Horthy-Ungarn gestellt. Aber obgleich die blutigen terroristischen Methoden des Faschismus und des Horthy-Regimes die gleichen sind und sich gleicherweise gegen das Proletariat kehren, ist das geschichtliche Wesen der beiden Erscheinungen außerordentlich verschieden. Der Terror in Ungarn setzte nach einem siegreichen, wenn auch kurzen revolutionären Kampfe des Proletariats ein; die Bourgeoisie hatte vorübergehend vor der Macht des Proletariats gezittert. Der Horthy-Terror kam als Rache gegen die Revolution. Der Vollstrecker dieses Racheaktes ist die kleine Kaste der feudalen Offiziere.

Anders ist es beim Faschismus. Er ist keineswegs die Rache der Bourgeoisie dafür, daß das Proletariat sich kämpfend erhob. Historisch, objektiv betrachtet, kommt der Faschismus vielmehr als Strafe, weil das Proletariat nicht die Revolution, die in Rußland eingeleitet worden ist, weitergeführt und weitergetrieben hat. Und der Träger des Faschismus ist nicht eine kleine Kaste, sondern es sind breite soziale Schichten, große Massen, die selbst bis in das Proletariat hineinreichen. Über diese wesentlichen Unterschiede müssen wir uns klar sein, wenn wir mit dem Faschismus fertig werden wollen. Wir werden ihn nicht auf militärischem Wege allein überwinden – um diesen Ausdruck zu gebrauchen –, wir müssen ihn auch politisch und ideologisch niederringen.

Obgleich die Auffassung, daß der Faschismus bloßer bürgerlicher Terror sei, auch von radikalen Elementen unserer Bewegung vertreten wird, berührt sie sich zum Teil mit der Auffassung der reformistischen Sozialdemokraten. Für sie ist der Faschismus nichts als Terror, Gewalt, und zwar bourgeoiser Reflex der Gewalt, die von seiten des Proletariats gegen die bürgerliche Gesellschaft ausgegangen ist oder die ihr angedroht wird. Für die Herren Reformisten spielt die russische Revolution dieselbe Rolle wie für die Bibelgläubigen der Apfelbiß im Paradies. Sie ist der Ausgangspunkt aller terroristischer Erscheinungen der Gegenwart. Als ob kein imperialistischer Raubkrieg gewesen wäre und keine Klassendiktatur der Bourgeoisie existierte! So ist auch der Faschismus für die Reformisten die Auswirkung des revolutionären Sündenfalls des russischen Proletariats. Es war kein Geringerer als Otto Bauer, der in Hamburg die Auffassung vertreten hat, daß die russischen Kommunisten und ihre Gesinnungsgenossen eine ganz besondere Verantwortung für die gegenwärtige Weltreaktion der Bourgeoisie und den Faschismus tragen. Sie haben zur Spaltung der Parteien und Gewerkschaften getrieben. Otto Bauer vergaß bei dieser kühnen Behauptung, daß die höchst harmlosen Unabhängigen sich noch vor der russischen Revolution und ihrem „sittenverderbenden“ Beispiel von den Sozialdemokraten abgespalten haben. Er erklärte weiter, an der Weltreaktion, die im Faschismus gipfelt, sei auch schuld, daß die russische Revolution das menschewistische Paradies in Georgien und Armenien zerstört habe. Als dritte Ursache der Weltreaktion sah er den „bolschewistischen Terror“ überhaupt an.

In seinen Ausführungen mußte er allerdings dieses anerkennen: „In Mitteleuropa sind wir heute gezwungen, den Gewaltorganisationen des Faschismus Abwehrorganisationen des Proletariats gegenüberzustellen. Denn kein Appell an die Demokratie kann gegen die direkte Gewalt ausreichen.“ [1]

Man sollte meinen, daß man aus dieser Feststellung die Schlußfolgerung ziehen müßte: Also antworten wir mit Gewalt auf Gewalt. Eine reformistische Logik geht aber ihre eigenen Wege, unerforschlich wie die Wege der himmlischen Vorsehung. Otto Bauer spinnt seinen Gedanken später so fort: „Ich spreche hier nicht von allzu großen Dingen, die nicht immer und nicht überall durchgeführt werden können ..., nicht von Insurrektionen, nicht einmal vom Generalstreik ... Die Kooperation der parlamentarischen Aktionen und der Massenaktionen außerhalb des Parlaments bietet aussichtsreiche Möglichkeiten.“ [2]

Herr Otto Bauer offenbart uns dabei nicht das Geheimnis seines keuschen politischen Busens, welcher Art die politischen Aktionen im Parlament und erst recht außerhalb des Parlaments sein sollen. Es gibt Aktionen und Aktionen. Es gibt parlamentarische Aktionen und Massenaktionen, die von unserem Standpunkte aus bürgerlicher Dreck sind – erlauben Sie diesen Ausdruck. Andererseits kann eine Aktion innerhalb oder außerhalb des Parlaments einen revolutionären Charakter tragen. Otto Bauer hat sich über den Charakter der reformistischen Aktionen ausgeschwiegen. Und so ist das Ergebnis seiner Ausführungen über den Kampf gegen die Weltreaktion ein sehr eigenartiges. Es entpuppt sich als ein internationales Informationsbüro, das über die Weltreaktion genau berichtet. Bauer erklärte, der Kongreß werde vielfach mit Skepsis betrachtet. Falls es nicht verstanden werde, ein Nachrichtenbüro zu errichten zur Versorgung mit dem nötigen Material über die Reaktion, so wäre diese Skepsis gerechtfertigt.

Was steckt hinter der ganzen Auffassung? Der reformistische Glaube an die Stärke, die Unerschütterlichkeit der kapitalistischen Ordnung, der bürgerlichen Klassenherrschaft und das Mißtrauen, der Kleinmut gegenüber dem Proletariat als bewußtem, unwiderstehlichem Faktor der Weltrevolution.

Die Reformisten sehen im Faschismus den Ausdruck der Unerschütterlichkeit, der alles übertreffenden Kraft und Stärke der bourgeoisen Klassenherrschaft, der das Proletariat nicht gewachsen ist, gegen die den Kampf aufzunehmen vermessen und vergeblich ist. Es bleibt ihm so nichts anderes übrig, als still und bescheiden zur Seite zu treten, den Tiger oder Löwen der bürgerlichen Klassenherrschaft ja nicht durch den Kampf für seine Befreiung, für seine Diktatur zu reizen, kurz, auf Gegenwart und Zukunft zu verzichten und geduldig abzuwarten, ob man auf dem Wege der Demokratie und Reform ein weniges vorwärtskommen könne.

Ich bin entgegengesetzter Ansicht und alle Kommunisten wohl mit mir. Nämlich, daß der Faschismus, mag er sich noch so kraftmeierisch gebärden, ein Ausfluß der Zerrüttung und des Zerfalls der kapitalistischen Wirtschaft und ein Symptom der Auflösung des bürgerlichen Staates ist. Nur wenn wir verstehen, daß der Faschismus eine zündende, mitreißende Wirkung auf breite soziale Massen ausübt, die die frühere Existenzsicherheit und damit häufig den Glauben an die Ordnung von heute schon verloren haben, werden wir ihn bekämpfen können. Die eine Wurzel des Faschismus ist in der Tat die Auflösung der kapitalistischen Wirtschaft und des bürgerlichen Staates. Wir finden schon Symptome für die Proletarisierung bürgerlicher Schichten durch den Kapitalismus in der Vorkriegszeit. Der Krieg hat die kapitalistische Wirtschaft in ihren Tiefen zerrüttet. Das zeigt sich nicht nur in der ungeheuerlichen Verelendung des Proletariats, sondern ebensosehr in der Proletarisierung breitester klein- und mittelbürgerlicher Massen, in dem Notstand des Kleinbauerntums und in dem grauen Elend der Intelligenz. Die Notlage der Intellektuellen ist um so größer, als in der Vorkriegszeit der Kapitalismus sich angelegen sein ließ, davon eine Überproduktion herbeizuführen. Die Kapitalisten schufen auch auf dem Gebiete der Kopfarbeit ein Massenangebot von Arbeitskräften, um damit Schmutzkonkurrenz zu entfesseln und die Löhne, pardon Gehälter, zu drücken. Gerade aus diesen Kreisen rekrutierten der Imperialismus und der imperialistische Weltkrieg viele ihrer ideologischen Vorkämpfer. Augenblicklich erleben all diese Schichten den Bankrott ihrer Hoffnungen auf den Krieg. Ihre Lage hat sich außerordentlich verschlechtert. Schlimmer als alles lastet auf ihnen das Fehlen der Existenzsicherheit, die sie in der Vorkriegszeit noch hatten.

Ich komme zu dieser Auffassung nicht auf Grund der Verhältnisse in Deutschland, wo sich zumal die bürgerlichen Intellektuellen in einem Notstande befinden, der nicht selten größer ist als das Elend der Arbeiter. Nein, gehen Sie nach Italien! Ich werde darauf noch zu sprechen kommen, daß die Zerrüttung der Wirtschaft auch dort maßgebend dafür gewesen ist, daß sich soziale Massen dem Faschismus angeschlossen haben.

Betrachten wir ein anderes Land, das im Verhältnis zu anderen europäischen Staaten aus dem Weltkriege nicht stark erschüttert hervorgegangen ist: England. In England ist heute in der Presse und im öffentlichen Leben ebensoviel von dem Elend der vielen „neuen Armen“ die Rede wie von dem riesigen Luxus und Gewinn der wenigen „neuen Reichen“. In Amerika kündet die Farmerbewegung die steigende Notlage einer großen sozialen Schicht. In allen Ländern hat sich die Lage der Mittelschichten erheblich verschlechtert. Die Verschlechterung geht in manchen Staaten bis zur Zerreibung, zur Vernichtung dieser sozialen Schichten. In der Folge sind Tausende und Tausende vorhanden, die nach neuen Lebensmöglichkeiten, nach gesichertem Brot, nach sozialer Stellung suchen. Ihre Zahl vermehrt sich durch kleine und mittlere Beamte des Staates, der öffentlichen Dienste. Zu ihnen gesellen sich – auch in den Siegerstaaten – Offiziere, Unteroffiziere usw., die berufslos und erwerbslos geworden sind. Soziale Elemente dieser Art stellen dem Faschismus ebenfalls ein stattliches Kontingent, ein Kontingent, das besonders dafür ausschlaggebend ist, daß dieser in manchen Ländern einen ausgesprochen monarchistischen Charakter trägt. Aber wir würden das Wesen des Faschismus nicht voll erfassen, wenn wir seine Entwicklung lediglich aus dieser einen Ursache heraus betrachteten, die durch die Finanzsituation der Staaten und ihre schwindende Autorität nicht wenig verstärkt wird.

Der Faschismus hat noch eine andere Wurzel: Es ist das Stocken, der schleppende Gang der Weltrevolution infolge des Verrates der reformistischen Führer der Arbeiterbewegung. Ein großer Teil der proletarisierten oder von der Proletarisierung bedrohten klein- und mittelbürgerlichen Schichten, der Beamten, bürgerlichen Intellektuellen hatte die Kriegspsychologie durch eine gewisse Sympathie für den reformistischen Sozialismus ersetzt. Sie erhofften vom reformistischen Sozialismus dank der „Demokratie“ eine Weltwende. Diese Erwartungen sind bitter enttäuscht worden. Die Reformsozialisten treiben eine sanfte Koalitionspolitik, deren Kosten zusammen mit den Proletariern und Angestellten die Beamten, Intellektuellen, Klein- und Mittelbürger jeder Art zahlen. Diese Schichten entbehren im allgemeinen der theoretischen, geschichtlichen, politischen Schulung. Ihre Sympathie für den Reformsozialismus war nicht tief verwurzelt. So kam es, daß sie nicht bloß den Glauben an die reformistischen Führer verloren, sondern an den Sozialismus selbst. „Uns ist von den Sozialisten versprochen worden eine Erleichterung unserer Lasten und Leiden, allerhand Schönes, eine Neugestaltung der Gesellschaft nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Demokratie“, so erklärten sie. „Aber die ganz Großen und Reichen wirtschaften und herrschen noch härter weiter als bisher.“ Zu den vom Sozialismus enttäuschten Bürgerlichen stoßen auch proletarische Elemente. Und alle diese Enttäuschten – mögen sie bürgerlicher oder proletarischer Herkunft sein – gehen noch einer wertvollen seelischen Kraft verlustig, die hoffnungsfreudig aus der düsteren Gegenwart in eine lichte Zukunft blicken läßt. Es ist das Vertrauen auf das Proletariat als die gesellschaftsumwälzende Klasse. Daß die reformistischen Führer es verraten, wiegt für die Einstellung der enttäuschten Elemente nicht so schwer wie die andere Tatsache, nämlich, daß die proletarischen Massen den Verrat dulden, daß sie das kapitalistische Joch ohne Auflehnung kampflos weitertragen, ja, sich mit härterer Pein abfinden als zuvor.

Übrigens, um gerecht zu sein, muß ich hinzufügen, daß auch die kommunistischen Parteien – wenn ich von Rußland absehe – nicht ohne Schuld daran sind, daß es im Proletariat Enttäuschte gibt, die sich dem Faschismus in die Arme werfen. Ihre Aktionen sind oft genug nicht kraftvoll genug gewesen, ihre Aktivität nicht ausreichend, und sie erfaßten nicht tief, nicht stark genug die Massen. Ich sehe von Fehlern der Taktik ab, die Niederlagen brachten. Kein Zweifel, daß gerade manche der aktivsten, energischsten revolutionär gesinnten Proletarier nicht den Weg zu uns gefunden haben oder auf diesem Wege umgekehrt sind, weil wir ihrer Empfindung nach nicht tatkräftig, nicht aggressiv genug aufgetreten sind und weil wir nicht verstanden haben, ihnen genügend klar zum Bewußtsein zu bringen, weshalb wir unter Umständen auch eine gerechtfertigte unfreiwillige Zurückhaltung üben mußten.

Tausendköpfige Massen strömten dem Faschismus zu. Er wurde ein Asyl für politisch Obdachlose, für sozial Entwurzelte, für Existenzlose und Enttäuschte. Und was sie alle nicht erhofften von der revolutionären Klasse des Proletariats und vom Sozialismus, das erhoffen sie als Werk der tüchtigsten, stärksten, entschlossensten, kühnsten Elemente“ aller Klassen, die zu einer Gemeinschaft zusammengefaßt werden müssen. Diese Gemeinschaft ist für die Faschisten die Nation. Sie wähnen, daß der ernste Wille, sozial ein Neues, Besseres zu schaffen, machtvoll genug sei, alle Klassengegensätze zu überbrücken, Das Mittel für die Verwirklichung des faschistischen Ideals ist ihnen der Staat. Ein starker, ein autoritärer Staat, der gleichzeitig ihr ureigenstes Geschöpf und ihr williges Werkzeug sein soll.

Hoch über allen Parteiunterschieden und Klassengegensätzen wird er thronen und die soziale Welt nach ihrer Ideologie, ihrem Programm gestalten.

Es liegt auf der Hand, daß nach der sozialen Zusammensetzung seiner Truppen der Faschismus auch Elemente einschließt, die der bürgerlichen Gesellschaft außerordentlich unbequem, ja gefährlich werden können. Ich gehe weiter, ich behaupte, die der bürgerlichen Gesellschaft gefährlich werden müssen, wenn sie ihr ureigenes Interesse verstehen. In der Tat! Ist dies der Fall, so müssen sie das ihrige dazu beitragen, daß die bürgerliche Gesellschaft so bald als möglich zerschmettert und der Kommunismus verwirklicht wird. Aber die Tatsachen haben trotzdem bis jetzt bewiesen, daß die revolutionären Elemente im Faschismus von den reaktionären Elementen überflügelt und gefesselt worden sind. Es wiederholt sich eine analoge Erscheinung zu anderen Revolutionen. Die kleinbürgerlichen und mittleren Schichten der Gesellschaft schwanken zuerst zwischen den gewaltigen historischen Heerlagern des Proletariats und der Bourgeoisie unschlüssig hin und her. Die Nöte ihres Lebens, zum Teil auch die beste Sehnsucht, die höchsten Ideale ihrer Seele lassen sie mit dem Proletariat sympathisieren, solange dieses nicht nur revolutionär vorgeht, sondern Aussichten auf den Sieg zu haben scheint. Gezwungen von den Massen und ihren Bedürfnissen, müssen unter dem Einflusse dieser Situation sogar die faschistischen Führer mit dem revolutionären Proletariat wenigstens kokettieren – wenn sie auch innerlich nicht mit ihm sympathisieren. Aber sobald sich zeigt, daß das Proletariat selbst darauf verzichtet, die Revolution weiterzuführen, daß es unter dem Einfluß der reformistischen Führer revolutionsscheu und kapitalistenfromm vom Kampfplatz zurücktritt, haben sich die breiten Massen der Faschisten dahin geschlagen, wo die meisten ihrer Führer von Anfang an – bewußt oder unbewußt – standen: auf die Seite der Bourgeoisie.

Die Bourgeoisie begrüßt selbstverständlich die neuen Bundesgenossen mit Freude. Sie erblickt in ihnen einen starken Machtzuwachs, einen in ihrem Dienste zu allem entschlossenen Gewalthaufen. Die herrschgewohnte Bourgeoisie ist leider in der Beurteilung der Lage und in der Verfechtung ihrer Klasseninteressen bei weitem klüger und erfahrener als das jochgewohnte Proletariat. Sie hat von Anfang an die Situation sehr klar erfaßt und damit den Vorteil, den sie aus dem Faschismus zu ziehen vermag. Was will die Bourgeoisie? Sie erstrebt den Wiederaufbau der kapitalistischen Wirtschaft, das heißt die Erhaltung ihrer Klassenherrschaft. Unter den gegebenen Umständen hat die Verwirklichung ihres Zieles eine erhebliche Steigerung und Verschärfung der Ausbeutung und Unterdrückung des Proletariats zur Voraussetzung. Die Bourgeoisie weiß sehr wohl, daß sie allein nicht über die Machtmittel verfügt, um den Ausgebeuteten solches Los aufzuzwingen. Mit den Skorpionen des hereinbrechenden Elends gezüchtigt, fangen zuletzt auch die dickfelligsten Proletarier an, gegen den Kapitalismus zu rebellieren. Die Bourgeoisie muß sich sagen, daß unter diesen Verhältnissen auf die Dauer auch die milde, burgfriedliche Predigt der Reformsozialisten ihre einschläfernde Wirkung auf das Proletariat verlieren wird. Sie rechnet damit, daß sie das Proletariat nur noch mit Hilfe von Gewaltmitteln unterwerfen und ausbeuten kann. Aber die Machtmittel des bürgerlichen Staates beginnen teilweise zu versagen. Er büßt immer mehr die Finanzkraft und die moralische Autorität ein, seine spezifischen Sklaven in blinder Treue und Unterwürfigkeit zu binden. Die Bourgeoisie kann die Sicherheit ihrer Klassenherrschaft nicht mehr von den regulären Machtmitteln ihres Staates allein erwarten. Sie braucht dafür eine außerlegale, außerstaatliche Machtorganisation. Eine solche wird ihr gestellt durch den bunt zusammengewürfelten Gewalthaufen des Faschismus. Deshalb nimmt die Bourgeoisie nicht nur mit Kußhand die Dienste des Faschismus an und gewährt ihm weiteste Bewegungsfreiheit im Gegensatz zu all ihren geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen. Sie geht weiter, sie nährt und erhält ihn und fördert seine Entwicklung mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln des Geldschranks und der politischen Macht.

Es liegt auf der Hand, daß der Faschismus in den einzelnen Ländern verschiedene Charakterzüge trägt, je nach den vorliegenden konkreten Verhältnissen. Jedoch zwei Wesenszüge sind ihm in allen Ländern eigen: ein scheinrevolutionäres Programm, das außerordentlich geschickt an die Stimmungen, Interessen und Forderungen breitester sozialer Massen anknüpft, dazu die Anwendung des brutalsten, gewalttätigsten Terrors.

Das klassische Beispiel für die Entwicklung und das Wesen des Faschismus ist bis heute Italien. In Italien hat der Faschismus seinen Nährboden gefunden in der Zersetzung und Schwäche der Wirtschaft. Das scheint nicht zutreffend, weil ja Italien zu den Siegerstaaten gehört. Nichtsdestoweniger hatte der Krieg auch Italiens Wirtschaft aufs schwerste getroffen. Die Bourgeoisie war als Siegerin, jedoch geschlagen, aus ihm zurückgekehrt. Dafür war die wirtschaftliche Struktur und Entwicklung des Landes bestimmend. Nur in Norditalien war ein moderner Industriekapitalismus emporgekommen. In Mittelitalien und erst recht in Süditalien herrschte das Agrarkapital zum Teil noch unter feudalen Verhältnissen, mit ihm verbündet ein Finanzkapitalismus, der nicht die Höhe moderner Entfaltung und Bedeutung erklommen hatte. Beide waren nicht imperialistisch eingestellt, waten kriegsfeindlich und hatten von dem Völkermorden nichts oder nur wenig profitiert. Die nichtkapitalistische Bauernschaft hatte unter ihm furchtbar gelitten und mit ihr das städtische Kleinbürgertum und Proletariat. Wohl haben die Kapitalisten der norditalienischen künstlich aufgepäppelten Schwerindustrie fabelhafte Profite eingesäckelt. Da jedoch diese Industrie nicht bodenständig war – Italien hat weder Kohle noch Erz –, so welkte ihre Blüte bald dahin.

Alle schlimmen Auswirkungen des Krieges brachen über Italiens Wirtschaft und Staatsfinanzen herein. Eine furchtbare Krise entwickelte sich. Industrie, Handwerk und Handel stockten, Bankrott folgte auf Bankrott, die „Banca di Sconto“ und die „Ansaldowerke“ – Schöpfungen des Imperialismus und des Krieges – krachten zusammen. Der Krieg hinterließ Hunderttausende Beschäftigung- und Brotsuchender, Hunderttausende versorgungsbedürftiger Krüppel, Witwen und Waisen. Die Krise vermehrte das Heer der Arbeit und Posten heischenden Heimkehrer durch Scharen von entlassenen Arbeitern, Arbeiterinnen und Angestellten. Eine riesige Elendswelle flutete über Italien und erreichte in der Zeit vom Sommer 1920 bis zum Frühjahr 1921 ihren Höhepunkt. Die norditalienische Industriebourgeoisie – die gewissenloseste Kriegshetzerin – war außerstande, die ruinierte Wirtschaft aufzurichten; sie verfügte nicht über die politische Macht, den Staat für ihre Zwecke zu mobilisieren. Die Regierung war aus ihrer Hand wieder an die Agrar- und Finanzkapitalisten unter Giolittis Führung zurückgefallen. Allein, auch wenn dem nicht so gewesen wäre, würde der in allen Fugen krachende Staat nicht über die Mittel und Möglichkeiten verfügt haben, Krise und Elend zu beschwören.

Dank dieser Situation und Schritt für Schritt mit ihr konnte der Faschismus in die Halme schießen. In der Person Mussolinis wartete der prädestinierte Führer auf ihn. Mussolini war im Herbst 1914 Renegat des pazifistischen Sozialismus und mit der Losung: „Krieg oder Republik“ fanatischster Kriegstreiber geworden. In einem mit Ententegeld gegründeten Tageblatt, Popolo d’Italia, hatte er dem schaffenden Volk als Frucht des Krieges das Himmelreich auf Erden versprochen. Mit der industriellen Bourgeoisie zusammen war er durch das Blutmeer des Weltkrieges gewatet, mit ihr zusammen wollte er Italien zu einem modernen Kapitalistenstaat gestalten. Mussolini mußte Massen zu sammeln suchen, um handelnd, aktiv in die Situation einzugreifen, die seinen Prophezeiungen ins Gesicht schlug, die seinem Ziel widersprach. Nach dem Kriege, 1919, gründete er in Mailand den ersten „fascio di combattimento“, Verein von Frontkämpfern, mit dem Programm, die Existenz, das Auf- blühen der Nation zu sichern, den „Helden der Schützengräben und den Werktätigen die revolutionären Früchte des revolutionären Krieges zu sichern“. In einigen Städten entstanden Fasci. Die junge Bewegung führte von Anfang an einen erbitterten Kampf gegen die revolutionären Arbeiterorganisationen, weil diese nach Mussolinis Behauptung durch die Vertretung des Klassenkampfstandpunktes „die Nation spalteten und schwächten“. Der Faschismus kehrte seine Speere auch gegen die Regierung Giolitti, die er mit der ganzen Verantwortung für das schwarze Elend der Nachkriegszeit belud. Seine Entwicklung war zunächst langsam und schwach. Noch stemmte sich ihm das Vertrauen breiter Volksmassen zum Sozialismus entgegen. Im Mai 1920 gab es in ganz Italien erst gegen 100 Fasci, von denen kein Verein mehr als 20 bis 30 Mitglieder zählte.

Bald konnte der Faschismus aus einer zweiten Hauptwurzel Nahrung und Kraft saugen. Die objektiv revolutionäre Lage ließ im italienischen Proletariat eine revolutionäre Stimmung entstehen. Das glorreiche Beispiel der russischen Arbeiter und Bauern war von starkem Einfluß darauf. Im Sommer 1920 kam es zur Fabrikbesetzung durch die Metallarbeiter. Hier und da, bis nach Süditalien, besetzten landwirtschaftliche Proletarier, Kleinbauern und Kleinpächter Güter oder lehnten sich in anderer Form gegen die großen Agrarier auf. Aber die große geschichtliche Stunde fand in den Arbeiterführern ein kleines Geschlecht. Die reformistischen Führer der Sozialistischen Partei schreckten revolutionsfeig davor zurück, die Fabrikbesetzung zum politischen Machtkampf auszuweiten. Sie drängten den Kampf der Arbeiter in das enge Bett einer nichts als wirtschaftlichen Bewegung, deren Führung Sache der Gewerkschaften sei, und verrieten in Seelenharmonie mit d’Aragona und anderen Autoritäten des Allgemeinen Gewerkschaftsverbandes die rebellierenden Lohnsklaven in einem schmählichen Kompromiß mit den Unternehmern, das unter hervorragender Mitwirkung der Regierung, insbesondere Giolittis, zustande kam. Die Führer des linken Flügels der Sozialistischen Partei – aus dem sich später die Kommunistische Partei herauskristallisierte – waren politisch noch zuwenig erfahren und geschult, um die Situation gedanklich und praktisch zu meistern und den Dingen eine andere Wendung zu geben. Gleichzeitig erwies sich die Unfähigkeit der proletarischen Massen, über die Führer hinauszugehen und sie vorwärtszutreiben in der Richtung der Revolution.

Die Fabrikbesetzung endete mit einer schweren Niederlage des Proletariats, die Entmutigung, Zweifel, Kleinmütigkeit in dessen Reihen trug. Tausende Arbeiter kehrten den Partei- und Gewerkschaftsorganisationen den Rücken. Viele von ihnen sanken in Gleichgültigkeit und Stumpfsinn zurück, andere schlossen sich bürgerlichen Vereinigungen an. Der Faschismus gewann unter den Enttäuschten eine wachsende Anhängerschaft wie auch unter dem Kleinbürgertum der Städte und der bürgerlichen Bevölkerung. Er hatte ideologisch und politisch über die reformistisch verseuchte Arbeiterschaft gesiegt. Im Februar 1921 zählte man rund 1.000 Fasci. Der Faschismus gewann Massen durch scheinrevolutionäre Forderungen, die er in einer skrupellos demagogischen Agitation verfocht. Sein geschwollener Wortradikalismus wendete sich vor allem gegen die Regierung Giolittis, des „Verräters der Nation“. Gegen den zweiten „Feind“, die internationalen „vaterlandsfeindlichen“ Arbeiterorganisationen, zog der Faschismus dagegen mit Feuer und Schwert zu Felde. Mussolini forderte – seiner republikanischen, antimonarchistischen und imperialistischen Einstellung gemäß – die Absetzung der Dynastie und die Enthauptung Giolittis im buchstäblichen Sinne. Seine Gefolgschaft begann, die „antinationalen“, das heißt die klassenbewußten Arbeiterorganisationen mit aktivem, blutigem Terror zu „züchtigen“. Im Frühjahr 1921 erfolgten die ersten faschistischen „Strafexpeditionen“. Sie trafen die Landproletarier, deren Organisationssitze verwüstet und verbrannt, deren Führer ermordet wurden. Erst später dehnte sich der faschistische Terror auch auf die Proletarier der großen Städte aus. Die Staatsgewalten ließen gewähren und geschehen, ohne Rücksicht auf Recht und Gesetz. Die Bourgeoisie, ob industriell oder agrarisch, begönnerte offen den terroristischen Faschismus und unterstützte ihn mit Geld und anderen Mitteln. Trotz der Niederlage der Arbeiter bei der Fabrikbesetzung fürchtete sie die künftige Machterstarkung des Proletariats. Bei den Gemeinderatswahlen hatten die Sozialisten ungefähr ein Drittel der 8.000 Kommunalverwaltungen erobert. Es galt, vorzubeugen.

Gewiß! Die Regierung hätte damals Gründe und Machtmittel gehabt, um den Faschismus, der ihr bedrohlich auf den Leib zu rücken schien, mit Gewalt niederzuschlagen. Aber das wäre in der obwaltenden Lage auf eine Stärkung der Arbeiterbewegung hinausgelaufen. Lieber Faschisten als Sozialisten, Revolutionäre, dachte Giolitti. Der alte, schlaue Fuchs löste die Kammer auf und schrieb für Mai 1921 Neuwahlen aus. Er gründete einen „Ordnungsblock“ aller bürgerlichen Parteien und nahm die faschistischen Organisationen in diesen auf. Dem Faschismus gingen während der Wahlkampagne die wilden, republikanischen Locken aus. Die antidynastische und antimonarchistische Agitation verstummte in dem Maße, wie sieh ihm agrarische Führer und agrarische Massen anschlossen. Ihnen waren zum großen Teil die faschistischen Wahlerfolge zu danken wie die Ausdehnung und das Erstarken der Fasci, deren Zahl bis zum Mai 1921 auf rund 2.000 stieg.

Mussolini empfand unstreitig die Gefahr, die für ihn und seine Ziele in der Überflutung des Faschismus mit agrarischen Elementen lag. Er erkannte, daß mit dem Aufhören der scheinrevolutionären, antimonarchistischen Agitation ein großer Anreiz für breite Massen verlorenging, sich dem Faschismus anzuschließen. Als die Wahlschlacht vorüber war, wollte er zu seinen Losungen von 1919 zurückkehren. In einem Interview mit dem Vertreter der Zeitung Giornale d’Italia – sie vertritt schwerindustrielle Tendenzen – erklärte er, die gewählten Faschisten würden der Eröffnung der Kammer nicht beiwohnen, denn es sei für sie unmöglich, nach der Thronrede zu rufen: „Es lebe der König!“ Die Veröffentlichung hatte die Wirkung, die Stärke des agrarischen Flügels im Faschismus zu zeigen. Einige mit Unterstützung der Fasci gewählte Abgeordnete traten den Monarchisten und Nationalisten bei. Eine Sitzung der faschistischen Abgeordneten zusammen mit den Bezirksdelegierten der Fasci sollte Stellung zu der Streitfrage nehmen. Mussolini unterlag mit seiner Forderung. Er zügelte seinen Republikanismus mit der Erklärung, wegen dieser Frage den Faschismus nicht spalten zu wollen. Seine Niederlage gab ihm den Anlaß, auf die Konstituierung des Faschismus als einer organisierten zentralisierten Partei hinzuwirken, während dieser bis dahin eine lose Bewegung gewesen war. Die Umwandlung erfolgte auf dem ersten faschistischen Kongreß im November 1921. Hatte Mussolini in der Sache gesiegt, so unter- lag er bei der Wahl der Parteileitung. Er bekam diese nicht ganz in seine Hand. Sie wurde nur zur Hälfte mit seinen persönlichen Anhängern besetzt, zur anderen Hälfte aber mit monarchistisch gesinnten Agrariern. Dieser Umstand hat seine Bedeutung. Er deutet auf jenen Gegensatz hin, der bis heute in wachsendem Maße im Faschismus besteht und zu seiner Zersetzung beitragen wird. Es ist der Gegensatz zwischen Agrar- und Industriekapital, politisch ausgedrückt: zwischen Monarchisten und Republikanern. Die Partei soll jetzt 500.000 Mitglieder zählen.

Die Konstituierung des Faschismus als Partei genügte allein nicht, um ihm die Kraft zu verleihen, der Arbeiterklasse Herr zu werden, sie in wüsterer Fron als vorher zum Wiederaufbau und zur Fortentwicklung der kapitalistischen Wirtschaft zu zwingen. Zu diesem Zwecke bedurfte er eines zwiefachen Apparates. Eines Apparates zur Korrumpierung der Arbeiter und eines Apparates zu ihrer Niederwerfung mit bewaffneter Macht, mit terroristischen Mitteln. Der Apparat zur Korrumpierung der Arbeiterbewegung wurde geschaffen durch die Gründung der faschistischen Gewerkschaften, „nationale Korporationen“ genannt. Sie sollten planmäßig durchführen, was der Faschismus von Anfang an getan hatte: die revolutionäre Arbeiterbewegung, ja jede selbständige, eigene Arbeiterbewegung bekämpfen. Mussolini wehrt sich stets gegen die Anklage, daß er den Kampf gegen die Arbeiterklasse führt. Er versichert immer wieder und wieder, daß er die Arbeiterklasse materiell und kulturell heben und nicht zurückführen wolle „in die qualvollen Bedingungen einer sklavenhaften Existenz“. Aber all das im Rahmen der „Nation“ und, untergeordnet unter ihre Interessen, in schärfster Ablehnung des Klassenkampfes. Die faschistischen Gewerkschaften wurden zu dem ausgesprochenen Zweck gegründet, als Gegengift nicht nur gegen die revolutionären Organisationen des Proletariats zu wirken, sondern gegen jede Klassenorganisation der Proletarier überhaupt. Jede proletarische Klassenorganisation ist Mussolini und seinen Trabanten von vornherein verdächtig, eine revolutionäre Organisation zu sein. Er schuf sich seine eigenen Gewerkschaftsorganisationen. Sie vereinigen die Arbeiter, Angestellten und Unternehmer eines Berufes, einer Industrie. Die organisierten Unternehmer haben zum Teil abgelehnt, den Gewerkschaften Mussolinis beizutreten. So der Landwirtschaftsverband und der Verband der Industriellen. Sie sind jedoch ob ihrer Ketzerei von keiner faschistischen Strafexpedition zur Rechenschaft gezogen worden. Die faschistischen Strafexpeditionen erfolgen nur, wenn es sich um Proletarier handelt, die vielleicht nicht einmal in der revolutionären Bewegung stehen, aber doch kämpfen, wie ihr Klasseninteresse gebeut. Zehntausende von Arbeitern sind so gezwungen, den faschistischen Gewerkschaften beizutreten, die gegen eine Million Mitglieder umschließen sollen.

Das faschistische Organ zur terroristischen Niederwerfung der Arbeiterklasse in Italien sind die sogenannten Geschwader. Es sind dies militärische Organisationen, die sich aus den agrarischen Strafexpeditionen heraus entwickelt haben. Die Trupps von „Strafvollziehenden“, die sich gelegentlich frei zusammenfanden, wurden zu ständigen „Organisationen“ von Unterhaltenen und Söldnern, die berufsmäßig den Terror ausüben. Die „Geschwader“ sind im Laufe der Zeit zu einer rein militärischen Macht geworden, die den Staatsstreich durchführte und auf die Mussolini als Diktator sich stützt. Nach der Machtergreifung und der Aufrichtung des faschistischen Staates wurden sie als „nationale Landesmiliz“, als Organ des bürgerlichen Staates legalisiert. Sie stehen, wie offiziell erklärt wurde, „im Dienste Gottes, der Nation und des Ministerpräsidenten“ – man beachte: nicht des Königs. Ihre Stärke wird sehr verschieden angegeben. Im Augenblick des Staatsstreiches zwischen 100.000 und 300.000 Mann, jetzt mit einer halben Million.

Wie an der Wiege des Faschismus das Versagen, der Verrat der reformistischen Führer standen, so steht auch vor der Eroberung der Staatsgewalt durch den Faschismus ein neuer Verrat der Reformisten und damit eine neue Niederlage des italienischen Proletariats. Am 31. Juli fand eine geheime Sitzung der italienischen reformistischen Arbeiterführer statt – der gewerkschaftlichen wie der politischen, d’Aragona war dabei wie Turati –, die beschloß, durch den Allgemeinen Gewerkschaftsverband am 1. August den Generalstreik proklamieren zu lassen; einen Generalstreik, der nicht vorbereitet und nicht organisiert war. Wie die Dinge lagen, mußte er natürlich mit einer furchtbaren Niederlage des Proletariats enden. In manchen Orten setzte der Streik erst ein, als er in anderen bereits zusammengebrochen war. Es war dies eine Niederlage, ebenso groß, ebenso verhängnisvoll wie die bei der Fabrikbesetzung. Sie ermutigte die Faschisten zum Staatsstreich und entmutigte und demoralisierte die Arbeiter, so daß sie auf jeden Widerstand verzichteten, passiv, hoffnungslos alles geschehen ließen. Besiegelt wurde der Verrat der reformistischen Führer nach dem Staatsstreiche dadurch, daß Baldesi, einer der einflußreichsten Führer des italienischen Gewerkschaftsbundes und der Sozialistischen Partei, sich im Auftrage Mussolinis bereit erklärte, in die faschistische Regierung einzutreten. Der schändliche Pakt scheiterte – welche Schmach! – nicht am reformistischen Widerspruch und Protest, vielmehr am Widerstand der faschistischen Agrarier.

Genossinnen und Genossen! Sie erkennen an diesem kurzen Überblick die Zusammenhänge, die in Italien bestehen zwischen der Entwicklung des Faschismus und der wirtschaftlichen Zerrüttung des Landes, die breite verelendete und verblendete Massen schuf; zwischen der Entwicklung des Faschismus und dem Verrat der reformistischen Führer, der die Proletarier auf den Kampf verzichten ließ. Auch die Schwäche der Kommunistischen Partei ist nicht ohne Einfluß darauf geblieben. Abgesehen von ihrer numerischen Schwäche hat sie wohl auch einen taktischen Fehler begangen, indem sie den Faschismus lediglich als eine militärische Erscheinung betrachtete und seine ideologische und politische Seite übersah. Vergessen wir nicht; daß der Faschismus in Italien, ehe er durch Akte des Terrors das Proletariat niederschlug, einen ideologischen und politischen Sieg über die Arbeiterbewegung errungen hatte und welches die Ursachen dieses Sieges waren. Es wäre sehr gefährlich, wenn wir außer acht lassen wollten, von welcher Bedeutung gerade die ideologische und politische Überwindung des Faschismus ist.

Es liegt auf der Hand, daß der Faschismus organisatorisch und seiner äußeren Machtstellung nach nur die hier kurz skizzierte Entwicklung nehmen konnte, weil er ein Programm hatte, das von großer Anziehungskraft auf breite Massen war. Die Frage steht vor uns – und sie ist wichtig für die Proletarier aller Länder –: Was hat der Faschismus in Italien nach der Eroberung der Staatsmacht getan, um sein Programm zu verwirklichen? Welches ist der Staat, der sein Werkzeug sein soll? Hat er sich erwiesen als der verheißende partei- und klassenlose Staat, der jeder Schicht der Gesellschaft ihr Recht werden läßt, oder hat auch er sich erwiesen als ein Organ der besitzenden Minderheit und insbesondere der industriellen Bourgeoisie? Das zeigt sich am besten, wenn wir die wichtigsten Forderungen des faschistischen Programms und ihre Erfüllung einander gegenüberstellen.

Was hatte der Faschismus politisch versprochen, als er mit wild wehendem Lockenhaar wie Simson einherstürmte?

Eine Reform des Wahlrechts, ein konsequent durchgeführtes Proportionalwahlrecht. Was sehen wir? Das alte, unvollkommene Proportionalwahlrecht, das 1919 eingeführt wurde, soll abgeschafft und durch ein Wahlrecht ersetzt werden, das ein Spott, das blutiger Hohn auf die Idee des Proporzes ist. Die Partei, die absolut die meisten Wählerstimmen erhält, soll zwei Drittel aller Sitze In der Kammer erhalten. Es ist erst darüber gestritten worden, ob es Zwei Drittel oder gar drei Viertel der Mandate sein sollten. Nach den letzten Zeitungsnachrichten will sich der Faschismus damit begnügen, daß die stärkste Partei – das ist die faschistische – zwei Drittel erhält, das bleibende Drittel soll proportional auf die verschiedenen anderen Parteien verteilt werden. Eine nette Reform des Wahlrechtes!

Mussolini hatte Wählbarkeit und Wahlrecht für die Frauen verheißen. Kürzlich tagte in Rom ein internationaler bürgerlicher Frauenstimmrechtskongreß. Mussolini machte den Damen ritterlich seine Aufwartung und erklärte ihnen mit süßem Lächeln, die Frauen würden das Wahlrecht erhalten, und zwar das Wahlrecht zu den Gemeinderäten. Das politische Recht soll ihnen also vorenthalten bleiben. Auch sollen bei weitem nicht alle Frauen das kommunale Wahlrecht erhalten, sondern nur die, die eine gewisse Bildungsstufe nachweisen können, ferner die „kriegsdekorierten“ Frauen und die Frauen, deren Männer einen entsprechend großen Geldsack besitzen, um bestimmte Steuern zu zahlen. So sieht die Einlösung des Versprechens aus, die Gleichberechtigung der Frauen betreffend.

Der Faschismus hatte in seinem Programm die Abschaffung des Senats und die Schaffung eines Wirtschaftsparlaments, das neben dem politischen Parlament stehen sollte. Von einem Wirtschaftsparlament ist nicht mehr die Rede. In der ersten Ansprache aber, die Mussolini vor dem Senat hielt, dieser Rumpelkammer aller Reaktionäre, feierte er gewaltig dessen Verdienste in der Vergangenheit und erklärte, er verbürge hohe Leistungen in der Gegenwart und diese müßten maßgebend dafür sein, daß der Einfluß des Senats auf die Gesetzgebung gestärkt werde.

Die Faschisten forderten in ihrem Programm die sofortige Einberufung einer Nationalversammlung zum Zwecke einer Verfassungsreform. Wie steht es damit? Von der Nationalversammlung wird kein Ton geredet, dagegen sieht die Verfassungsreform so aus: Die Kammer, so zusammengesetzt, wie ich hier ausgeführt habe, das heißt die Mehrheitspartei in ihr, schlägt den Ministerpräsidenten vor. Der vorgeschlagene Ministerpräsident – also solange der Faschismus die Mehrheit hat, der faschistische Ministerpräsident – muß vom König ernannt werden. Er setzt nach Belieben die Regierung zusammen, stellt sich und sein Kabinett der Kammer vor und erhält von dieser ein Vertrauensvotum, wonach das Parlament sich trollt, sich auf vier Jahre vertagt, für die ganze Zeit, für die es gewählt worden ist.

Konfrontieren wir auch einige Versprechungen des Faschismus auf sozialem Gebiete mit der Verwirklichung. Der Faschismus hatte die gesetzliche Sicherung des Achtstundentages versprochen und die Festlegung eines Lohnminimums sowohl für die industriellen als auch die landwirtschaftlichen Arbeiter. Beantragt ist ein Gesetz über den Achtstundentag, das hundert Ausnahmen vorsieht und zum Schluß noch die Bestimmung enthält, der Achtstundentag könne auch in anderen Fällen außer Kraft gesetzt werden. Dazu besteht der Achtstundentag praktisch heute schon für breite Schichten des Proletariats nicht mehr, besonders nicht für die Eisenbahner, die Postbeamten und andere Verkehrsbeamten, für die genau nach dem Muster der Dienstordnung des „Hundsfott“-Groener [3] an Stelle der Dienstbereitschaft von acht Stunden die abgeleisteten acht Stunden tatsächlicher Arbeit stehen sollen.

Zur Festlegung eines Lohnminimums ist zu sagen, daß dank der terroristischen Fesselung und Zerstörung der Gewerkschaften, dank des Verhaltens der burgfriedlichen faschistischen „Korporationen“ die Unternehmer in ihrem Widerstand gegen jede Lohnforderung so gekräftigt wurden, daß die Arbeiter nicht einmal imstande gewesen sind, bei der schlechten Wirtschaftskonjunktur auch nur ihre alte Entlohnung zu verteidigen. Lohnsenkungen sind erfolgt von durchschnittlich 20 bis 30 Prozent, bei sehr vielen Arbeitern aber von 50 Prozent, ja, es fehlt nicht an Fällen, wo die Lohnherabsetzung 60 Prozent beträgt.

Es waren vom Faschismus Alters- und Invalidenversicherungen versprochen worden, die gegen die schlimmste Verelendung, die schlimmste Pein schützen sollten. Und wie wurde das Versprechen erfüllt? Es ist jener schwache Ansatz zur sozialen Fürsorge für Alte, Gebrechliche und Kranke aufgehoben worden, der in Gestalt eines Fonds von 50 Millionen Lire für diese Zwecke vorhanden war. Diese 50 Millionen Lire sind „aus Sparsamkeit“ glatt aus dem Budget gestrichen worden, so daß also jetzt die Notleidenden der Arbeit in Italien auf gar keine Fürsorge mehr zu rechnen haben. Gestrichen wurden auch im Budget die 50 Millionen Lire für Arbeitsvermittlung beziehungsweise Arbeitslosenunterstützung und 60 Millionen Lire für die Kreditinstitutionen der Genossenschaften.

Der Faschismus hatte die Forderung erhoben, daß die Arbeiter an der technischen Leitung der Betriebe beteiligt werden sollen. Also mit anderen Worten: die Kontrolle der Produktion. Es war verheißen worden, der Faschismus werde die öffentlichen Unternehmungen der technischen Kontrolle der Betriebsräte unterstellen. Heute wird ein Gesetz erwogen, das die Institutionen der Betriebsräte überhaupt aufhebt. Außerdem sollen die öffentlichen Unternehmungen vom Staat den Privatunternehmern zur Ausbeutung ausgeliefert werden, zum Teil sind sie schon ausgeliefert worden. Die Zündholzfabrikation, bisher Monopol des Staates, ist jetzt zur Sache der privaten Profitpresserei geworden, ebenso sollen der Postpaketverkehr, der Telefonverkehr, der Radio-Telegramm-Betrieb und auch die Eisenbahnen in die Hände des Privatkapitals übergehen. Mussolini hat erklärt, daß die Faschisten „Liberale im klassischen Sinne des Wortes seien“.

Betrachten wir einige Früchte des Faschismus auf finanziellem Gebiet. Der Faschismus wollte eine gründliche Steuerreform. Sein „autoritärer“ Staat sollte seine Macht brauchen, um eine allgemeine, progressiv stark steigende Steuer auf das Kapital durchzuführen, die teilweise sogar den Charakter der „Expropriation des Kapitals“ tragen sollte. Jetzt ist die Aufhebung verschiedener Luxussteuern erfolgt, so der Equipagensteuer, der Autosteuer usw., und das mit der Motivierung, durch eine solche Steuer werde „die nationale Produktion gehemmt und das Eigentum und die Familie zerstört“. Ferner ist eine Erweiterung der indirekten Steuern vorgesehen mit einer gleich geistreichen Begründung, nämlich, daß durch die Ausdehnung der indirekten Steuer der Konsum zurückgehen und infolgedessen der Export nach dem Auslande gefördert werde. Die Bestimmung ist aufgehoben worden, daß die Wertpapiere auf den Besitzer lauten müssen, die sogenannte Nominalität der Wertpapiere, wodurch den Steuerhinterziehern Tür und Tor offen stehen.

Mussolini und seine Garde heischten die Beschlagnahme der Kirchengüter. Statt dessen hat die faschistische Regierung verschiedene alte, schon beseitigte Konzessionen an den Klerus wieder in Kraft treten lassen. Nachdem der Religionsunterricht seit 50 Jahren abgeschafft war, ist er durch Mussolini wieder eingeführt worden, und ein Kruzifix muß in jeder Schule hängen. So sieht der Kampf gegen den Klerus aus.

Der Faschismus hatte gefordert, daß die Verträge des Staates über Kriegslieferungen revidiert und die Kriegsgewinne bis zu 85 Prozent für den Staat erfaßt werden müßten. Was ist geschehen? Das Parlament hatte eine Kommission eingesetzt, die die Verträge über Kriegslieferungen zu prüfen hatte. Sie sollte öffentlich in der Kammer Bericht erstatten. Hätte sie dies getan, so würden wohl die meisten Schwerindustriellen, die Gönner und Nährväter der Faschisten, auf das schwerste kompromittiert worden sein. Eine der ersten Entscheidungen Mussolinis bestand darin, daß diese Kommission nur ihm persönlich Bericht zu erstatten hat und daß mit sechs Monaten Gefängnis bestraft wird, wer etwas aus dem Bericht in die Öffentlichkeit bringt. Von der Erfassung der Kriegsgewinne schweigen alle faschistischen Flöten, dagegen wurden der Schwerindustrie bereits Milliarden für Lieferungen der verschiedensten Art bewilligt.

Auch militärisch wollte der Faschismus ein grundlegender Neuerer sein. Er verlangte die Abschaffung des stehenden Heeres, eine kurze Dienstdauer, Einstellung des Heeres nur auf Landesverteidigung und nicht auf imperialistische Kriege usw. Wie führte er sein Programm durch? Das stehende Heer wurde nicht abgeschafft, die Dienstzeit ist von 8 Monaten auf 18 Monate erhöht worden, was einer Vermehrung des Heeres von 240.000 auf 340.000 Mann gleichkommt. Gewiß, die Guardia Regia, eine Art militärisch gerüstete und organisierte Polizei, ist abgeschafft worden. Etwa weil sie infolge ihres Eingreifens bei Kundgebungen, Streiks usw. beim Volk, zumal den Arbeitern, keineswegs beliebt war? Im Gegenteil! Sie schien Mussolini zu „demokratisch“, denn sie unterstand nicht dem Kommando des Generalstabs, sondern dem Ministerium des Innern, und Mussolini fürchtete, daß diese Truppe einmal in Konflikt mit seinen Geschwadern kommen, gegen ihn auftreten könne. Die Stärke der Guardia Regia betrug 35.000 Mann. Dafür wurde die Zahl der Carabinieri von 65.000 auf 90.000 Mann erhöht, außerdem ist die Zahl der Polizisten verdoppelt worden, sogar die der Detektiv- und Zollpolizisten.

Außerdem hat die Regierung der Faschisten die Geschwader der „Schwarzhemden“ in eine nationale Miliz verwandelt. Ihre Stärke wurde zuerst auf 100.000 geschätzt und soll nach einer neuesten Entscheidung im Lager des Faschismus künftig sogar eine halbe Million betragen. Da in die Geschwader namentlich mit den nationalistischen „Blauhemden“ zahlreiche agrarisch-monarchistische Elemente eingedrungen sind, mußte Mussolini vor Auflehnung gegen seine Diktatur zittern. Er war vom ersten Augenblick der Entstehung der Geschwader bemüht, diese unter die politische Herrschaft der Partei, das ist unter seine Oberhoheit, zu bekommen. Er glaubte, das dadurch erreicht zu haben, daß man die Geschwader einem nationalen Generaloberkommando unterstellte, das von der Parteileitung bestimmt wurde. Aber die politische Leitung konnte die Gegensätze innerhalb der Geschwader nicht verhindern, Gegensätze, die stärker und stärker wurden, als die Nationalisten, die „Blauhemden“, in die Geschwader eintraten. Um ihren Einfluß dort zu brechen, ließ Mussolini beschließen, daß jedes Parteimitglied verpflichtet sei, in die nationale Miliz einzutreten, so daß deren Stärke jetzt gleich jener der Partei sein soll. Mussolini hoffte, auf diese Weise die ihm widerstrebenden agrarischen Elemente politisch überwinden zu können. Jedoch, indem die Parteimitglieder sich in die Miliz einreihen, werden gerade auch die politischen Gegensätze in diese hineingetragen, und sie müssen sich dort weiter entwickeln, bis sie zur Zersetzung führen.

Die bewaffnete Macht sollte lediglich zur Verteidigung des Vaterlandes verwendet werden, so hatte es geheißen. Aber die Vermehrung des Heeres und ungeheure Rüstungen sind auf große imperialistische Abenteuer eingestellt. Die Artillerie wird außerordentlich ausgebaut, die Zahl der Berufsoffiziere wird vermehrt, eine ganz besondere Förderung erfährt die Flotte. Eine große Anzahl von Kreuzern, Torpedozerstörern, Unterseebooten usw. sind in Auftrag gegeben. Eine ganz besonders auffällige Entwicklung erfährt die Luftflotte. Es sind bereits 1.000 neue Flugzeuge in Auftrag gegeben worden, viele Flugzeugstationen wurden gegründet. Eine eigene Kommission ist eingesetzt, und Hunderte Millionen Lire sind bereits der Schwerindustrie für den Bau der allermodernsten Flugapparate und militärischen Mordwerkzeuge bewilligt worden.

Wenn man das Programm des Faschismus in Italien mit der Erfüllung vergleicht, so tritt heute schon eines zutage: der vollständige ideologische Bankrott der Bewegung. Es ist der krasseste Widerspruch vorhanden zwischen dem, was der Faschismus verheißen hat, und dem, was er den Massen bringt. Gleich einer Seifenblase ist in der Luft der Wirklichkeit das Gerede zerstoben, daß im faschistischen Staat das Interesse der Nation über allem steht. Die „Nation“ hat sich als die Bourgeoisie enthüllt, der faschistische Idealstaat als vulgärer, skrupelloser bürgerlicher Klassenstaat. Diesem ideologischen Bankrott muß früher oder später auch der politische Bankrott folgen. Und er ist bereits im Anzuge. Der Faschismus ist außerstande, auch nur die verschiedenen bürgerlichen Kräfte zusammenzuhalten, mit deren stiller, wohlwollender Gönnerschaft er zur Macht gekommen ist. Der Faschismus wollte sich die Macht zur sozialen Neuschöpfung sichern, indem er die Herrschaft im Staate an sich riß und dessen Machtapparat seinen Zielen dienstbar machen wollte. Es ist ihm noch nicht gelungen, sich auch nur den bürokratischen Apparat voll untertänig zu machen.

Ein scharfes Ringen ist ausgebrochen zwischen der alten, eingesessenen Bürokratie und der neuen, faschistischen Beamtenschaft. Der gleiche Gegensatz besteht zwischen dem alten, regulären Heere mit seinen Berufsoffizieren und der faschistischen Landesmiliz mit ihren neuen Führern. Es wächst der Gegensatz zwischen dem Faschismus und den bürgerlichen Parteien. Mussolini hatte den Plan, in Gestalt der faschistischen Partei eine einheitliche bürgerliche Klassenorganisation zu schaffen, ein Gegenstück zum revolutionären Proletariat. Deshalb war sein Streben darauf gerichtet, alle bürgerlichen Parteien zu zerschmettern oder zu absorbieren. Es ist ihm gelungen, eine einzige Partei zu absorbieren: die der Nationalisten. Wie wiederholt angedeutet, hat die Verschmelzung ihre zwei Seiten. Der Versuch, die bürgerlichen, liberalen, republikanischen und demokratischen Gruppen auf konservativer Grundlage zu einer Partei zusammenzufassen, endete kläglich. Umgekehrt, die faschistische Politik hat dazu geführt, daß die Überreste der bürgerlichen Demokratie sich auf ihre alte Ideologie besonnen haben. Angesichts Mussolinis Macht- und Gewaltpolitik haben sie den Kampf aufgenommen „für die Verteidigung der Verfassung und die Wiederherstellung der alten, bürgerlichen Freiheit“.

Besonders charakteristisch für die Unfähigkeit des Faschismus, seine politische Machtposition zu behaupten und zu erweitern, ist das Verhältnis zur katholischen Volkspartei, unstreitig die größte und einflußreichste bürgerliche Partei in Italien. Mussolini hatte darauf gerechnet, es werde ihm gelingen, den rechten, agrarischen Flügel dieser Partei abzusprengen und zur Vereinigung mit den Faschisten zu bestimmen, den linken Flügel aber dadurch zu schwächen und der Auflösung preiszugeben. Es ist anders gekommen. Auf dem letzten Kongreß der popolari [4] zu Turin hat sich ein wahrer Protest gegen den Faschismus erhoben. Wer auf dem rechten Flügel den Faschismus mit Wohlwollen und Schonung behandeln wollte, wurde niedergeschrien. Dagegen fand die schärfste Kritik seiner Politik stürmische Zustimmung.

Hinter den aufgezeigten Gegensätzen und anderen noch steht der Gegensatz der Klassen, der durch keine burgfriedliche Predigt und Organisation aus der Welt geschafft werden kann. Die Klassengegensätze sind mächtiger als alle sie leugnenden Ideologien, und diese Klassengegensätze setzen sich durch trotz des Faschismus, ja gerade dank dieses Faschismus und gegen ihn. In dem Verhalten der popolari kommt zum Ausdruck die Selbstbesinnung der größten Schichten der städtischen Kleinbürger und des Kleinbauerntums auf ihre Klassenlage und ihren Gegensatz zum Großkapital, und das ist außerordentlich wichtig für die Machtpositionen, die der Faschismus in Italien behaupten kann, mit anderen Worten, für die Auflösung, der er entgegengeht. Diese Schichten – zumal die Frauen darin – sind tief katholisch, kirchlich gesinnt. Mussolini hat deshalb alles getan, um den Vatikan zu gewinnen. Aber auch der Vatikan hat nicht gewagt, der beginnenden Rebellion der Bauernmassen in der Volkspartei gegen den Faschismus entgegenzuwirken.

Während die Kleinbauern sehen, daß der Faschismus für die Bourgeoisie Steuererleichterung, Steuerdrückebergerei und fette Aufträge bringt, müssen sie erfahren, daß ihnen härtere Steuerlasten auferlegt werden durch indirekte Abgaben und namentlich durch eine neue Berechnung des ländlichen Einkommens. Das gleiche gilt für eile kleinbürgerlichen Massen in der Stadt. Ihre schärfste Opposition wird außerdem dadurch hervorgerufen, daß der triumphierende Faschismus den geringen Mieterschutz aufgehoben hat; der Hausbesitzer hat wieder unbeschränkte Macht, durch hohe Mieten auszubeuten. Die wachsende Rebellion der Kleinbauern und Landarbeiter kommt drastisch zum Ausdruck gerade auch dort, wo der Faschismus wähnte, durch seine Geschwader jeden Widerstand gebrochen zu haben. In Boscoreale bei Neapel zum Beispiel haben mehr als tausend Bauern das Gemeindehaus gestürmt, als Protest gegen die drückenden Steuern. In drei Orten der Provinz Novara haben die Landarbeiter ihre alten Löhne und Arbeitsbedingungen mit Erfolg gegen die Großagrarier verteidigen können, und zwar nur dadurch, daß sie mehrere Güter besetzten, und das mit Unterstützung faschistischer Geschwader. Es zeigt sich, daß der Klassenkampfgedanke in den Reihen des Faschismus selbst anfängt, Wurzel zu schlagen.

Ganz besonders wichtig ist das Erwachen der Teile des Proletariats, die vom Faschismus berauscht und vergiftet worden waren. Dieser ist außerstande, die Interessen der Arbeiter gegen die Bourgeoisie zu verteidigen, außerstande, die Versprechen zu halten, die er namentlich den faschistischen Gewerkschaften gegeben hat. Je mehr er siegt, um so unfähiger ist er, sich als Schützer der Proletarier zu erweisen. Er kann nicht einmal die Unternehmer zwingen, die Versprechungen von den Vorteilen der gemeinsamen Organisation zu halten. Wenn in den faschistischen Gewerkschaften nur wenig Arbeiter organisiert sind, so mag es möglich sein, daß der Kapitalist diese wenigen besser stellt betreffs der Löhne. Aber dort, wo Massen in den faschistischen Organisationen zusammengeschlossen sind, wird das Unternehmertum keine Rücksichten auf den „Bruder Faschist“ nehmen, weil das zu kostspielig werden würde, und in Sachen des Geldbeutels, des Profits, hört bei den Herren Kapitalisten die Gemütlichkeit auf.

Ganz besonders hat zu dem Erwachen der Proletarier beigetragen, daß in großem Umfange Arbeiter brotlos aufs Pflaster geflogen sind – nicht nur in Privatbetrieben, sondern auch in Staatsbetrieben. 17.000 Eisenbahner wurden bald nach dem faschistischen Staatsstreich entlassen. Weitere Entlassungen sind gefolgt und stehen in sicherer Aussicht. Die staatlichen Heereswerkstätten wurden geschlossen. 24.000 Arbeiter sind dadurch brotlos geworden, wurden den Privatbetrieben zu schrankenloser Ausbeutung ausgeliefert.

Die leidenschaftliche Auflehnung gegen die faschistische Wirtschaftspolitik kommt gerade aus den Kreisen der faschistisch organisierten Arbeiter selbst. In Turin, in Neapel, in Triest, in Venedig, in einer großen Anzahl anderer Städte waren es die faschistischen Gewerkschaften, die allen voran sich ausnahmslos mit den Arbeitern aller Parteien, aller Organisationen zusammentaten – die kommunistischen und syndikalistischen Arbeiter inbegriffen –, um in einer großen öffentlichen Kundgebung gegen die Schließung der Werkstätten und die Entlassungen zu protestieren. Von Neapel fuhren mehrere hundert Kriegsinvaliden, die ebenfalls aus den Heereswerkstätten entlassen worden waren, nach Rom, um gegen das ihnen angetane Unrecht Einspruch zu erheben. Sie erhofften von Mussolini selbst Recht und Schutz und bekamen die Quittung für ihre Gläubigkeit in Gestalt der Verhaftung, sobald sie in Rom aus dem Zuge stiegen. Die Werftarbeiter von Monfalcone, Triest, die Arbeiter vieler Orte und Industrien, die faschistischen Organisationen angehören, sind in Bewegung geraten. Es ist in einzelnen Orten wieder zur Besetzung von Betrieben, von Fabriken gekommen, und zwar gerade durch faschistisch organisierte Arbeiter und mit wohlwollender Duldung oder Unterstützung von Geschwadern.

Diese Tatsachen zeigen, daß dem ideologischen Bankrott der politische Bankrott folgen wird und daß es zumal die Arbeiter sein werden, die sieh rasch wieder auf ihr Klasseninteresse und ihre Klassenpflicht zurückbesinnen.

Wir haben daraus mancherlei Schlüsse zu ziehen. Zunächst, daß wir den Faschismus nicht als eine einheitliche Erscheinung betrachten dürfen, nicht als einen „Block von Granit“, an dem all unsere Anstrengungen abprallen werden. Der Faschismus ist ein zwiespältiges Gebilde, das verschiedene gegensätzliche Elemente umschließt und sich deshalb von innen heraus zersetzen und auflösen wird. Wir müssen mit größter Energie den Kampf aufnehmen nicht nur um die Seelen der Proletarier, die dem Faschismus verfallen sind, sondern auch um die Seelen der Klein- und Mittelbürger, der Kleinbauern und der Intellektuellen, kurz, all der Schichten, die heute durch ihre wirtschaftliche und soziale Stellung in wachsenden Gegensatz zum Großkapitalismus kommen und damit zum scharfen Kampf gegen ihn.

Es wäre aber außerordentlich gefährlich anzunehmen, daß in Italien, dem ideologischen und politischen Verfall entsprechend, rasch der militärische Zusammenbruch folgen müsse. Gewiß, – auch der militärische Zerfall und Zusammenbruch des Faschismus wird, muß kommen, aber er kann noch lange durch das Schwergewicht der verfügbaren Machtmittel hinausgezogen werden. Und während in Italien das Proletariat sich vom Faschismus loslöst und wieder bewußt, stärker, zielsicher den Kampf für seine Interessen, den revolutionären Klassenkampf für seine Freiheit aufnimmt, müssen die italienischen Genossen, die Proletarier damit rechnen, daß der ideologisch und politisch verendende Faschismus sich militärisch-terroristisch, mit der allerschonungslosesten und skrupellosesten Gewalt auf sie stürzen wird. Es gilt, bereit zu sein! Ein Ungeheuer vermag oft noch im Todeskampf vernichtende Schläge auszuteilen. Deshalb müssen die revolutionären Proletarier, die Kommunisten und die Sozialisten, die den Weg des Klassenkampfes mit ihnen gehen, noch auf schwere Kämpfe gerüstet und vorbereitet sein.

Es wäre verkehrt, wollten wir uns durch das historische Begreifen des Faschismus zur Untätigkeit, zum Abwarten, zur Einstellung des Rüstens und des Kampfes wider ihn bestimmen lassen. Sicherlich, der Faschismus ist verurteilt, sich von innen heraus zu zersetzen, zu zerfallen. Er vermag nur vorübergehend ein Klassenkampfinstrument der Bourgeoisie zu sein, nur vorübergehend die Macht des bürgerlichen Staates gegen das Proletariat illegal oder auch legal zu stärken. Es wäre jedoch sehr verhängnisvoll, wollten wir in der Rolle von klugen und ästhetischen Zuschauern seinen Verwesungsprozeß abwarten. Umgekehrt, es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diesen Prozeß mit allen Mitteln vorwärtszutreiben und zu beschleunigen.

Das ist nicht nur die besondere Pflicht des Proletariats in Italien, wo sich dieser Prozeß wahrscheinlich zuerst vollziehen

wird, sondern namentlich auch des deutschen Proletariats. Der Faschismus ist eine internationale Erscheinung, darüber sind wir uns alle einig. Nach Italien hat er bis jetzt wohl seine stärkste und festeste Position in Deutschland errungen. Hier haben der Ausgang des Krieges und das Versagen der Revolution seine Entwicklung begünstigt. Das ist erklärlich, wenn wir uns bewußt bleiben, welches die letzten Wurzeln des Faschismus sind.

In Deutschland ist die Wirtschaft infolge des verlorenen Krieges, der Reparationslasten, des Versailler Vertrages außerordentlich zerrüttet. Der Staat ist in seinen Grundlagen erschüttert. Die Regierung ist schwach, ohne Autorität, ein Spielball in den Händen der Stinnes und Konsorten. In keinem Lande – das ist wenigstens meine Auffassung – ist der Gegensatz so groß wie in Deutschland zwischen der objektiven Reife für die Revolution und der subjektiven Unreife des Proletariats für sie infolge des Verrates, der Auffassung, des Verhaltens der reformistischen Führer. In keinem Lande hat seit Kriegsausbruch die Sozialdemokratie so schmachvoll versagt wie in Deutschland. Hier gab es eine hochentwickelte kapitalistische Industrie, hier durfte das Proletariat sich rühmen, eine gute Organisation, eine langjährige marxistische Schulung zu besitzen.

Die englische, die französische, die österreichische sozialdemokratische Partei, alle proletarischen Organisationen, die in der II. Internationale vereinigt waren, hatten ihre Vorzüge – das können wir anerkennen. Aber die führende Partei, die Musterpartei, war die deutsche Sozialdemokratie. Ihr Versagen ist deshalb ein unverzeihlicheres, schändlicheres Verbrechen als das Versagen jeder anderen Arbeiterpartei. Jede andere kann mehr entschuldigt werden, kann mehr Gründe für ihren Bankrott bei Kriegsausbruch geltend machen als gerade die deutsche Sozialdemokratie. Der Rückschlag auf die proletarischen Massen mußte besonders stark, verhängnisvoll sein. In Verbindung mit der militärischen Zerschmetterung des deutschen Imperialismus durch den Ententeimperialismus sind deshalb hier sehr günstige Vorbedingungen dafür gegeben, daß der Faschismus stark in das Kraut schießen konnte.

Aber es ist trotz alledem meine Überzeugung, daß der Versailler Frieden, daß die Besetzung des Ruhrgebietes mit all ihren Gewalttaten den Faschismus in Deutschland nicht so gefördert haben wie der Staatsstreich Mussolinis. Er ist solch starker Anreiz für die deutschen Faschisten gewesen wie kein anderes Ereignis. Er gab ihnen Selbstvertrauen und Siegeszuversicht. Die Überwindung, der Zusammenbruch des Faschismus in Italien würde unmittelbar die größte Entmutigung für den Faschismus in Deutschland und die größte Ermutigung für das Proletariat sein. Ganz besonders dann, wenn das Proletariat sich sagen darf: Der Faschismus in Italien, der siegreich war, der zeitweilig in der Fülle der Macht stand, ist nicht mehr, nicht nur, weil er an seinen inneren Gegensätzen zusammenbrechen mußte, nein, auch weil er verschwinden mußte kraft der starken, zielbewußten Aktion der proletarischen Massen in Italien. Diese Erkenntnis würde sich international auswirken, wie immer die Dinge in den einzelnen Ländern liegen.

Wenn es so unsere Pflicht ist, international an die Überwindung des Faschismus in Italien unsere ganze Kraft zu setzen, so dürfen wir dabei nicht vergessen, daß die erfolgreichste Überwindung des Faschismus im Auslande immer zur Voraussetzung hat, daß wir auch den sich organisierenden Faschismus in unserem eigenen Lande mit aller Macht bekämpfen und gründlich besiegen.

Ich habe etwas ausführlicher, wenn auch bei weitem nicht vollständig genug, die Entwicklung des Faschismus in Italien aufgezeigt, weil diese am reifsten, am klarsten und abgeschlossensten vor uns steht. Die italienischen Genossen werden meine Ausführungen vervollständigen. Ich sehe davon ab, eine Darstellung des Faschismus in anderen Ländern zu geben; sie soll Vertretern unserer Parteien aus diesen Ländern vorbehalten sein. In der Resolution, die ich vorgelegt habe, sind verschiedene Mittel dargelegt, die wir anzuwenden, verschiedene Aufgaben, die wir zu erfüllen haben, um des Faschismus Herr zu werden. Ich will nicht im einzelnen auf sie eingehen, ich glaube, sie begründen sich selbst. Ich will nur hervorheben, daß sie alle nach zwei Richtungen hingehen. Die eine Gruppe von Aufgaben zielt auf die ideologische und politische Überwindung des Faschismus ab. Diese Aufgabe ist von ungeheurer Wichtigkeit. Sie verlangt bis zu einem gewissen Grade eine Umstellung oder eine präzisere Einstellung zu bestimmten sozialen Erscheinungen, die dem Faschismus wesenseigentümlich sind, und sie verlangt höchste Aktivität. Wir müssen uns bewußt bleiben, daß, wie ich eingangs sagte, der Faschismus eine Bewegung von Hungrigen, Notleidenden, Existenzlosen und Enttäuschten ist. Wir müssen danach trachten, daß wir die sozialen Schichten, die jetzt dem Faschismus verfallen, entweder unserem Kampfe eingliedern oder sie zum mindesten für den Kampf neutralisieren. Mit aller Klarheit und Kraft müssen wir verhindern, daß sie Mannschaften stellen für die Gegenrevolution der Bourgeoisie. Soweit wir jene Schichten nicht für unsere Partei, unsere Ideale gewinnen, nicht in Reih und Glied der revolutionären proletarischen Kampfheere ziehen können, muß es uns gelingen, sie zu neutralisieren, zu sterilisieren, oder wie man sich sonst ausdrücken mag. Sie dürfen uns nicht mehr als Landsknechte der Bourgeoisie gefährlich werden. Die Voraussetzungen für unseren Erfolg sind in den Lebensbedingungen gegeben, die die Klassenherrschaft der Bourgeoisie in diesem Stadium der geschichtlichen Entwicklung für sie schafft.

Ich lege dem die allergrößte Bedeutung bei, daß wir mit allem Zielbewußtsein, mit aller Konsequenz den ideologischen und politischen Kampf um die Seelen der Angehörigen dieser Schichten aufnehmen, die bürgerliche Intelligenz mit einbegriffen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß hier unstreitig wachsende Massen einen Ausweg aus den furchtbaren Nöten der Zeit suchen. Dabei geht es keineswegs nur darum, den Magen zu füllen, nein, die besten Elemente von ihnen suchen einen Ausweg aus tiefer Seelennot. Sie begehren neue feste Hoffnungen, neue unerschütterliche Ideale, eine Weltanschauung, auf Grund deren sie die Natur, die Gesellschaft, ihr eigenes Leben begreifen, eine Weltanschauung, die nicht unfruchtbare Formel ist, sondern schöpferisch, gestaltend wirkt. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Gewalthaufen der Faschisten nicht ausschließlich zusammengesetzt sind aus Kriegsrohlingen, aus Landsknechtsnaturen, denen der Terror Genuß ist, aus käuflichen Lumpen. Wir finden in ihnen auch die energischsten, entwicklungsfähigsten Elemente der betreffenden Kreise. Wir müssen mit Ernst und mit Verständnis für ihre Lage und ihre brennende Sehnsucht darangehen, unter ihnen zu arbeiten und ihnen zu zeigen, daß der Ausweg für sie nicht rückwärts führt, vielmehr vorwärts, zum Kommunismus. Die gewaltige Größe des Kommunismus als Weltanschauung wird ihre Sympathien für uns gewinnen.

Die III. Internationale ist im Gegensatz zur II. Internationale nicht nur eine Internationale für die Elite der weißen Proletarier Europas und Amerikas, sie ist die Internationale der Ausgebeuteten aller Rassen. So muß nun die Kommunistische Partei jedes Landes nicht nur die Vorkämpferin der Lohnarbeiter im engen Sinne des Wortes sein, nicht nur die Verfechterin der Interessen des Proletariats der Handarbeit, sondern auch die Vorkämpferin der Kopfarbeiter, die Führerin aller sozialen Schichten, die durch ihre Lebensinteressen, die durch ihre Sehnsucht nach einem Empor zu höherer Kultur in steigenden Gegensatz zur kapitalistischen Ordnung geraten. Ich begrüße es deshalb freudigst, daß unsere Tagung beschlossen hat, den Kampf für die Arbeiter-und-Bauern-Regierung aufzunehmen. Diese neue Losung ist nicht nur unabweisbar für die überwiegend agrarischen Länder auf dem Balkan, wie Bulgarien, Rumänien usw., sondern sie ist auch von großer Bedeutung für Italien, für Frankreich, für Deutschland und besonders für Amerika. Sie ist geradezu eine Notwendigkeit im Kampfe zur Besiegung des Faschismus. Es heißt, unter die breitesten Schichten der ausgebeuteten, schaffenden Bauern und landwirtschaftlichen Arbeiter gehen und ihnen die frohe Botschaft von dem erlösenden Kommunismus bringen. Es heißt, all den gesellschaftlichen Schichten, in denen der Faschismus Massengefolgschaft wirbt, zu zeigen, daß wir Kommunisten mit höchster Aktivität ihre Interessen im Kampfe gegen die bürgerliche Klassenherrschaft verteidigen.

Und wir müssen noch etwas anderes tun. Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, mit den Massen und für die Massen lediglich für unser politisches und wirtschaftliches Programm zu kämpfen. Gewiß, die politischen und wirtschaftlichen Forderungen drängen sich vor. Aber wie den Massen mehr bieten als die Verteidigung ihres Brotes? Wir müssen ihnen gleichzeitig den gesamten hehren, inneren Gehalt des Kommunismus als Weltanschauung bringen. Geschieht das, so wird unsere Bewegung Wurzeln fassen in allen sozialen Schichten, zumal auch unter den bürgerlichen Intellektuellen, die zufolge der geschichtlichen Entwicklung der letzten Jahre unsicher geworden sind in ihrem Denken und wollen, die die alte Weltanschauung verloren, ohne im Wirbelsturm der Zeit bereits eine neue, feste Weltanschauung gefunden zu haben. Lassen wir die suchenden nicht zu Irrenden werden.

Wenn ich im Sinne dieser Gedankengänge sage: „Heran an die Massen!“, so sei betont, was eine Voraussetzung des Erfolges ist. Wir dürfen das Wort Goethes nicht vergessen: „Getretener Quark wird breit, nicht stark.“ Wir müssen unsere kommunistische Ideologie ganz stark, ganz klar erhalten. Je mehr wir an die Massen herantreten, um so notwendiger ist es, daß die kommunistische Partei eine organisatorisch und ideologisch festgeschlossene Einheit ist. Wir dürfen uns nicht breit, quallenartig zerfließend in die Massen aus- gießen. Das würde zum schädlichsten Opportunismus führen, und wir würden außerdem einen schimpflichen Bankrott unserer Bemühungen um die Massen erleiden. Von dem Augenblicke an, wo wir durch Konzessionen an den „Unverstand der Massen“ – neuer und alter Massen – unsere wahre Existenz als Partei aufgeben, verlieren wir das, was für die Suchenden das Wichtigste, das Bindende ist: die Flamme des neuen geschichtlichen Lebens, die leuchtet und wärmt, Hoffnung gibt und Kampfkraft.

Was not tut, ist, daß wir unsere Methoden der Agitation und Propaganda wie unsere Literatur entsprechend den neuen Aufgaben gestalten. Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt, bleibt Mohammed nichts anderes übrig, als zum Berge zu gehen. Wenn jene neuen Massen, um die wir werben müssen, nicht zu uns kommen, müssen wir sie aufsuchen, müssen mit ihnen in einer Sprache reden, die ihrer Einstellung entspricht, ohne daß wir dabei das Geringste von unserer kommunistischen Auffassung preisgeben. Wir brauchen eine besondere Literatur für die Agitation unter den Bauern, wir brauchen eine besondere Literatur für die Beamten, Angestellten, Klein- und Mittelbürger jeder Art und wieder eine eigene Literatur für die Arbeit unter den Intellektuellen. Unterschätzen wir nicht, welche Rolle die Intellektuellen nicht nur in der Revolution, sondern auch nach der Revolution spielen können. Denken wir an die außerordentlich schädliche Sabotage der Intellektuellen in Rußland nach der Oktoberrevolution. Wir wollen von den Erfahrungen unserer russischen Brüder lernen. Deshalb müssen wir uns klar darüber sein, daß es nicht gleichgültig ist, sowohl im Augenblick der Revolution als nach ihr, ob die Intellektuellen bei uns oder gegen uns stehen.

So legt uns der Kampf gegen den Faschismus eine außerordentliche Fülle neuer Aufgaben auf. Es ist die Pflicht jeder einzelnen Sektion der Kommunistischen Internationale, entsprechend den gegebenen konkreten Verhältnissen in ihrem Lande diese Aufgaben in Angriff zu nehmen und durchzuführen.

Uns muß jedoch bewußt bleiben, daß die ideologische und politische Überwindung des Faschismus allein nicht genügt, um das kämpfende Proletariat vor der Gewalt und Tücke dieses Feindes zu schützen. Das Proletariat steht augenblicklich dem Faschismus gegenüber unter dem Zwang der Notwehr. Sein Selbstschutz, seine Selbstverteidigung gegen den faschistischen Terror darf nicht eine Minute vernachlässigt werden. Es geht um Leib und Leben der Proletarier, um die Existenz ihrer Organisationen. Selbstschutz der Proletarier, lautet ein Gebot der Stunde. Wir dürfen den Faschismus nicht nach dem Muster der Reformisten in Italien bekämpfen, die ihn anflehten: „Tu mir nichts, ich tue dir auch nichts!“ Nein! Gewalt gegen Gewalt! Nicht etwa Gewalt als individueller Terror – das bliebe erfolglos. Aber Gewalt als die Macht des revolutionären organisierten proletarischen Klassenkampfes.

Den Anfang zum organisierten Selbstschutz des Proletariats gegen den Faschismus haben wir in Deutschland gemacht mit der Organisierung der Betriebshundertschaften. Wenn diese Hundertschaften ausgebaut werden und in anderen Ländern Nachahmung finden, so wird die internationale Überwindung des Faschismus gelingen. Aber proletarischer Kampf und Selbstschutz gegen den Faschismus, das besagt: Proletarische Einheitsfront ...

[Der Faszismus fragt nicht, ob der Arbeiter im Betriebe eine weiß-blau bayrisch angestrichene Seele hat, für die schwarz-rot-goldene Bourgeois-Republik oder für das rote Banner mit Sichel und Hammer schwärmt ... Ihm genügt, daß er einen klassenbewußten Proletarier vor sich hat, und den schlägt er nieder. Deshalb müssen sich die Arbeiter ohne Unterschied der Partei und der Gewerkschaftsorganisation zum Kampfe zusammenfinden.] [A] Der Selbstschutz des Proletariats gegen den Faschismus ist eine der stärksten Triebkräfte, die zum Zusammenschluß und zur Stärkung der proletarischen Einheitsfront führen muß. Ohne Einheitsfront ist es unmöglich, daß das Proletariat die Selbstverteidigung mit Erfolg durchführt. Daher ist es notwendig, unsere Agitation in den Betrieben immer mehr auszubauen und zu vertiefen. Sie muß vor allem auch jene Gleichgültigkeit, den Mangel an Klassenbewußtsein und Solidarität in der Seele der Arbeiter überwinden, die meinen: „Die anderen mögen kämpfen und sich rühren, auf mich kommt es nicht an.“

Wir müssen jedem einzelnen Proletarier die Überzeugung einhämmern: Auf mich kommt es auch an. Ohne mich geht es nicht. Ich muß dabei sein. Mir winkt der Sieg. – Jeder einzelne Proletarier muß fühlen, daß er mehr ist als ein Lohnsklave, mit dem die Wolken und Winde des Kapitalismus der herrschenden Gewalten spielen. Er muß fühlen, klar darüber sein, daß er ein Glied der revolutionären Klasse ist, die den alten Staat der Besitzenden umhämmert in den Staat der Räteordnung. Nur wenn wir in jedem einzelnen Arbeiter das revolutionäre Klassenbewußtsein entzünden und zur Flamme des Klassenwillens anblasen, wird es uns gelingen, auch militärisch die notwendige Überwindung des Faschismus vorzubereiten und durchzuführen. Dann mag die Offensive des Weltkapitals gegen das Weltproletariat, gestärkt durch den Faschismus, vorübergehend noch so brutal, noch so heftig sein, das Proletariat wird sie schließlich doch zurückschlagen. Mit der kapitalistischen Wirtschaft, mit dem bürgerlichen Staat, mit der Klassenherrschaft der Bourgeoisie ist es trotz des Faschismus Matthäi am letzten. Laut, eindringlich redet uns die faschistische Zerrüttungs- und Zerfallserscheinung der bürgerlichen Gesellschaft vom künftigen Sieg, wenn das Proletariat wissend und wollend in Einheitsfront kämpft. Es muß! Über dem Chaos der heutigen Zustände wird sich die Riesengestalt des Proletariats mit dem Rufe aufrecken: Ich bin der Wille! Ich bin die Kraft! Ich bin der Kampf, der Sieg! Mir gehört die Zukunft!

(Stürmischer, lang anhaltender Beifall. Die Versammelten erheben sich und singen die Internationale.)

 

Fußnote von MIA

A. Dieser Passus fehlt in der DDR-Ausgabe der Ausgewählte Reden ...

* * *

Anmerkungen

1. Protokoll des Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresses in Hamburg vom 21. bis 25. Mai 1923, Berlin 1923, S.26.

2. Ebenda, S.29.

3. „Hundsfott“-Groener – Wilhelm Groener (1867-1939), General, 1916 stellvertretender Kriegsminister und Chef des Kriegsamtes in Preußen. Verfasser des „Hilfsdienstgesetzes“. Erließ im April 1917 einen Aufruf zur Unterdrückung der Streikbewegung, in dem er jeden Streikenden als „Hundsfott“ beschimpfte. In der Weimarer Republik Reichsverkehrsminister (1920-1923), Reichswehrminister (1928-1932) und Reichsinnenminister (1931-1932). Als Reichsverkehrsminister war er für die am 5. August 1922 herausgegebenen „Dienstdauervorschriften“ verantwortlich, die die Durchsetzung der 48-Stunden-Woche bei der Deutschen Reichsbahn verhinderten.

4. Bezeichnung der Mitglieder der Italienischen Volkspartei (Partito popolare italiana).

 


Zuletzt aktualisiert: 20. Juni 2023