Leo Trotzki

 

Karl Kautsky

(8. November 1938)


Zuerst auf Deutsch erschienen in Unser Wort, Monatszeitung der Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD), Nr.92, Paris, Februar 1939.
Nach: L.Trotzki, Schriften über Deutschland (Hrsg. H. Dahmer), Bd.II, Frankfurt/M 1971, S.750-751.
Diese Version stammt aus dem Archiv des On-line Magazins Trend im PARTISAN.net.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Karl Kautsky (1854-1938) war von Friedrich Engels’ Tod 1895 bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs der führende Theoretiker der II.Internationale.

Der Tod Karl Kautskys ist beinahe unbemerkt geblieben. Der jungen Generation sagt dieser Name relativ wenig. Es gab jedoch eine Zeit, in der Kautsky im wahren Sinne des Wortes der Lehrer der proletarischen Avantgarde war. Allerdings war sein Einfluß in den angelsächsischen Ländern und zum Teil auch in Frankreich weniger stark; das erklärt sich aber aus dem schwachen Einfluß des Marxismus in diesen Ländern überhaupt. In Deutschland, Österreich, Rußland und den anderen slawischen Ländern war Kautsky eine unbestrittene Autorität geworden. Die Versuche der gegenwärtigen [stalinistischen] Geschichtsschreibung der Komintern, die Dinge so darzustellen, als ob Lenin schon in seinen jungen Jahren in Kautsky einen Opportunisten gesehen und ihm den Krieg erklärt hätte, stellen eine grobe Fälschung dar. Fast bis zum Weltkriege sah Lenin in Kautsky den wahren Fortsetzer der Sache von Marx und Engels.

Dieser Irrtum findet seine Erklärung im Charakter der Epoche, die eine Ära kapitalistischen Aufschwungs, eine Ära der Demokratie und der Anpassung des Proletariats war. Die revolutionäre Seite des Marxismus hatte sich in eine unbestimmte, jedenfalls ferne Perspektive verwandelt. Kampf um Reformen und Propaganda standen auf der Tagesordnung. Kautskys Werk bestand darin, die Politik der Reformen vom Standpunkt einer revolutionären Perspektive aus zu kommentieren und zu rechtfertigen. Selbstverständlich hätte Kautsky bei einer Änderung der objektiven Bedingungen die Partei mit anderen Methoden ausrüsten können. Das trat jedoch nicht ein. Das Einsetzen einer Epoche großer Krisen und großer Erschütterungen offenbarte den durch und durch reformistischen Charakter der Sozialdemokratie und ihres Theoretikers Kautsky.

Zu Beginn des Krieges brach Lenin entschlossen mit Kautsky. Nach der Oktoberrevolution veröffentlichte er ein schonungsloses Buch über den „Renegaten Kautsky“ [1]. Was den Marxismus angeht, so war Kautskys Haltung seit Beginn des Krieges unbestreitbar die eines Renegaten. Was jedoch seine Person betrifft, so war er seiner Vergangenheit gegenüber sozusagen nur zur Hälfte ein Renegat. Als die Probleme des Klassenkampfes sich in ihrer ganzen Schärfe stellten, sah sich Kautsky gezwungen, die letzten Schlußfolgerungen seines organischen Opportunismus zu ziehen.

Kautsky hinterläßt zweifelsohne eine Reihe wertvoller Arbeiten auf dem Gebiet der marxistischen Theorie, die er erfolgreich auf den verschiedensten Gebieten anwandte. [2] Sein analytisches Denken zeichnete sich durch eine außergewöhnliche Kraft aus. Aber er besaß nicht den universellen schöpferischen Geist eines Marx, Engels oder Lenin; Kautsky war im Grunde sein Leben lang nur ein talentierter Kommentator. Seinem Charakter und seinem Denken fehlte jene Kühnheit und jener Gedankenflug, ohne die eine revolutionäre Politik unmöglich ist. Beim ersten Kanonenschuß nahm er eine schwankende pazifistische Haltung ein, dann wurde er einer der Führer der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei [USPD], die eine Internationale 2½ schaffen wollte, um schließlich mit den Trümmern der Unabhängigen Partei in den Schoß der Sozialdemokratie zurückzukehren [3].

Kautsky begriff nichts von der Oktoberrevolution, hatte vor ihr den Schrecken eines kleinbürgerlichen Gelehrten und widmete ihr eine ganze Reihe von Arbeiten, die vom Geist erbitterter Feindschaft durchdrungen sind. [4] Seine Werke aus dem letzten Vierteljahrhundert zeichnen sich durch vollständigen theoretischen und politischen Verfall aus. [5]

Der Zusammenbruch der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie [gegenüber dem Faschismus] war auch der Zusammenbruch der gesamten reformistischen Konzeption Kautskys. Gewiß bezeugte er auch in der letzten Zeit noch seine Hoffnung auf eine „bessere Zukunft“, auf eine „Wiedergeburt“ der Demokratie usw.; dieser passive Optimismus war nur die Erschlaffung eines langen, arbeitsamen Lebens und auf seine Weise ehrlich, aber er enthielt keine selbständige Perspektive. Wir gedenken Kautskys als unseres alten Lehrers, dem wir seinerzeit viel zu verdanken hatten, der sich aber von der proletarischen Revolution lossagte und von dem wir uns folglich lossagen mußten.

Anmerkungen

1. W.I.Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (1918) (Werke, Bd.28, S.225-327), eine Antwort auf Kautskys Broschüre Die Diktatur des Proletariats. Siehe auch Lenin, Staat und Revolution (1917), Kapitel VI.

2. Zu den Arbeiten Kautskys, die man auch heute noch mit Gewinn lesen kann, gehören vor allem jene zur Geschichte der Sozialutopien und der frühsozialistischen Bewegungen wie bspw. Thomas More und seine Utopie (1888), Die Vorläufer des neueren Sozialismus (1895) und Der Ursprung des Christentums (1908).

3. Die revolutionäre Mehrheit der USPD hatte sich Ende 1920 mit der KPD vereinigt.

4. Die Diktatur des Proletariats (1918), Terrorismus und Kommunismus (1919) und Von der Demokratie zur Staatssklaverei (1921).]

5. Siehe auch die Kritik, die der linkskommunistische Theoretiker Karl Korsch an Kautskys spätem magnum opus, der zweibändigen Materialistischen Geschichtsauffassung (1927) geübt hat (K.Korsch, Die materialistische Geschichtsauffassung. Eine Auseinandersetzung mit Karl Kautsky, Leipzig 1930).]

 


Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008