Leo Trotzki

 

Verteidigung des Marxismus

 

Brief an Farrell Dobbs

 

10. Januar, 1940

Lieber Freund!

In meinem Artikel, den ich an Wright zur Übersetzung geschickt habe, erwähne ich zwei Fragen Überhaupt nicht:

Erstens, die nach dem bürokratischen Konservatismus. Ich glaube, wir haben mit Ihnen hierüber schon etwas diskutiert. Als politische Richtung verkörpert der bürokratische Konservatismus die materiellen Interessen einer gewissen sozialen Schicht, nämlich der privilegierten Arbeiterbürokratie in den kapitalistischen, besonders den imperialistischen Staaten und in unvergleichlich höherem Maße in der UdSSR. Es wäre grotesk, um nicht zu sagen dumm, in der Mehrheit nach solchen Wurzeln des „bürokratischen Konservatismus“ zu suchen. Wenn Bürokratismus und Konservatismus nicht durch gesellschaftliche Bedingungen bestimmt werden, dann stellen sie Züge in dem individuellen Charakter einiger Führer dar. So was kommt vor. Aber wie soll man in diesem Fall die Bildung einer Fraktion erklären? Handelt es sich um eine Auswahl konservativer Persönlichkeiten? Wir haben hier eine psychologische und keine politische Erklärung. Wenn wir einräumen (ich persönlich tue das nicht), daß Cannon zum Beispiel bürokratische Tendenzen hat, müssen Wir unvermeidlich zu der Schlußfolgerung kommen, daß die Mehrheit Cannon trotz und nicht wegen seiner Charakterzüge unterstützt. Es ist bezeichnend, daß die Frage nach den sozialen Grundlagen des Fraktionskampfes von den Führern der Minderheit nicht einmal berührt wird.

Zweitens, um meine „Verteidigung“ Cannons bloßzustellen, beharren sie darauf, daß ich Molinier zu Unrecht verteidigt hätte. Ich bin der letzte, der bestreitet, daß ich Fehler politischer Natur ebensogut wie Fehler in persönlichen Einschätzungen begehen kann. Aber trotz allem ist dieses Argument nicht sehr stichhaltig. Ich habe niemals die falschen Theorien Moliniers unterstützt. Es war nämlich eine Frage seines persönlichen Charakters: Roheit, Mangel an Disziplin und seine privaten Finanzaffären. Einige Genossen, darunter Vereecken, bestanden auf sofortiger Trennung von Molinier. Ich beharrte darauf, daß es für die Organisation nötig sei zu versuchen, Molinier zur Disziplin anzuhalten. Aber als Molinier 1934 das Parteiprogramm durch “vier Losungen“ ersetzen wollte und einen Text auf dieser Grundlage erstellte, war ich unter denen, die seinen Ausschluß vorschlugen. Das ist die ganze Geschichte. Man kann darüber geteilter Meinung sein, ob es klug war, daß ich mich Molinier gegenüber geduldig verhalten habe, trotzdem wurde ich selbstverständlich nicht durch die persönlichen Interessen Moliniers geleitet, sondern durch die Interessen der Erziehung der Partei: Unsere eigenen Sektionen erbten einiges Komintern-Gift, und zwar in dem Sinne, daß viele Genossen dazu neigen, solche Maßregeln wie Ausschluß, Spaltung oder Drohung mit Ausschluß und Spaltung zu mißbrauchen. Im Falle von Molinier wie im Fall einiger amerikanischer Genossen (Field, Weisbord und einiger anderer) befürwortete ich eine geduldigere Haltung. In verschiedenen Fällen hatte ich Erfolg, in mehreren anderen war es ein Fehlschlag. Aber ich bedaure meine geduldigere Haltung gegenüber einigen fragwürdigen Personen in unserer Bewegung keineswegs. Auf jeden Fall war meine „Verteidigung“ von ihnen niemals ein Block auf Kosten der Prinzipien. Wenn jemand zum Beispiel vorschlagen sollte, Genosse Burnham auszuschließen, würde ich dem mit aller Kraft entgegentreten. Aber gleichzeitig halte ich es für nötig, einen äußerst energischen ideologischen Kampf gegen seine antimarxistischen Vorstellungen zu führen.

Brüderlich
Ihr L. Trotzki

Coyoacan, D.F.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003