Leo Trotzki

 

Frankreich an der Wende

Statt eines Vorworts zur zweiten Ausgabe von
En défense du terrorisme
(Terrorismus und Kommunismus)

(1936)


Geschrieben März 1936 als Vorwort zur französischen Ausgabe von Terrorismus und Kommunismus.
Veröffentlicht in deutscher Sprache als Teil der Sammlung Wohin geht Frankreich? (Antwerpen, August 1936).
Transkription: Oliver Fleig.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Dies Buch ist der Erläuterung der Methoden der revolutionären Politik des Proletariats in unserer Epoche gewidmet. Die Darstellung ist eine polemische, wie es die revolutionäre Politik selbst ist. Sobald die Polemik gegen die herrschende Klasse die unterdrückten Massen ergreift, schlägt sie, in einer bestimmten Etappe, in die Revolution um.

Die theoretische Grundlage der revolutionären Politik ist das klare Verständnis für die Klassennatur der gegenwärtigen Gesellschaft, ihres Staats, ihres Rechts, ihrer Ideologie. Die Bourgeoisie operiert mit Abstraktionen („Nation“, „Vaterland“, „Demokratie“), um damit den Ausbeutercharakter ihrer Herrschaft zu verschleiern. Le Temps, eines der ehrlosesten Blätter des Erdballs, lehrt die Volksmassen Frankreichs jeden Tag Patriotismus und Uneigennutz. Indessen ist es für niemanden ein Geheimnis, dass sich der Uneigennutz des Temps selber nach einem bestimmten internationalen Preiskurant taxiert.

Das Erste in der revolutionären Politik ist die Entlarvung der bürgerlichen Fiktionen, die das Bewusstsein der Volksmassen vergiften. Diese Fiktionen werden besonders bösartig, wenn sie mit den Ideen des „Sozialismus“ und der „Revolution“ verquickt werden. Heute mehr denn je geben die Fabrikanten solcher Amalgame in den Arbeiterorganisationen Frankreichs den Ton an.

Die erste Ausgabe dieses Buches spielte eine gewisse Rolle bei Beginn der Formierung der französischen kommunistischen Partei: der Autor vernahm davon seinerzeit nicht wenig Zeugnisse, deren Spuren übrigens unschwer in der Humanité von vor 1924 zu finden sind. In den danach verflossenen 12 Jahren hat in der Kommunistischen Internationale – nach einer Reihe fieberhafter Zickzacks – eine radikale Umwertung der Werte stattgefunden: es genügt zu sagen, dass heute diese Publikation auf dem Index der verbotenen Bücher steht. Ihren Ideen und Methoden nach unterscheiden sich die jetzigen Führer der französischen Kommunistischen Partei (wir sind gezwungen diesen Namen beizubehalten, der sich in absolutem Widerspruch zur Realität befindet) prinzipiell in nichts von Kautsky, gegen den diese Arbeit gerichtet ist: sie sind nur ungleich ungebildeter und zynischer. Der seitens Cachin & Co erlebte Rückfall in Reformismus und Patriotismus wäre an sich schon ein hinreichender Grund für eine Neuausgabe dieses Buches. Es gibt jedoch auch ernstere Beweggründe: sie Wurzeln in der tiefen vorrevoIutionären Krise, welche das Regime der Dritten Republik schüttelt.

Nach achtzehnjähriger Unterbrechung hatte der Autor dieses Buches Gelegenheit, zwei Jahre lang (1933-1935) in Frankreich zu weilen, obgleich nur als provinzieller Beobachter, der obendrein selber unter geheimer Beobachtung stand. Während dieser Zeit spielte sich im Departement lsère, wo der Autor lebte, eine kleine, ganz gewöhnliche und alltägliche Episode ab, die jedoch den Schlüssel zur gesamten französischen Politik liefert. In einem Sanatorium, das dem Comité des Forges gehört, erlaubte sich ein junger Arbeiter, dem eine schwere Operation bevorstand, die revolutionäre Presse zu lesen (richtiger die Presse, die er in seiner Naivität für revolutionär hielt: die Humanité). Die Administration stellte dem unvorsichtigen Kranken, und nach ihm vier anderen, die seine Sympathien teilten, das Ultimatum: entweder auf den Bezug der unerwünschten Publikationen zu verzichten oder sofort auf die Straße geworfen zu werden. Die Berufung der Kranken darauf, dass im Sanatorium ja ganz offen klerikal-reaktionäre Propaganda betrieben werde, half natürlich nicht. Da es sich um einfache Arbeiter handelte, die weder Abgeordnetenmandate noch Ministerportefeuilles riskierten, sondern bloß Gesundheit und Leben, so hatte das Ultimatum keinem Erfolg: die fünf Kranken, der eine am Vorabend der Operation, wurden aus dem Sanatorium hinausgeworfen. Grenoble hatte damals eine sozialistische Gemeindeverwaltung, an deren Spitze Dr. Martin stand, einer jener konservativen Bourgeois, die im Allgemeinen in der sozialistischen Partei den Ton angeben und deren vollendetster Vertreter Léon Blum ist. Die davongejagten Arbeiter machten den Versuch, beim Maire Schutz zu suchen. Vergebens: trotz allen Bemühungen, Briefen, Fürsprachen wurden sie nicht einmal vorgelassen. Sie wandten sich an das linke Lokalblatt La Dépéche, in dem die Radikalen und die Sozialisten ein unzertrennliches Kartell bilden. Als der Direktor der Zeitung erfuhr, dass es sich um ein Sanatorium des Comité des Forges handelte, lehnte er es rundweg ab sich einzumischen: alles was Sie wollen, nur nicht das. Wegen einer solchen Unvorsichtigkeit gegenüber dieser mächtigen Organisation waren der Dépéche schon einmal die Anzeigen entzogen worden und ihr ein Einnahmeverlust von 20.000 Fr. entstanden. Zum Unterschied von den Proletariern hatten der Direktor der „linken“ Zeitung wie der Maire etwas zu verlieren: sie verzichteten daher auf den ungleichen Kampf und überließen die Arbeiter mit ihren kranken Därmen und Nieren dem eigenen Schicksal.

Alle ein, zwei Wochen hält der sozialistische Maire, geplagt von trüben Jugenderinnerungen, eine Rede über die Vorzüge des Sozialismus vor dem Kapitalismus. Während der Wahlen unterstützt die Dépéche den Maire und seine Partei. Alles ist in Ordnung. Das Comité des Forges verhält sich zu dieser Art Sozialismus, der den materiellen Interessen des Kapitals nicht im geringsten schadet, mit liberaler Toleranz. Vermittelst Anzeigen für 20.000 Franken im Jahr (so billig sind diese Herren zu haben!) halten sich die Feudalen der Schwerindustrie und der Banken eine große Kartellzeitung faktisch unterworfen! Und nicht nur sie: das Comité des Forges hat offensichtlich genug mittelbare und unmittelbare Argumente für die Herren Maires, Senatoren, Abgeordneten, darunter auch die sozialistischen. Das ganze offizielle Frankreich steht unter der Diktatur des Finanzkapitals. Im Larousse’schen Lexikon heißt dieses System „Demokratische Republik“.

Den Herren linken Abgeordneten und Redakteuren, nicht nur in der Isère. sondern in allen Departements Frankreichs schien es, als werde ihr friedliches Zusammenleben mit der kapitalistischen Reaktion kein Ende haben. Sie haben sich geirrt. Die längst vom Wurmstich zerfressene Demokratie fühlte plötzlich einen Revolverlauf an ihrer Schläfe. So wie Hitlers Aufrüstung eine rauhe materielle Tatsache –- die gegenwärtige Umwälzung in den Beziehungen zwischen den Staaten verursachte, indem sie offenbarte, wie eitel und trügerisch das sogenannte „internationale Recht“ ist, so brachten die bewaffneten Banden des Oberst de La Rocque die inneren Verhältnisse Frankreichs in eine Wallung, die alle Parteien ohne Ausnahme zwang, sich umzustellen, umzufärben und umzugruppieren.

Friedrich Engels schrieb einmal, der Staat, somit auch die demokratische Republik, das sind Abteilungen bewaffneter Menschen zum Schutz des Eigentums: alles übrige beschönigt oder maskiert nur diese Tatsache. Die beredten Verteidiger des „Rechts“, vom Schlage Herriots oder Blums, haben sich stets über solchen Zynismus empört. Doch Hitler und de La Rocque, jeder auf seinem Gebiet, haben erneut bewiesen, dass Engels Recht hat.

Daladier war Anfang 1934 Ministerpräsident kraft des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts. In seiner Tasche, neben dem Schnupftuch, trug er die nationale Souveränität. Sobald aber die Banden de La Rocques, Maurras & Co zeigten, dass sie zu schießen und Polizeipferden die Sehnen zu zerschneiden wagen, trat der souveräne Daladier seinen Platz einem politischen lnvaliden ab, auf den die Führer der bewaffneten Banden gesetzt hatten. Das ist eine Tatsache, die weitaus bedeutender ist als alle Wahlstatistik, und die aus der jüngsten Geschichte Frankreichs nicht auszulöschen ist, denn sie ist ein Vorzeichen der Zukunft.

Natürlich ist nicht jede mit Revolvern ausgerüstete Gruppe imstande, zu beliebiger Zeit die Richtung des politischen Lebens eines Landes zu ändern. Nur die bewaffneten Abteilungen, die Organe bestimmter Klassen sind, können unter gewissen Umständen eine entscheidende Rolle spielen. Oberst de La Rocque und seine Anhänger wollen die „Ordnung“ vor Erschütterungen bewahren. Da aber die Ordnung in Frankreich gleichbedeutend ist mit Herrschaft des Finanzkapitals über die mittlere und kleine Bourgeoisie, und Herrschaft der Bourgeoisie als Ganzes über das Proletariat und die ihm nahestehenden Schichten, so sind de La Rocques Abteilungen nichts weiter als bewaffnete Stoßtrupps des Finanzkapitals.

Dieser Gedanke ist nicht neu. Ihm kann man sogar auf den Seiten des Populaire und der Humanité häufig begegnen, wenn er von diesen selbstverständlich auch nicht zuerst formuliert wurde. Allein, diese Blätter sprechen nur die halbe Wahrheit aus. Die andere, nicht weniger wichtige Hälfte besagt, dass Herriot und Daladier mit ihren Anhängern ihrerseits ebenfalls eine Agentur des Finanzkapitals sind: anders hätten die Radikalen nicht jahrzehntelang die Regierungspartei Frankreichs sein können. Will man nicht Versteck spielen, so muss gesagt werden, dass de La Rocque und Daladier ein und demselben Herren dienen. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie oder ihre Methoden identisch seien. Im Gegenteil. Sie hassen einander wütend wie zwei spezialisierte Agenturen, von denen jede ein besonderes Heilsgeheimnis besitzt. Daladier verspricht, die Ordnung mit Hilfe der hergebrachten trikoloren Demokratie aufrechtzuerhalten. De La Rocque ist der Meinung, der überlebte Parlamentarismus verdiene hinweggefegt zu werden zugunsten einer offenen Militär- und Polizeidiktatur. Die politischen Methoden sind entgegengesetzt. aber die sozialen Interessen sind dieselben.

Die geschichtliche Ursache des Antagonismus zwischen de La Rocque und Daladier – wir bedienen uns dieser Namen nur der Einfachheit der Darstellung halber – ist der Verfall des kapitalistischen Systems, seine unheilbare Krise, seine Fäulnis. Trotz ununterbrochenen Errungenschaften der Technik und umwälzenden Fortschritten einzelner Industriezweige hemmt der Kapitalismus als Ganzes die Entwicklung der Produktivkräfte, wodurch er äußerste Unsicherheit der sozialen und internationalen Beziehungen erzeugt. Die parlamentarische Demokratie ist unlösbar an die Epoche der freien Konkurrenz und des internationalen Freihandels geknüpft. Die Bourgeoisie konnte Streik-. Versammlungs-, Pressefreiheit so lange dulden, wie. die Produktivkräfte sich aufwärts bewegten, die Absatzmärkte sich erweiterten, der Wohlstand der Massen sich, wenigstens teilweise, hob, und die kapitalistischen Nationen leben und leben lassen konnten. Nicht so heute. Die Sowjetunion ausgenommen, ist die imperialistische Epoche charakterisiert durch Stillstand oder Rückgang des Nationaleinkommens, chronische Agrarkrise und organische Arbeitslosigkeit. Diese Erscheinungen sind der heutigen Phase des Kapitalismus so innerlich eigen, wie Podagra und Aderverkalkung einem bestimmten Alter des Menschen. Das Weltwirtschaftschaos als eine Folge des letzten Krieges erklären, heißt hoffnungslose Oberflächlichkeit im Geiste des Herrn Caillaux, des Grafen Sforza usw. an den Tag legen. Der Krieg war selbst nichts anderes als ein Versuch der kapitalistischen Länder, den bereits hereinbrechenden Krach auf des Gegners Buckel zu wälzen. Der Versuch ist nicht gelungen. Der Krieg hat die Verfallserscheinungen nur noch vertieft; in seiner weiteren Entwicklung bereitet dieser Verfall einen neuen Krieg vor.

So schlecht die französische Wirtschaftsstatistik, die absichtlich die Probleme der Klassengegensätze umgeht, auch ist, die Erscheinungen des eigentlichen sozialen Verfalls kann sie doch nicht verbergen. Bei allgemeiner Senkung des Nationaleinkommens, bei wahrhaft erschreckendem Sturz des Einkommens der Bauern, bei Ruin der kleinen Leute aus der Stadt, bei wachsender Arbeitslosigkeit machen die Riesenunternehmungen mit jährlichen Umsätzen von über 100 bis 200 Millionen glänzende Geschäfte. Das Finanzkapital saugt im vollen Sinne des Wortes dem französischen Volk das Blut aus den Adern. Das ist die soziale Grundlage der Ideologie und der Politik der „nationalen Union“.

Linderungen und Lichtdurchbrüche im Verfallsprozess sind möglich, sogar unvermeidlich, sie bleiben jedoch rein konjunkturell. Die allgemeine Tendenz unserer Epoche aber stellt Frankreich, nach einer Reihe anderer Länder, unabweislich vor die Alternative: entweder muss das Proletariat die durch und durch verfaulte bürgerliche Ordnung stürzen, oder das Kapital muss im Interesse seiner Selbsterhaltung die Demokratie mit dem Faschismus vertauschen. Für wie lange? Auf diese Frage gibt Mussolinis und Hitlers Schicksal die Antwort.

Die Faschisten schossen am 6. Februar l934 auf direkten Auftrag der Börse, der Banken und Truste. Von denselben Kommandohöhen erhielt Daladier Befehl. Doumergue die Macht abzugeben. Und wenn der radikale Premierminister kapitulierte – mit jenem Kleinmut, der die Radikalen überhaupt auszeichnet – so gerade deswegen. weil er in de La Rocques Banden die Stoßgarden seines eigenen Herrn erkannte. Mit anderen Worten; der souveräne Daladier trat Doumergue die Macht aus demselben Grunde ab, aus dem der Direktor der Dépéche und der Bürgermeister von Grenoble es ablehnten, die scheußliche Grausamkeit der Agenten des Comité des Forges an den Pranger zu stellen.

Der Übergang von der Demokratie zum Faschismus ist jedoch schwanger mit der Gefahr sozialer Erschütterungen. Daher das taktische Schwanken und die Meinungsverschiedenheiten bei den Spitzen der Bourgeoisie. Alle Magnaten des Kapitals sind für weitere Verstärkung der bewaffneten Abteilungen, die in der Stunde der Gefahr eine rettende Reserve sein können. Doch welchen Platz ihnen schon heute anweisen, ob man ihnen erlauben soll, zur Attacke überzugehen, oder sie einstweilen nur als Drohung wirken lassen, diese Fragen sind noch ungelöst. Das Finanzkapital glaubt nicht, dass es den Radikalen noch möglich sei, die kleinbürgerlichen Massen hinter sich her zu führen und mit deren Druck das Proletariat im Rahmen der „demokratischen“ Disziplin zu halten. Aber es ist auch nicht davon überzeugt, dass die faschistischen Organisationen, denen bis jetzt noch eine wirkliche Massenbasis fehlt, die Macht erobern und eine starke Ordnung schaffen könnten.

Nicht die parlamentarische Rhetorik, sondern die Empörung der Arbeiter, der allerdings von Jouhaux Bürokratie im Keime erstickte Generalstreikversuch, schließlich die lokalen Aufstände (Toulon, Brest ...) überzeugten die Lenker in den Kulissen von der Notwendigkeit zur Vorsicht. Die Faschisten wurden sanft verwarnt, die Radikalen atmeten ein ganz klein wenig freier. Le Temps, der schon so weit gewesen war, in einer Reihe von Artikeln der „jungen Generation“ Hand und Herz anzutragen, entdeckte von neuem die Vorzüge des dem französischen Genie angemessenen liberalen Regimes. So kam ein unstetiges, Übergangs- und Bastardregime zustande, angemessen nicht dem französischen Genius, sondern dem Untergang der Dritten Republik. An diesem Regime fallen am deutlichsten seine bonapartistischen Züge auf: Unabhängigkeit der Macht von Parteien und Programmen, Liquidierung der parlamentarischen Gesetzgebung vermittelst außerordentlicher Vollmachten, eine Regierung, die sich über die kämpfenden Lager, d.h. faktisch über die Nation erhebt, als ihr „Schiedsrichter“. Die Kabinette Doumergue, Flandin, Laval, alle drei mit unveränderter Teilnahme der kompromittierten und gedemütigten Radikalen, stellen nur leichte Variationen über ein und dasselbe Thema dar.

Bei der Entstehung des Kabinetts Sarraut verkündete Léon Blum, dessen Scharfsinn nur zwei, statt drei Dimensionen besitzt: „Die letzten Auswirkungen des 6. Februar sind auf der parlamentarischen Ebene zerstört“. (Populaire vom 2. Februar 1936). Das heißt man den Schatten der Kutsche mit dem Schatten der Bürste waschen! Als sei überhaupt „auf parlamentarischer Ebene“ der Druck bewaffneter Abteilungen des Finanzkapitals aufzuheben! Als sei es möglich, dass Sarraut diesem Druck nicht unterliegt und nicht vor ihm zittert! In Wirklichkeit stellt die Regierung Sarraut-Flandin eine Abart desselben halbparlamentarischen „Bonapartismus“ dar, nur mit leichter Neigung nach links. Sarraut selbst hat auf Anklagen wegen der von ihm ergriffenen Maßnahmen im Parlament vortrefflich geantwortet: „Sind meine Maßnahmen willkürlich (arbitraires), so weil ich Schiedsrichter (arbitre) sein will“. Dieser Aphorismus hätte sogar im Munde Napoleon III. nicht schlecht geklungen. Sarraut fühlt sich nicht als Bevollmächtigter einer bestimmten Partei oder eines Parteienblocks an der Macht, wie es sich nach den Gesetzen des Parlamentarismus gehört, sondern als Schiedsrichter über Klassen und Parteien, wie es den Gesetzen des Bonapartismus entspricht.

Die Verschärfung des Klassenkampfes und besonders das offene Auftreten der bewaffneten Banden der Reaktion brachten auch die Arbeiterorganisationen in nicht geringen Aufruhr. Die sozialistische Partei, die friedlich die Rolle des fünften Rades am Wagen der Dritten Republik spielte, sah sich gezwungen ihrer kartellistischen Tradition halb zu entsagen und sogar mit ihrem rechten Flügel (den „Neo“) zu brechen Zu eben dieser Zeit machten die Kommunisten die umgekehrte Entwicklung, aber weitaus großzügiger. Mehrere Jahre lang hatten diese Herren von Barrikaden, von der Eroberung der Straße und ähnlichem geschwätzt (das Geschwätz hatte allerdings vorwiegend literarischen Charakter). Jetzt nach dem 6. Februar, als sie begriffen, dass es Ernst wird, stürzten die Barrikadenmeister nach rechts. Dieser natürliche Reflex der erschrockenen Phrasendrescher fiel vortrefflich mit der neuen internationalen Orientierung der Sowjetdiplomatie zusammen.

Unter dein Druck der Gefahr seitens Hitlerdeutschland wandte sich die Kremlpolitik Frankreich zu. Status quo in den internationalen Beziehungen! Status quo in den inneren Verhältnissen Frankreich! Hoffnungen auf die sozialistische Revolution? Hirngespinste! In den führenden Kreisen des Kreml wird vom französischen Kommunismus anders als mit Verachtung gar nicht gesprochen. Man behalte, was man hat, damit es nicht noch schlimmer kommt. Die parlamentarische Demokratie in Frankreich ist ohne die Radikalen nicht vorstellbar: sollen die Sozialisten sie also unterstützen; den Kommunisten wird man befehlen, den Block Blum-Herriot nicht zu stören; wenn möglich sollen sie sich selbst dem Block anschließen. Nur keine Erschütterungen. nur keine Drohung! Das ist der Kurs des Kreml.

Wenn Stalin auf die Weltrevolution verzichtet, wollen die bürgerlichen Parteien Frankreichs das nicht glauben. Wie falsch! Blinde Vertrauensseligkeit ist in der Politik natürlich keine hohe Tugend. Aber auch blindes Misstrauen ist nicht besser. Man muss verstehen, die Worte mit den Taten zu vergleichen und die allgemeine Entwicklungstendenz über einen Zeitraum mehrerer Jahre zu erkennen. Stalins von den Interessen der privilegierten Sowjetbürokratie bestimmte Politik ist ganz und gar konservativ geworden. Die französische Bourgeoisie hat allen Grund, Stalin zu trauen. Um so weniger Grund zum Vertrauen hat das französische Proletariat.

Auf dem Vereinigungskongress der Gewerkschaften [CGT und CGTU] in Toulouse fand der „Kommunist“ Racamond für die Politik der Volksfront eine wahrhaft unsterbliche Umschreibung: „Wie die Schüchternheit der Radikalen Partei besiegen?“ Wie die Angst der Bourgeoisie vor dem Proletariat besiegen? Ganz einfach: die schrecklichen Revolutionäre müssen das Messer, das sie zwischen den Zähnen hatten, wegwerfen, Pomade ins Haar tun und der reizendsten aller Odalisken ein Lächeln entlocken: das wird einen Vaillant-Couturier letzter Ausgabe ergeben. Unter dem Druck der geschniegelten „Kommunisten“, die aus allen Kräften die nach links strebenden Sozialisten nach rechts drängten, musste Blum wiederum die Orientierung wechseln, zum Glück in die altgewohnte Richtung. So entstand die Volksfront, eine Versicherungsgesellschaft gegen den Bankrott der Radikalen auf Kosten des Kapitals der Arbeiterorganisationen.

Der Radikalismus ist untrennbar von der Freimaurerei, und damit ist schon alles gesagt. Während der Debatten im Abgeordnetenhaus über die faschistischen Verbände bemerkte Herr Xavier Vallat, Trotzki habe seinerzeit den französischen Kommunisten „verboten“, den Freimaurerlogen anzugehören. Herr Jammy Schmidt. eine anscheinend hohe Autorität auf diesem Gebiet, erklärte ebendort das Verbot aus der Unvereinbarkeit des despotischen Bolschewismus mit dem „Freigeist“. Über dies Thema mit den radikalen Abgeordneten zu streiten, besteht für uns kein Grund. Aber wir halten auch heute für des geringsten Vertrauens unwürdig jenen Arbeitervertreter, der in der süßlichen Freimaurerreligion der Klassengemeinschaft Anregung oder Trost sucht. Das Kartell war nicht zufällig begleitet von breiter Teilnahme der Sozialisten an der Maskerade der Logen. Jetzt ist die Reihe an den reumütigen Kommunisten, Schürzchen anzulegen! Mit den Schürzchen wird es übrigens den neubekehrten Lehrlingen leichter fallen, den Meistern des Kartells zu dienen.

Aber die Volksfront – erwidert man uns nicht ohne Entrüstung – ist absolut kein Kartell, sondern eine Massenbewegung. Mangel an schwülstigen Definitionen herrscht natürlich nicht, aber an der Sache ändern sie nichts. Bestimmung des Kartells war stets, die Massenbewegung zu bremsen durch Ablenkung ins Bett der Klassengemeinschaft. Das eben ist auch genau die Bestimmung der Volksfront. Der Unterschied zwischen ihnen – und er ist nicht von geringer Bedeutung – ist der, dass das traditionelle Kartell sich in einer verhältnismäßig ruhigen und stabilen Epoche des parlamentarischen Regimes abspielte. Jetzt aber, wo die Massen ungeduldiger und aufbrausender geworden sind, bedarf es einer wirksameren Bremse, mit Beteiligung der „Kommunisten“. Gemeinsame Versammlungen. Paradeumzüge, Schwüre, Verquickung der Kommunardenfahne mit der der Versailler, Lärm, Geschrei, Demagogie – alles dient einem einzigen Zweck: die Massenbewegung zum Stehen zu bringen und zu demoralisieren.

Als Sarraut in der Kammer sich vor der Rechten rechtfertigte, erklärte er, seine harmlosen Zugeständnisse an die Volksfront seien nichts anderes als ein Sicherheitsventil des Regimes. Diese Offenheit mag unvorsichtig scheinen. Sie wurde aber von der äußersten Linken mit stürmischem Applaus belohnt. Wahrlich, Sarraut hatte keine Ursache, sich Zwang anzutun. Auf jeden Fall gelang es ihm, vielleicht nicht ganz bewusst, eine klassische Definition der Volksfront zu geben: Sicherheitsventil gegen die Massenbewegung. Herr Sarraut liebt überhaupt die Aphorismen!

Außenpolitik ist Fortsetzung der Innenpolitik. Gänzlich Verzicht leistend auf den Standpunkt des Proletariats, machen sich Blum, Cachin & Co. unter der Maske der „kollektiven Sicherheit“ und des „internationalen Rechts“ den Standpunkt des nationalen Imperialismus zu eigen. Sie bereiten genau dieselbe Politik der Kriecherei vor, die sie 1911-18 betrieben, nur mit dem Zusatz: „für die Verteidigung der UdSSR“. Indessen, während der Jahre 1918-1923, als die Sowjetdiplomatie ebenfalls nicht wenig zu lavieren und Abkommen zu schließen hatte, konnte nicht eine der Kominternsektionen an einen Block mit der eigenen Bourgeoisie auch nur denken! Ist nicht dies allein schon ein hinreichender Beweis für die Aufrichtigkeit des Stalinschen Verzichts auf die Weltrevolution?

Mit denselben Erwägungen, mit denen die Kominternführer sich an die Brüste der Demokratie hängen in der Periode ihrer Agonie, entdeckten sie das lichte Antlitz des Völkerbundes, als diesen bereits Todeskrämpfe zu schütteln begannen. So entstand, gemeinsam mit den Radikalen und der Sowjetunion die außenpolitische Plattform. Das innenpolitische Programm der Volksfront ist gebraut aus Gemeinplätzen, die nicht weniger freie Deutungen zulassen als der Genfer Covenant. Der allgemeine Sinn des Programms ist: alles bleibt beim Alten. Indessen, die Massen wollen das Alte nicht mehr: darin besteht ja eben das Wesen der politischen Krise.

Das Proletariat politisch entwaffnend, sind die Blum, Paul Faure, Cachin, Thorez vor allem darum besorgt, dass es sich nicht physisch bewaffne. Die Agitation dieser Herren unterscheidet sich in nichts von Pfaffenpredigten über die Vorzüge der Moralgrundsätze. Engels. der lehrte, dass das Problem der Staatsmacht ein Problem von bewaffneten Abteilungen ist, Marx. der den Aufstand als eine Kunst betrachtete, sind für die heutigen Deputierten, Senatoren und Bürgermeister der Volksfront so etwas wie mittelalterliche Barbaren. Der Populaire bildet zum hundertsten Mal die Gestalt eines hungrigen Arbeiters ab mit der Unterschrift: „Ihr werdet schon noch begreifen, dass unsere nackten Fäuste solider sind als alle Eure Gummiknüppel“. Welch erhabene Verachtung für die Militärtechnik! Sogar der abessinische Negus hat in dieser Hinsicht fortschrittlichere Ansichten. Die Umstürze in Italien, Deutschland, Österreich haben für diese Leute anscheinend nicht existiert. Werden sie aufhören, die „nackten Fäuste“ zu besingen, wenn de La Rocque ihnen selbst Handschellen anlegen wird? Mit. unter bedauert man es fast, dass die Herren Führer diese Erfahrung nicht einzeln machen können, ohne dass die Massen betroffen würden.

Vom Standpunkt des bürgerlichen Regimes in seiner Gesamtheit bildet die Volksfront eine Episode im Konkurrenzkampf zwischen Radikalismus und Faschismus um Aufmerksamkeit und Gunst des Großkapitals. Durch ihre theatralischen Verbrüderungen mit Sozialisten und Kommunisten wollen die Radikalen dem Herrn beweisen, dass es um die Sache des Regimes durchaus nicht so schlecht steht, wie rechts behauptet wird, dass die Gefahr der Revolution durchaus nicht so groß ist, dass sogar Vaillant-Couturier das Messer mit der Hundeleine vertauschte, dass man durch die zahmen „Revolutionäre“. die Arbeitermassen disziplinieren und folglich das parlamentarische System vor dem Zusammenbruch retten kann.

Nicht alle Radikalen glauben in gleicher Weise an dieses Manöver: die solideren und einflussreicheren mit Herriot an der Spitze, ziehen es vor, eine abwartende Haltung einzunehmen. Aber auch sie können letzten Endes nichts anderes vorschlagen. Die Krise des Parlamentarismus ist vor allem eine Krise des Vertrauens der Wähler zum Radikalismus. Solange das Mittel zur Verjüngung des Kapitalismus nicht gefunden ist, wird und kann es kein Rezept für die Rettung der radikalen Partei geben. Ihr steht nur frei, zwischen verschiedenen Varianten des politischen Untergangs zu wählen. Selbst ein relativer Erfolg bei den bevorstehenden Wahlen wird ihren Zusammenbruch nicht abwenden und nicht einmal lange aufschieben.

Die Führer der sozialistischen Partei, die leichtfertigsten Politiker von ganz Frankreich, beschweren sich nicht mit der Soziologie der Volksfront: aus Léon Blums endlosen Monologen kann niemand etwas lernen. Was die Kommunisten betrifft, die außerordentlich stolz sind auf ihre Initiative hinsichtlich der Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie, so stellen sie die Volksfront dar als ein Bündnis des Proletariats mit den Mittelklassen. Welche Parodie auf den Marxismus! Die radikale Partei ist durchaus keine Partei des Kleinbürgertums. Sie ist nicht einmal ein „Block der mittleren und der kleinen Bourgeoisie“, nach einer unsinnigen Definition der Moskauer Prawda. Die mittlere Bourgeoisie beutet nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch das Kleinbürgertum aus und ist selber eine Agentur des Finanzkapitals. Ein hierarchisches, auf Ausbeutung begründetes, politisches Verhältnis mit dem neutralen Namen „Block“ belegen, heißt der Wirklichkeit spotten. Ein Kavallerist ist nicht ein Block von Mensch und Pferd. Wenn die Partei der Herriot-Daladier den kleinbürgerlichen, zum Teil sogar den Arbeitermassen rittlings aufsitzt, so nur, um sie im Interesse der kapitalistischen Ordnung einzulullen und zu betrügen. Die Radikalen sind die demokratische Partei des französischen Imperialismus, jede andere Definition ist Lüge.

Die Krise des kapitalistischen Systems entwaffnet die Radikalen, indem sie ihnen die traditionellen Mittel zur Einschläferung des Kleinbürgertums fortnimmt. Die „Mittelklassen“ beginnen zu fühlen, wenn nicht gar zu verstehen, dass die Lage mit schäbigen Reformen nicht zu retten ist, dass ein kühner Bruch mit der herrschenden Ordnung vonnöten ist. Allein, Radikalismus und Kühnheit, sind wie Wasser und Feuer. Der Faschismus nährt sich vor allem von dem wachsenden Misstrauen des Kleinbürgertums zum Radikalismus. Man kann ohne Übertreibung sagen, Frankreichs politisches Schicksal wird sich in erheblichem Masse danach gestalten, wie der Radikalismus liquidiert wird, und wer seine Nachfolge antreten, d.h. über den Einfluss auf die kleinbürgerlichen Massen verfügen wird: der Faschismus oder die Partei des Proletariats.

Eine elementare Wahrheit der marxistischen Strategie lautet, dass das Bündnis des Proletariats mit den kleinen Leuten von Stadt und Land nur im unversöhnlichen Kampf gegen die traditionellen parlamentarischen Vertreter des Kleinbürgertums zu verwirklichen ist. Um die Bauernschaft auf die Seite des Proletariats zu ziehen, heißt es den Bauer dem radikalen Berufspolitiker entreißen, der den Bauer dem Finanzkapital untertänig macht. Im Gegensatz hierzu ist die Volksfront, das Komplott der Arbeiterbürokratie mit den schlimmsten politischen Ausbeutern der Mittelklassen nur imstande, in den Massen den Glauben an den revolutionären Weg zu töten und sie der faschistischen Konterrevolution in die Arme zu treiben.

Es ist kaum zu glauben, doch einige Zyniker versuchen tatsächlich die Volksfrontpolitik mit Hinweisen auf Lenin zu rechtfertigen, welcher nämlich bewies, dass man „ohne Kompromisse“ nicht wegkommt und im Besonderen nicht ohne Abkommen mit anderen Parteien. Der Hohn der heutigen Kominternführer auf Lenin ist zur Regel geworden; sie treten die gesamte Lehre des Erbauers der bolschewistischen Partei mit Füßen, hernach aber wallfahren sie nach Moskau, ihn im Mausoleum zu verehren.

Lenin begann sein Wirken im zaristischen Russland, wo nicht nur das Proletariat und die Bauernschaft, nicht nur die Intelligenz. sondern auch breite Kreise der Bourgeoisie in Opposition zum alten Regime standen. Wenn die Volksfrontpolitik überhaupt irgendwo zu Recht bestehen konnte, scheint es vor allem in einem Lande, das seine bürgerliche Revolution noch nicht vollzogen hat. Die Herren Fälscher täten jedoch gut zu zeigen, auf welcher Etappe, wann und unter welchen Umständen die bolschewistische Partei in Russland so etwas wie eine Volksfront gebildet hätte. Mögen sie nur ihre Einbildungskraft anstrengen und in den historischen Dokumenten herumwühlen.

Der Bolschewismus schloss mit den revolutionären kleinbürgerlichen Organisationen praktische Abkommen, zum Beispiel für gemeinsamen illegalen Transport der revolutionären Literatur, bisweilen zwecks gemeinsamer Organisierung einer Straßendemonstration, mitunter zum Widerstand gegen die Schwarzhundert. Während der Wahlen in die Staatsduma gingen sie unter gewissen Umständen Wahlblocks ein mit den Menschewiki, oder mit den Sozialrevolutionären in zweiter Linie. Das ist auch alles! Weder gemeinsame „Programme“, noch gemeinsame ständige Einrichtungen, noch Verzicht auf Kritik am zeitweiligen Verbündeten. Derartige episodische, begrenzte, streng konkrete Zwecke, Abkommen und Kompromisse – davon und nur davon sprach Lenin! – haben nichts gemein mit einer Volksfront, die ein Konglomerat verschiedenartiger Organisationen darstellt, ein dauerndes Bündnis verschiedener Klassen, verbunden für eine ganze Periode – und was für eine Periode! .-–, gemeinsames Programm und gemeinsame Politik – eine Politik der Paraden, Deklamationen und des Sand-in-die-Augen-Streuens. Bei der ersten ernsten Prüfung wird die Volksfront in Stücke zerbrechen, und alle ihre Bestandteile werden tiefe Risse aufweisen. Die Volksfrontpolitik ist eine Politik des Verrats.

Die Regel des Bolschewismus in der Frage der Blocks lautete :getrennt marschieren, vereint schlagen! Die Regel der heutigen Kominternführer ist :vereint marschieren, um getrennt geschlagen zu werden. Mögen sich diese Herren an Stalin und Dimitroff halten, aber sollen sie gefälligst Lenin in Ruhe lassen!

Man kann nicht ohne Entrüstung die Erklärungen der prahlsüchtigen Führer lesen, wonach die Volksfront Frankreich vor dem Faschismus „bewahrt hat“ :in Wirklichkeit bedeutet dies bloß, dass die gegenseitigen Ermunterungen die schreckhaften Helden vor übertriebener Angst „bewahrten“. Für lange Zeit? Zwischen Hitlers erstem Aufstand und seiner Machtübernahme vergingen zehn Jahre, gekennzeichnet durch häufige Ebbe und Flut. Die deutschen Blum und Cachin haben damals ebenfalls nicht nur einmal ihren „Sieg“ über den Nationalsozialismus ausgeschrien. Wir haben ihnen nicht geglaubt und irrten uns nicht. Diese Erfahrung hat jedoch die französischen Vettern der Wels und Thälmann nichts gelehrt. Zwar beteiligten sich in Deutschland die Kommunisten nicht an der Volksfront, welche die Sozialdemokratie, die bürgerliche Linke und das katholische Zentrum umfasste („ein Bündnis des Proletariats mit den Mittelklassen“!). In jener Periode lehnte die Komintern sogar Kampfabkommen der Arbeiterorganisationen gegen den Faschismus ab. Die Resultate sind bekannt. Das heißeste Mitgefühl mit Thälmann als Gefangenen der Henker kann uns nicht hindern auszusprechen, dass seine, d.h. Stalins Politik zu Hitlers Sieg mehr beitrug als Hitlers Politik selbst. Nach ihrer Kehrtwendung macht die Komintern jetzt in Frankreich die zur Genüge bekannte Politik der deutschen Sozialdemokratie. Ist es da so schwer, die Resultate vorherzusehen?

Die bevorstehenden Parlamentswahlen, wie sie auch ausfallen mögen, werden an sich ernstliche Änderungen in der Lage nicht erbringen: den Wählern bleibt letzten Endes die Wahl zwischen einem Schiedsrichter vom Typ Laval und einem Schiedsrichter vom Typ Herriot-Daladier. Da aber Herriot friedlich mit Laval zusammenarbeitete, und Daladier beide unterstützte, so ist der Unterschied zwischen ihnen, gemessen an den ihnen von der Geschichte gestellten Aufgaben. ganz winzig.

Zu meinen, Herriot-Daladier seien imstande, den „zweihundert Familien“, die Frankreich regieren, den Kampf anzusagen, heißt frech das Volk zum Narren halten. Die zweihundert Familien schweben nicht in der Luft, sondern sind die organische Krönung des Systems des Finanzkapitals. Um mit den zweihundert Familien fertig zu werden, muss man das wirtschaftliche und politische Regime stürzen, an dessen Erhaltung Herriot und Daladier nicht weniger interessiert sind als Flandin und de La Rocque. Es handelt sich nicht um den Kampf der „Nation“ gegen einige wenige Magnaten, wie die Humanité es darstellt, sondern um .den Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie, um Klassenkampf, der nur durch die Revolution entschieden werden kann. Zum Haupthindernis auf diesem Wege wurde das Streikbrecherkomplott der Führer der Volksfront.

Wie lange noch in Frankreich halb parlamentarische, halb bonapartistische Kabinette einander ablösen werden, und durch welche konkreten Etappen überhaupt das Land in der nächsten Periode gehen wird, lässt sich nicht im voraus sagen. Das hängt ab von der internationalen und der nationalen Wirtschaftskonjunktur, von der Weltlage, von der Situation in der UdSSR, von dem Haltbarkeitsgrad des italienischen und deutschen Faschismus, vom Gang der Ereignisse in Spanien, schließlich – und das ist der Bedeutung nach nicht der letzte Faktor – von der Scharfsichtigkeit und Aktivität der vorgeschrittensten Elemente des französischen Proletariats. Zuckungen des Francs können das Ende beschleunigen. Engere Zusammenarbeit Frankreichs mit England ist fähig es hinauszurücken. Die Agonie der „Demokratie“ kann in Frankreich jedenfalls sich weit länger hinziehen, als in Deutschland die vorfaschistische Periode Brüning-Papen-Schleicher dauerte: aber sie hört deswegen nicht auf, Agonie zu sein. Die Demokratie wird hinweggefegt werden. Die Frage ist nur: von wem?

Der Kampf gegen die „200 Familien“, gegen Faschismus und Krieg – für Frieden, Brot, Freiheit und ähnliche schöne Dinge – ist entweder Lüge oder Kampf um den Sturz des Kapitalismus. Das Problem der revolutionären Machteroberung steht vor den Werktätigen Frankreichs nicht als fernes Ziel, sondern als Aufgabe der einsetzenden Periode. Indes, die sozialistischen und kommunistischen Führer verzichten nicht nur auf die revolutionäre Mobilisierung des Proletariats. sondern arbeiten ihr auch aus Leibeskräften entgegen. Brüderschaft mit der Bourgeoisie schließend, jagen und hetzen sie die Bolschewiki. So stark ist ihr Hass gegen die Revolution und ihre Angst vor ihr! Die übelste Rolle spielen unter diesen Bedingungen die Pseudorevolutionäre von der Art Marceau Piverts, die die Bourgeoisie zu stürzen versprechen – aber nicht anders als mit Einwilligung Léon Blums. Der ganze Verlauf der französischen Arbeiterbewegung in den letzten zwölf Jahren hat eine Aufgabe auf die Tagesordnung gestellt: die Schaffung einer neuen, revolutionären Partei.

Raten, ob die Ereignisse für deren Formierung „genügend“ Zeit lassen werden, ist die fruchtloseste aller Beschäftigungen. Der Quell der Geschichte ist schier unerschöpflich an verschiedenen Varianten, Übergangsformen, Etappen, Beschleunigungen und Verzögerungen. Der Faschismus kann unter dem Einfluss wirtschaftlicher Schwierigkeiten vorzeitig losschlagen und eine Niederlage erleiden. Das käme einem langen Fristenaufschub gleich. Umgekehrt kann er aus Vorsicht zu lange in abwartender Position bleiben und dadurch den revolutionären Organisationen neue Chancen geben. Die Volksfront kann an ihren Widersprüchen eher zerbrechen, als der Faschismus imstande ist, den Generalangriff zu eröffnen: das würde eine Periode der Umgruppierungen und Spaltungen in den Arbeiterparteien und der raschen Zusammenschweißung der revolutionären Avantgarde bedeuten. Spontane Massenbewegungen wie Toulon und Brest können breiten Aufschwung erleben und dem revolutionären Hebel starken Nachdruck verleihen. Schließlich muss sogar der Sieg des Faschismus in Frankreich; der theoretisch nicht ausgeschlossen ist, durchaus nicht sein tausendjähriges Reich bedeuten, wie es Hitler weissagt, ja braucht ihm nicht einmal die Frist zu garantieren, über die Mussolini verfügte. Beginnend mit Italien oder Deutschland, würde der Abend des Faschismus bald auch über Frankreich hereinbrechen. In diesem, dem allerungünstigsten Fall, bedeutet die Schaffung der revolutionären Partei die Stunde der Revanche näher rücken. Die gescheiten Leute, die die unaufschiebbare Aufgabe mit den Worten abtun: „die Bedingungen sind nicht reif“, zeigen nur, dass sie selber für die Bedingungen nicht reif sind.

Die Marxisten Frankreichs wie der ganzen Welt haben in gewissem Sinne wieder von vorne anzufangen, aber auf ungleich höherer geschichtlicher Stufe als ihre Vorgänger. Der Fall der Kommunistischen Internationale, schamloser als der Fall der Sozialdemokratie im Jahre 1914, wird in der ersten Zeit die Vorwärtsbewegung ungemein erschweren. Die Gewinnung der neuen Kader wird langsam erfolgen, in erbittertem Kampf gegen die Einheitsfront der reaktionären und patriotischen Bürokratie innerhalb der Arbeiterklasse. Andererseits stellen gerade diese Schwierigkeiten, die nicht zufällig auf das Proletariat einbrechen, eine wichtige Voraussetzung dafür eine richtige Auslese und harte Stählung der ersten Vortrupps der neuen Partei und der neuen Internationale.

Nur ein ganz unbedeutender Teil der Kominternkader begann seine revolutionäre Schulung bei Kriegsanfang, vor dem Oktoberumsturz. Alle diese Elemente befinden sich heute beinahe ohne jede Ausnahme außerhalb der Komintern. Die folgende Schicht schloss sich bereits der siegreichen Oktoberrevolution an, das war leichter. Aber auch von dieser zweiten Auslese ist nur ein winziger Teil erhalten geblieben. Die überwältigende Mehrheit der heutigen Kominternkader hat sich nicht dem bolschewistischen Programm. nicht dem revolutionären Banner, sondern der Sowjetbürokratie angeschlossen. Das sind nicht Kämpfer. sondern folgsame Beamte, Adjutanten, Laufjungen. Darum verfault die Dritte Internationale so ruhmlos in dieser an grandiosen revolutionären Möglichkeiten reichen geschichtlichen Situation.

Die Vierte Internationale erhebt sich auf den Schultern ihrer drei Vorgängerinnen. Die Schläge sausen auf sie ein von vorn, von der Seite und von hinten. Karrieristen, Feiglinge, Philister haben in ihren Reihen nichts zu suchen. Der zu Beginn unvermeidliche Einschlag von Sektierern und Abenteuern siebt sich mit dem Wachsen der Bewegung heraus. Mögen Pedanten und Skeptiker mit den Schultern zucken über die „kleinen“ Organisationen, die so „kleine“ Zeitungen herausgeben und der ganzen Welt den Fehdehandschuh hinwerfen. Ernste Revolutionäre gehen mit Verachtung an den Pedanten und Skeptikern vorüber. Die Oktoberrevolution ging auch einmal in Kinderschuhen ...

Die mächtigen russischen Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, die mit den Kadetten eine „Volksfront“ gebildet hatten, wälzten sich nach einigen Monaten im Staube unter den Schlägen des „Häufchens Fanatiker“ des Bolschewismus. Eines ruhmlosen Todes starben später unter den Schlagen des Faschismus die deutsche Sozialdemokratie, die deutsche Kommunistischen Partei und die österreichische Sozialdemokratie. Die Epoche. die unaufhaltsam über die europäische Menschheit heraufgezogen ist, wird aus der Arbeiterbewegung restlos alles Zweideutige und Faule ausmerzen. All diese Jouhaux, Citrine, Blum, Cachin, Vandervelde, Caballero sind nur Gespenster. Die Sektionen der Zweiten und der Dritten Internationale werden eine nach der anderen ruhmlos von der Bildfläche verschwinden. Eine große Umgruppierung in den Arbeiterreihen ist unvermeidlich. Die jungen revolutionären Kader werden Fleisch und Blut bekommen. Der Sieg ist nur auf Grund der Methoden des Bolschewismus, deren Verteidigung dieses Buch gewidmet ist.

26. März 1936

 


Zuletzt aktualiziert am 21.7.2008