Leo Trotzki

 

Verratene Revolution

Anhang 2:
Die „Freunde“ der UdSSR

Zum erstenmal schmiert eine mächtige Regierung im Ausland nicht die rechte, wohlwollende, sondern die linke und extrem linke Presse. Die Sympathien der Volksmassen zur erhabenen Revolution werden sehr kunstvoll kanalisiert und auf die Mühle der Bürokratie geleitet. Die „sympathisierende“ westliche Presse verliert unmerklich das Recht, irgend etwas zu veröffentlichen, was die herrschende Schicht der UdSSR verdrießen könnte. Bücher, die dem Kreml nicht genehm sind, werden böswillig totgeschwiegen. Marktschreierische und stümperhafte Apologien erscheinen in mehreren Sprachen. Wir haben in dieser Arbeit vermieden, die spezifischen Werke der offiziellen „Freunde“ zu zitieren, da wir die plumpen Originale den stilisierten ausländischen Nacherzählungen vorzogen. Jedoch stellt die Literatur der „Freunde“ mit der der Komintern – der flachsten und vulgärsten von allen – in Kubikmetern eine beachtliche Größe dar und spielt in der Politik nicht die letzte Rolle. Man kann nicht umhin, ihr zum Abschluss einige Seiten zu widmen.

Augenblicklich gilt das Buch der beiden Webb mit dem Titel Sowjetkommunismus als große Bereicherung des Denkschatzes. Statt zu erzählen, was erreicht wurde und wohin das Erreichte sich entwickelt, breiten diese Autoren auf 1200 Seiten aus, was in den Kanzleien ersonnen und geplant wird, oder in den Gesetzen niedergelegt ist. Ihre Schlussfolgerung lautet: wenn die Absichten, Pläne und Gesetze befolgt sein werden, dann ist in der UdSSR der Kommunismus verwirklicht. Das ist der ganze Inhalt dieses Wälzers, in dem nur Berichte der Moskauer Presse aufgewärmt werden.

Freundschaft mit der Sowjetbürokratie ist nicht Freundschaft mit der proletarischen Revolution, im Gegenteil, eher eine Versicherung dagegen. Die Webb sind zwar bereit anzuerkennen, dass das kommunistische System sich irgendwann einmal auch über die restliche Welt ausbreiten wird. „Aber wie, wann, wo, mit welchen Abänderungen, ob durch gewaltsame Revolution oder mittels friedlicher Durchdringung, oder gar durch bewusste Nachahmung, das sind Fragen, die wir nicht beantworten können“ („But how, when, where, with what modifications, and whether through violent revolution or by peaceful penetration, or even by conscious imitation, are questions we cannot answer“). Dies diplomatische Ablehnen einer Antwort – in Wirklichkeit eine unzweideutige Antwort – ist in höchstem Maße für die „Freunde“ bezeichnend und zeigt den wahren Wert ihrer Freundschaft. Hätten alle zum Beispiel vor 1917. als das Antworten noch weit schwerer fiel, so auf die Frage der Revolution geantwortet, auf der Welt gäbe es heute keinen Sowjetstaat, und die britischen „Freunde“ müssten ihren Vorrat an Freundschaft auf andere Objekte verwenden.

Die Webb sprechen von der eitlen Hoffnung auf europäische Revolutionen in naher Zukunft wie von etwas Selbstverständlichem und schöpfen daraus einen tröstlichen Beweis für die Richtigkeit der Theorie vom Sozialismus in einem Lande. Mit der Autorität von Leuten, die von der Oktoberrevolution vollkommen und zudem unangenehm überrascht wurden, belehren sie uns über die Notwendigkeit, die sozialistische Gesellschaft in Ermangelung anderer Perspektiven innerhalb der Grenzen der UdSSR zu bauen. Nur mit Mühe unterdrücken wir ein unhöfliches Achselzucken! Mit den Webb können wir in der Tat uns nicht in einen Streit darüber einlassen, ob man in der UdSSR Fabriken bauen und in den Kolchosen Kunstdünger verwenden soll, sondern nur, ob und wie es in Großbritannien die Revolution vorzubereiten gilt. Aber diesbezüglich antworten die gelehrten Soziologen: „wissen wir nicht“. Schon die Frage allein halten sie natürlich für „unwissenschaftlich“.

Lenin hatte eine heftige Feindseligkeit für konservative Bourgeois, die sich als Sozialisten aufspielen, im besonderen die britischen Fabier. An Hand des Namenregisters, das seinen „Werken“ beigefügt ist, kann man sich ohne Mühe davon überzeugen, dass sein Verhalten den Webb gegenüber im Verlaufe seiner gesamten Tätigkeit unverändert in grimmiger Feindschaft bestand. 1907 bezeichnete er zum erstenmal die Webb als die „bornierten Lobredner des englischen Spießertums“, die „bemüht sind, den Chartismus, die revolutionäre Epoche der englischen Arbeiterbewegung, als einfache Kinderei hinzustellen“. Indes, ohne Chartismus keine Pariser Kommune, ohne beide keine Oktoberrevolution. Die Webb fanden in der UdSSR nichts als den administrativen Mechanismus und bürokratische Pläne: vom Chartismus, von der Kommune oder dem Oktoberumsturz haben sie nichts bemerkt. Die Revolution bleibt für sie auch heute noch ein fremdes und feindliches Ding, wenn nicht „einfach eine Kinderei“.

In Polemiken mit Opportunisten kannte Lenin bekanntlich keine salonmäßigen Rücksichten. Aber in seinen Schmähungen („Lakaien der Bourgeoisie“, „Verräter“, „Lakaienseelen, u.a.) äußerte sich mehrere Jahre lang ein sorgfältig abgewogenes Urteil über die Welt als die Prediger des Fabianismus, d.h. der traditionellen Hochachtung und Anbetung des Bestehenden. Von einer Wendung in den Ansichten der Webb kann, was die letzten Jahre betrifft, gar keine Rede sein. Dieselben Leute, die während des Krieges ihre Bourgeoisie unterstützten und später aus der Hand des Königs den Rang eines Lord Passfield annahmen, schlossen sich, ohne auf das Geringste zu verzichten, ohne sich im mindesten untreu zu werden, dem Kommunismus in einem, noch dazu fremden Lande an, Sidney Webb war Kolonialminister, d.h. oberster Gefängniswerter des britischen Imperialismus, just in der Periode seines Lebens, als er sich der Sowjetbürokratie anbiederte, aus ihren Kanzleien das Material erhielt, auf das basiert er seinen zweibändigen Wälzer zusammenflickte.

Noch 1923 sahen die Webb keinen großen Unterschied zwischen Bolschewismus und Zarismus (siehe z. B. The Decay of Capitalist Civilisation, 1923). Dafür findet heute die „Demokratie“ des Stalinregimes ihre volle Anerkennung. Man suche hier keine Widersprüche. Die Fabier waren empört, als das revolutionäre Proletariat der „gebildeten“ Gesellschaft die Handlungsfreiheit nahm, aber sie betrachten es als ganz in der Ordnung, wenn die Bürokratie dem Proletariat die Handlungsfreiheit nimmt. War das nicht stets die Funktion der Labour-Arbeiterbürokratie? Die Webb schwören beispielsweise, Kritik sei in der UdSSR völlig frei, Gefühl für Humor geht diesen Leuten ab. Sie weisen allen Ernstes auf die berüchtigte „Selbstkritik“ hin, die dort wie Zwangsarbeit geübt wird, und deren Richtung sowie Grenzen man immer fehlerlos im voraus angeben kann,

Naivität? Weder Engels noch Lenin hielten Sidney Webb für naiv. Eher Respektabilität. Handelt es sich ja um ein etabliertes Regime und um gastfreie Wirte. Die Webb missbilligen ungemein marxistische Kritik am Bestehenden. Sie fühlen sich gar berufen, das Erbe der Oktoberrevolution gegen die linke Opposition in Schutz zu nehmen. Erwähnen wir der Vollständigkeit halber, dass die Labourregierung, in der Lord Passfield saß, dem Verfasser dieser Schrift seinerzeit das Einreisevisum für Großbritannien verweigerte. Somit verteidigt Sidney Webb, der damals gerade an seinem Buch über die UdSSR arbeitete, theoretisch die Sowjetunion und praktisch das Reich Seiner Majestät vor Wühlarbeit. Zu seiner Ehre sei gesagt, er bleibt sich in beiden Fällen treu.

Für viele Kleinbürger, die weder Feder noch Pinsel führen, ist die amtlich eingetragene „Freundschaft“ mit der UdSSR gleichsam eine Bescheinigung höherer geistiger Interessen. Die Zugehörigkeit zu Freimaurerlogen oder pazifistischen Klubs hat mit der Mitgliedschaft zur Gesellschaft der „Freunde der Sowjetunion“ vieles gemein, denn sie gestattet, gleichzeitig zwei Leben zu führen: ein Werktagsleben inmitten der alltäglichen Interessen, und ein sonntägliches zur Erhebung der Seele. Von Zeit zu Zeit besuchen die „Freunde“ Moskau. Ihrer Erinnerung prägen sich Traktoren, Kinderkrippen Pioniere, Paraden, Fallschirmspringer ein, mit einem Wort alles außer der neuen Aristokratie. Die Besten von ihnen schließen die Augen davor aus Feindschaft gegen die kapitalistische Reaktion. André Gide bekennt das offen: „Viel trägt auch die Dummheit und Tücke der Angriffe gegen die UdSSR dazu bei, dass wir ihre Verteidigung mit einem gewissen Eigensinn führen“. Aber Dummheit und Unehrlichkeit der Feinde ist keine Rechtfertigung für eigene Blindheit. Die Arbeitermassen brauchen jedenfalls sehende Freunde.

Die allgemeinen Sympathien der bürgerlichen Radikalen und sozialistischen Bourgeois für die herrschende Schicht der UdSSR haben keine unbedeutenden Ursachen. In Kreisen von Berufspolitikern dominieren unentwegt trotz aller Programmunterschiede die Freunde des bereits verwirklichten oder leicht zu verwirklichenden „Fortschritts“. Es gibt auf der Welt weitaus mehr Reformisten als Revolutionäre, mehr Anpassungsbereite als Unbeugsame. Erst in außergewöhnlichen Geschichtsperioden, wenn die Massen in Bewegung geraten, treten die Revolutionäre aus ihrer Isolierung heraus; die Reformisten aber ähneln dann aufs Trockene geworfenen Fischen.

Unter den heutigen Sowjetbürokraten gibt es niemanden, der nicht vor April 1917 und sogar noch bedeutend später die Idee einer Diktatur des Proletariats in Russland für phantastisch gehalten hätte (damals hießen diese „Fantasien“ ... Trotzkismus). Für die ausländischen „Freunde“ der alten Generation galten jahrzehntelang die russischen Menschewiki, die für eine Volks“front“ mit den Liberalen waren und die Idee einer Diktatur als glatten Unsinn ablehnten, als die Realpolitiker. Etwas anderes ist es, die Diktatur anzuerkennen, wenn sie einmal verwirklicht und sogar bürokratisch verpfuscht ist: dem sind die „Freunde“ gerade noch gewachsen. Jetzt geben sie dem Kaiser, was des Kaisers ist, ja nehmen sogar den Sowjetstaat gegen seine Feinde in Schutz, allerdings weniger gegen die Befürworter einer Rückkehr zur Vergangenheit als gegen die Vorbereiter seiner Zukunft. Sind die „Freunde“ aktive Patrioten wie die französischen, belgischen, englischen und anderen Reformisten, so können sie bequem ihr Bündnis mit der Bourgeoisie mit der Sorge um die Verteidigung der UdSSR bemänteln. Wurden sie umgekehrt Defätisten wider Willen wie die deutschen und österreichischen Sozialpatrioten von gestern, so hoffen sie, Frankreichs Bündnis mit der UdSSR werde ihnen helfen, mit Hitler oder Schuschnigg abzurechnen. Léon Blum, der ein Feind des Bolschewismus in dessen heroischer Epoche war und die Spalten des Populaire einer regelrechten Hetze gegen die Oktoberrevolution öffnete, druckt jetzt nicht eine Zeile, die die wahren Verbrechen der Sowjetbürokratie enthüllen könnte. Wie es in der Bibel Moses, als es ihn Jehova zu schauen gelüstete, nur vergönnt war, sich vor dem Hinterteil der göttlichen Anatomie zu verneigen, so vermögen die Herren Reformisten, Anbeter der vollendeten Tatsache, an der Revolution nur ihr fleischiges bürokratisches „im Nachhinein“ zu erkennen und anzuerkennen.

Die heutigen kommunistischen „Führer“ gehören im Grunde genommen zu demselben Typ. Nach einer langen Reihe affenartiger Grimassen und Purzelbäume entdeckten sie plötzlich die großartigen Vorteile des Opportunismus und befleißigten sich seiner mit der unbekümmerten Unwissenheit, die sie allezeit auszeichnete. Schon diese ihre sklavische, und nicht immer uneigennützige Verneigung vor den Kremlspitzen macht sie absolut unfähig zu revolutionärer Initiative. Sie antworten auf kritische Argumente nicht anders als mit Gebrüll und Gebell. Aber droht der Herr mit der Peitsche, so wedeln sie mit dem Schwanz. Für diese wenig reizenden Herrschaften, die in der Stunde der Gefahr nach allen Seiten auseinanderstieben werden, sind wir ausgemachte „Konterrevolutionäre,. Was soll man da tun? Die Geschichte, so gestreng sie ist, entbehrt doch nicht der Possen.

Die ehrlicheren oder klarersehenden „Freunde“ geben allenfalls unter vier Augen die Flecken auf der Sowjetsonne zu, aber sie ersetzen die dialektische Analyse durch eine fatalistische und trösten sich damit, dass eine „gewisse“ bürokratische Entartung unter den gegebenen Umständen geschichtlich unvermeidlich sei. Mag dem so sein! Aber auch der Widerstand gegen diese Entartung fiel nicht vom Himmel. Die Notwendigkeit hat zwei Enden: ein reaktionäres und ein fortschrittliches. Die Geschichte lehrt, dass die Personen und Parteien, die an den beiden Enden der Notwendigkeit ziehen, zuletzt auf den entgegengesetzten Seiten der Barrikade stehen.

Das letzte Argument der „Freunde“ heißt: Kritik am Sowjetregime wird von den Reaktionären aufgegriffen. Ganz unbestreitbar! Sie werden vermutlich auch aus diesem Buch ihren Nutzen zu ziehen suchen. Wann wäre dem je anders gewesen? Schon das Kommunistische Manifest erwähnte verächtlich, wie die feudale Reaktion die Pfeile der sozialistischen Kritik gegen den Liberalismus auszunutzen versuchte. Das hinderte jedoch den revolutionären Sozialismus nicht daran, seinen Weg zu gehen. Das wird auch uns nicht hindern. Die Komintern-Presse freilich versteigt sich zu der Behauptung, unsere Kritik bereite ... die Militärintervention gegen die Sowjets vor, Das ist offenbar so zu verstehen, dass die kapitalistischen Regierungen, sobald sie aus unseren Arbeiten von der Entartung der Sowjetbürokratie erfahren, auf der Stelle eine Strafexpedition ausrüsten werden, um die in den Staub getretenen Grundsätze des Oktober zu rächen. Die Polemiker der Komintern fechten nicht mit Degen, sondern mit Deichselstangen oder anderen noch ungelenkeren Instrumenten. In Wahrheit kann die marxistische Kritik, indem sie die Dinge beim Namen nennt, nur den konservativen Kredit der Sowjetdiplomatie in den Augen der Bourgeoisie erhöben.

Anders ist es bei der Arbeiterklasse und ihren aufrichtigen Anhängern in der Intelligenz. Hier kann unsere Arbeit tatsächlich Zweifel wecken und Misstrauen hervorrufen, nicht zur Revolution, sondern zu ihren Usurpatoren. Allein, das eben ist ja unsere Absicht. Triebfeder des Fortschritts ist die Wahrheit, nicht die Lüge.

 


Zuletzt aktualisiert am 5.1.2004