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Auf deutsch erschienen in Unser Wort, Anfang und Mitte Februar 1936.
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Sieht man von der holländischen Revolutionären Sozialistischen Partei, die unter dem Banner der Vierten Internationale steht, ab, so kann man mit Bestimmtheit sagen, dass unter den dem Amsterdamer-Londoner Büro angeschlossenen Parteien die ILP auf dem linken Flügel steht. Zum Unterschied von der SAP, die in der letzten Periode nach rechts, in das Lager des vulgären, kleinbürgerlichen Pazifismus, abschwenkte, machte die ILP unbestreitbar eine ernste Entwicklung nach links durch. An Mussolinis Raubzug nach Äthiopien hat sich das mit aller Deutlichkeit erwiesen. In der Frage des Völkerbundes, der Rolle, die darin der britische Imperialismus spielt, der „Friedens“-Politik der Labour Party hat von der gesamten Arbeiterpresse der New Leader wohl die besten Artikel gebracht. Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und einige gute Aufsätze bestimmen noch nicht die Politik einer Partei. In der Kriegsfrage lässt sich verhältnismäßig leicht eine „revolutionäre“ Stellung einnehmen: überaus schwer aber ist es, aus dieser Einstellung alle notwendigen theoretischen und praktischen Schlussfolgerungen zu ziehen. Allein, gerade darauf läuft die Aufgabe hinaus.
Dem durch die Erfahrung der Jahre 1914-1918 kompromittierten Sozialpatriotismus ist heute im Stalinismus ein neuer Nährboden entstanden. Der bürgerliche Chauvinismus kommt dank diesem Umstand in die Lage, wütend gegen die revolutionären Internationalisten ins Feld zu ziehen. Die schwankenden Elemente, die sogenannten Zentristen, kapitulieren unweigerlich vor dem Andrängen des Chauvinismus eben vor oder zu Beginn des Krieges. Selbstverständlich werden sie sich dabei bemänteln mit Berufung auf die „Einheit“, die Notwendigkeit, sich von den Masseorganisationen nicht zu isolieren usw. Die heuchlerischen Formeln, die den Zentristen zum Verstecken ihrer Feigheit vor der bürgerlichen öffentlichen Meinung dienen, sind mannigfaltig, doch ihr Zweck ist nur einer: die Kapitulation zu verschleiern. „Einheit“ mit den Sozialpatrioten – nicht zeitweiliges gemeinsames Wohnen in ein und derselben Wohnung zum Zwecke des Kampfes gegen sie, sondern Einheit als Prinzip – ist Einheit mit dem eigenen Imperialismus und folglich offener Bruch mit dem Proletariat der anderen Nationalitäten. Das zentristische Prinzip der Einheit um jeden Preis ist die Vorbereitung der bösartigsten Spaltung, nämlich der auf der Linie der imperialistischen Gegensätze. Schon heute sehen wir in Frankreich, wie die Gruppe „Spartacus“, die ins Französische die Ideen der SAP überträgt, namens der „Einheit“ mit den Massen die politische Kapitulation vor Blum predigt, der der Hauptagent des französischen Imperialismus innerhalb der Arbeiterklasse ist und bleibt.
Nach dem Bruch mit der Labour Party trat die ILP in enge Verbindung zur Britischen Kommunistischen Partei und durch diese zur Komintern. Die großen finanziellen Schwierigkeiten, mit denen der New Leader auch jetzt noch kämpft, beweisen, dass die ILP ihre materielle Unabhängigkeit von der Sowjetbürokratie und deren Korruptionsmethoden vollständig zu wahren vermochte. Darüber kann man sich nur freuen. Nichtsdestoweniger blieb die Berührung mit der Kommunistischen Partei nicht ohne Spuren: ihrem Namen zum Trotz ist die ILP nicht wirklich unabhängig geblieben, sondern gleichsam ein Anhängsel der Komintern geworden. Sie schenkte der Massenarbeit, die außerhalb der Gewerkschaften und der Labour Party unmöglich ist, nicht die erforderliche Aufmerksamkeit: statt dessen ließ sie sich von Amsterdam-Pleyel-Paraden der Anti-imperialistischen Liga und anderen Surrogaten der revolutionären Arbeit ins Schlepptau nehmen. Im Endergebnis war sie für die Arbeiter eine kommunistische Partei zweiter Sorte. Diese so unglückliche Lage der ILP war kein Zufall: sie war bestimmt durch den Mangel an einer festen prinzipiellen Basis unter den Füße. Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass der Stalinismus den ILP-Führern mit seinen angegriffenen Formeln, die ein klägliches bürokratisches Falsifikat des Leninismus sind, lange imponierte.
Der Versuch, den der Autor dieser Zeilen vor über zwei Jahren machte, sich mit den ILP-Führern in mehreren Artikeln und Briefen auseinanderzusetzen, hat zu keinem Ergebnis geführt: unsere Kritik an der Komintern erschien den ILP-Führern in der damaligen Periode unzweifelhaft „vorgefasst“ und von „fraktionellen“ oder wohl gar „persönlichen“ Beweggründen diktiert. Es blieb nichts anderes übrig, als die Zeit ihr Wort sprechen zu lassen. Die letzten zwei Jahre waren für die ILP arm an Erfolgen, aber reich an Erfahrung. Die sozialpatriotische Entartung der Komintern, unmittelbarer Ausdruck der Theorie und Praxis des „Sozialismus in einem Lande“, ist aus einer Voraussage zur lebendigen und unbestreitbaren Tatsache geworden. Ist den ILP-Führern der Sinn dieser Tatsache aufgegangen? Sind sie bereit und fähig, daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen? Von der Antwort auf diese Frage hängt das weitere Schicksal der ILP ab.
Vom Pazifismus zur proletarischen Revolution – das ist zweifelsohne die allgemeine Entwicklungstendenz der ILP. Aber diese Entwicklung ist noch längst nicht zu einem vollendeten Programm gediehen. Schlimmer: nicht unbeeinflusst durch die alte und erfahrenen opportunistischen Kombinatoren der deutschen SAP, haben die ILP-Führer gleichsam auf halbem Wege Halt gemacht und treten auf der Stelle.
In den nachstehenden kritischen Zeilen wollen wir hauptsächlich bei zwei Fragen verweilen: der Haltung der ILP zum Generalstreik im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Krieg, und der Position der ILP zur Frage der Internationale. Hier wie dort stoßen wir auf Elemente der Halbheit: in der Frage des Generalstreiks nimmt die Halbheit die Form der verantwortungslosen radikalen Phrase an; in der Frage der Internationale bleibt die Halbheit vor radikalen Entscheidungen stehen. Allein, der Marxismus und der Leninismus als seine direkte Fortsetzung vertragen in keiner Weise weder Hang zur radikalen Phrase noch Angst vor radikalen Entscheidungen.
Die Frage des Generalstreiks hat eine lange und reiche Geschichte, sowohl theoretisch wie praktisch. Allein, die ILP-Führer tun, als seien sie die ersten, die auf den Gedanken des Generalstreiks als Mittel, den Krieg abzuwenden, gekommen sind. Das ist ihr größter Fehler. Gerade in der Frage des Generalstreiks darf man nicht improvisieren. Die Welterfahrung des Kampfes der letzten 40 Jahre hat im Grundlegenden bestätigt, was Engels Ende des letzten Jahrhunderts über den Generalstreik, und zwar hauptsächlich auf Grund der Erfahrung der Chartisten, zum Teil der Belgier, gesagt hat. Die österreichischen Sozialdemokraten vor einem zu leichtfertigen Verhalten zum Generalstreik warnend, schrieb Engels am 3. November 1893 an Kautsky: „Du sagst selbst, Barrikaden seien veraltet (sie können aber wieder nützlich werden, sobald die Armee zu einem Drittel bis zwei Fünftel sozialistisch ist und es drauf ankommt, ihr Gelegenheit zum Umfallen zu geben), aber der politische Strike muss entweder sofort siegen (wie in Belgien, wo de Armee sehr wacklig war) – oder aber in einer kolossalen Blamage endigen, oder schließlich direkt auf die Barrikaden führen.“ Diese geballten Zeilen bringen, beiläufig gesagt, Engels’ Ansichten in einer ganzen Reihe von Fragen bemerkenswert zum Ausdruck. Wie viel Streit hat es nicht gegeben um das bekannte Vorwort Engels’ zu Marx’ Klassenkämpfen in Frankreich (1895), das seinerzeit in Deutschland aus Zensurrücksichten gemildert und zurechtgestutzt worden war. Hunderte und Tausende von Malen haben die Philister aller Färbungen in den letzten 40 Jahren versichert, „Engels selber“ habe ein für allemal die „romantischen“ Methoden des Straßenkampfes verworfen. Aber man braucht nicht die Vergangenheit anzurufen. Es genügt, das heutige, ungewöhnlich dumme und flache Geschreibsel darüber der Paul Faure, Lebas usw. zu lesen, für die schon die bloße Frage des bewaffneten Aufstandes „Blanquismus“ ist. Indessen, wenn Engels etwas verwarf, so erstens den Putsch, d.h. das unzeitgemäße Hervortreten einer kleinen Minderheit, und zweitens die veralteten, d.h. den neuen technischen Bedingungen nicht mehr entsprechenden Formen und Methoden des Straßenkampfes. In dem angeführten Brief stellt Engels, nebenbei, gleichsam als spräche er von etwas Selbstverständlichem, Kautsky richtig: die Barrikaden sind nur in dem Sinne „veraltet“, dass die bürgerliche Revolution der Vergangenheit angehört und die Zeit für die sozialistischen Barrikaden noch nicht angebrochen ist. Die Armee muss zu einem Drittel, oder noch besser zu zwei Fünfteln (natürlich sind diese Zahlen nur zur Illustrierung gegeben), von Sympathie für den Sozialismus erfüllt sein, dann wird der Aufstand kein „Putsch“ sein, dann wird die Barrikade wieder Bürgerrecht erlangen – natürlich nicht die von 1848, sondern die neue „Barrikade“, die jedoch demselben Ziel dient: den Angriff der Armee auf die Arbeiter aufzuhalten, den Soldaten Gelegenheit und Zeit zu geben, die Kraft des Aufstandes zu spüren, und auf diese Weise die günstigsten Voraussetzungen für den Übergang der Armee auf die Seite der Aufständischen zu schaffen. Wie weit entfernt sind diese Zeilen Engels – nicht des Jünglings, sondern des 73-jährigen Greises! – von der stumpfsinnigen und reaktionäre Einstellung zur Barrikade als einem Stück „Romantik“. Kautsky hat sich herbeigelassen, diesen bemerkenswerten Brief erst jetzt, 1935, zu veröffentlichen! Ohne direkte Polemik gegen Engels, den er nie verstanden hat, erklärt Kautsky selbstzufrieden in einer besonderen Anmerkung, er selbst habe 1893 einen Artikel veröffentlicht, in den er die „Vorzüge der demokratisch-proletarischen Kampfmethode in demokratischen Ländern verglichen mit der Gewaltpolitik entwickelte“. Diese Worte von den „Vorzügen“ (als ob das Proletariat freie Wahl hätte!) klingen besonders gut heutzutage, wo die Politik der Weimarer Demokratie, nicht ohne Kautskys zutun, restlos alle ihre ... „Vorzüge“ offenbart hat. Um keinen Raum für Zweifel an seinem Verhältnis zu Engels’ Ansichten zu lassen, fügte Kautsky hinzu: „Ich trat für dieselbe Politik ein, die ich heutzutage verteidige“. Um „dieselbe Politik“ zu verteidigen, musste Kautsky nur tschechoslowakischer Untertan werden: außer dem Pass hat sich nichts verändert.
Aber kehren wir zu Engels zurück. In Bezug auf den Generalstreik unterscheidet er, wie wir gesehen haben, drei Fälle:
1. Die Regierung fürchtet den Generalstreik und tritt bereits ganz zu Beginn, ohne es zum offenen Zusammenstoß kommen zu lassen, den Rückzug an. Engels weist auf den „wackligen“ Zustand der Armee in Belgien hin als der Grundvoraussetzung für den Erfolg des belgischen Generalstreiks (1893). Etwas ähnliches, nur in grandioserem Maßstab, ging in Russland im Oktober 1905 vor sich. Nach dem unglücklichen Ausgang des russisch-japanischen Krieges war oder schien wenigstens die Zarenarmee äußerst unzuverlässig. Tödlich erschrocken über den Streik machte die Regierung die ersten konstitutionellen Zugeständnisse (Manifest vom 17. Oktober 1905).
Es ist jedoch ganz klar, dass die herrschende Klasse, ohne zu entscheidenden Kämpfen Zuflucht zu nehmen, nur solche Zugeständnisse machen kann, die die Grundlage ihrer Herrschaft nicht antasten. So stand es eben in Belgien und in Russland. Sind derartige Fälle auch in Zukunft möglich? Sie sind unausbleiblich in den Ländern des Ostens. Sie sind, allgemein gesprochen, weniger wahrscheinlich in den westlichen Ländern, wenngleich sie auch hier als Teilepisoden der sich entfaltenden Revolution in Frage kommen.
2. Wenn die Armee zuverlässig genug ist und die Regierung sich sicher fühlt, wenn der politische Streik von oben ausgerufen und gleichzeitig nicht auf Entscheidungskämpfe, sondern nur als „Schreck“ für den Feind berechnet ist, so kann er leicht zu einem einfachen Abenteuer werden und sich sein Mangel an Festigkeit herausstellen. Dem ist noch hinzuzufügen, nach den ersten Erfahrungen des Generalstreiks, die durch die bloße Neuheit auf die Einbildungskraft der Volksmassen wie der Regierung wirkten, kamen – lässt man die halbvergessenen Chartisten beiseite – einige Jahrzehnte, während derer die Strategen des Kapitals eine gewaltige Erfahrung ansammelten. Darum fordert der Generalstreik, besonders in den alten kapitalistischen Ländern, eine sorgfältige marxistische Berechnung aller konkreten Umstände.
3. Bleibt schließlich jener Generalstreik, der nach Engels’ Ausspruch „direkt auf die Barrikaden führt“. Ein solcher Generalstreik kann sowohl mit einem vollständigen Sieg wie mit einer Niederlage enden. Doch das Ausweichen vor der Schlacht, wenn sie durch die objektive Lage aufgezwungen ist, wird unvermeidlich zur verhängnisvollsten und demoralisierendsten Niederlage führen. Der Ausgang des revolutionären, aufständischen Generalstreiks hängt natürlich von Kräfteverhältnis ab, das sich aus einer sehr großen Anzahl von Faktoren zusammensetzt: die Klassengliederung der Gesellschaft, das spezifische Gewicht des Proletariats, die Stimmung der unteren Schichten des Kleinbürgertums, die soziale Zusammensetzung und die politischen Stimmungen der Armee usw. Nicht an letzter Stellung unter den Voraussetzungen des Sieges steht jedoch eine richtige revolutionäre Führung, ein klares Verständnis der Voraussetzungen und Methoden des Generalstreiks und seines Übergangs in den offeneren revolutionären Kampf.
Engels’ Einteilung soll man selbstverständlich nicht dogmatisch nehmen. Im heutigen Frankreich geht es zweifelsohne nicht um Teilzugeständnisse, sondern um die Macht: das revolutionäre Proletariat oder der Faschismus? Die Arbeitermassen wollen den Kampf, aber die Führung bremst, täuscht und demoralisiert die Arbeiter. Der Generalstreik kann ebenso auflodern wie die Bewegungen in Toulon und Brest. Unter diesen Umständen wird der Generalstreik unabhängig von seinem unmittelbaren Ergebnis, natürlich kein „Putsch“ sein, sondern eine notwendige Etappe im Massenkampf, ein unerlässliches Mittel, sich von der verräterischen Führung zu befreien und in der Arbeiterklasse selbst die Vorbedingungen für den siegreichen Aufstand zu schaffen. In diesem Sinne ist die Politik der französischen Bolschewiki-Leninisten durchaus richtig, die die Losung des Generalstreiks aufstellen und die Voraussetzungen seines Sieges darlegen. Gegen diese Losung treten die Spartakisten auf, die französischen Vertreter der SAP, die schon jetzt, zu Beginn des Kampfes, die Rolle von Streikbrechern zu spielen beginnen.
Schließlich ist noch eine „Kategorie“ des Generalstreiks zu nennen, die Engels nicht aufgezeigt hat, und deren Muster und England, Belgien, Frankreich sowie einige andere Länder geliefert hat: will sagen die Fälle, wo die Streikführer im voraus, d.h. vor dem Kampf, mit dem Klassenfeind über seinen Ablauf und Ausgang verhandeln. Die Parlamentarier und Trade-Unionisten sehen in einem bestimmten Augenblick die Notwendigkeit, der wachsenden Empörung der Massen ein Ventil zu verschaffen, oder sind einfach gezwungen, sich schleunigst der Bewegung anzuschließen, die neben ihnen aufflammt. In diesen Fällen laufen sie über die Hintertreppe zur Regierung und überlassen ihr die Entscheidung über die Führung des Generalstreiks, wobei sie sich verpflichten, ihn so bald wie möglich und ohne Zerschlagung des Regierungsgeschirrs zu beenden. Zuweilen – längst nicht immer – gelingt es ihnen, dabei im Voraus nichtige Zugeständnisse zu erhandeln, die ihnen selbst als Feigenblatt zu dienen haben. So handelte der Generalrat des britischen Gewerkschaftsrats (TUC) im Jahre 1926. So handelte 1934 Jouhaux. So werden sie auch weiterhin handeln. Die Enthüllung dieser ehrlosen Schiebungen hinter dem Rücken des kämpfenden Proletariats ist ein unerlässlicher Bestandteil der Vorbereitung des Generalstreiks.
Zu welchem Typus gehört der Generalstreik, den die ILP speziell für den Mobilisierungsfall vorsieht als Mittel, dem Kriege bei seinem Ausbruch Einhalt zu gebieten. Sagen wir es sogleich: dem unüberlegtesten und unerträglichsten aller möglichen Typen. Wir wollen damit nicht sagen, die Revolution könne auf keinen Fall mit der Mobilisierung oder dem Kriegsausbruch zusammenfallen. Wenn im Lande eine breite revolutionäre Bewegung sich ausbreitet, wenn an ihrer Spitze eine revolutionäre Partei steht, die das Vertrauen der Massen genießt und im Stande ist, bis ans Ende zu gehen, wenn die Regierung den Kopf verloren hat und trotz der revolutionären Krise oder just infolge dieser Krise Hals über Kopf in ein Kriegsabenteuer stürzt, so kann die Mobilisierung den Massen als mächtiger Anstoß dienen und zum Generalstreik der Eisenbahn, zur Verbrüderung der Mobilgemachten und der Arbeiter, zur Besetzung der Hauptknotenpunkte, zum Zusammenstoß der Aufständischen mit der Polizei und den reaktionären Teilen der Truppen, zur Gründung lokaler Arbeiter- und Soldatenräte, schließlich zur völligen Unterwerfung der Regierung und folglich zur Abwendung das Krieges führen. Solche Fälle sind theoretisch möglich. Ist jeder Krieg – nach Clausewitz’ Worten – die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, so ist auch der Kampf gegen den Krieg der Fortsetzung der vorherigen Politik der revolutionären Klasse und ihrer Partei. Daraus ergibt sich: der Generalstreik kann auf der Tagesordnung stehen als Mittel des Kampfes gegen Mobilmachung und Krieg nur in dem Falle, wo die ganze vorhergehende Entwicklung des Landes die Revolution und den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung gestellt haben. Doch aufgefasst als „Spezial“mittel des Kampfes gegen die Mobilmachung ist der Generalstreik ein reines Abenteuer. Lässt man den möglichen, aber doch Ausnahmefall beiseite, wo sich die Regierung in den Kampf stützt, um der unmittelbar drohenden Revolution zu entgehen, so bleibt die allgemeine Regel die, dass die Regierung sich sowohl vor, während wie nach der Mobilmachung ungeheuer stark fühlt und folglich am allerwenigsten geneigt ist, sich durch einen Generalstreik einschüchtern zu lassen. Die patriotischen Stimmungen, die die Mobilmachung begleiten, zusammen mit dem Militärterror machen selbst die Durchführung des Generalstreiks in der Regel zu einem hoffnungslosen Beginnen. Die kühnsten Elemente, die sich der Lage ungeachtet in den Kampf stürzen, werden zermalmt. Die Niederlage und teilweise Ausrottung der Vorhut wird für lange Zeit die revolutionäre Arbeit in der Atmosphäre der Zufriedenheit, die den Krieg begleitet, erschweren. Der künstlich erzeugte Streik muss unweigerlich als Putsch und als Hindernis auf dem Weg der Revolution enden.
In ihren im April 1935 angenommenen Thesen schreibt die ILP: „Die Politik der Partei zielt ab auf den Generalstreik, um dem Krieg Einhalt zu gebieten und auf die soziale Revolution in dem Falle, das er stattfindet.“ Eine erstaunlich präzise, aber leider ganz fiktive Verpflichtung! Der Generalstreik wird hier von der sozialen Revolution nicht nur abgetrennt, sondern ihr sogar gegenübergestellt als spezifisches Mittel, „dem Krieg Einhalt zu gebieten“. Dies ist eine alte, vom Leben selbst überholte, Vorstellung der Anarchisten. Ein Generalstreik ohne siegreichen Aufstand kann den Krieg nicht „aufhalten“. Ist unter den Umständen der Mobilmachung der Aufstand unmöglich, dann ist es auch der Streik.
In einem der folgenden Paragraphen lesen wird: „Die ILP wird zum Generalstreik gegen die britische Regierung aufrufen, wenn dies Land, auf welche Weise auch immer, sich in einen Angriff auf die Sowjetunion hineinreißen lässt“ Wenn mit einem Generalstreik jedem Krieg Einhalt zu gebieten ist, so gilt dies natürlich um so mehr für den Krieg gegen die UdSSR. Aber hier treten wir in das Reich der Illusionen: in die Thesen den Generalstreik als Strafe für ein bestimmtes kriminelles Verbrechen einschreiben, heißt der Sünde der radikalen Phrase verfallen. Könnte man den Generalstreik nach Belieben hervorrufen, so wäre es das beste, es heute zu tun, um die britische Regierung zu hindern, Indien zu erwürgen und mit Japan an der Erwürgung Chinas zusammenzuarbeiten. Die ILP-Führer werden uns natürlich antworten, dass sie dazu nicht in der Lage sind. Doch nichts gibt ihnen das Recht anzunehmen, dass sie am Mobilmachungstage in der Lage sein werden, den Generalstreik zu verkünden. Und wenn sie es können, wozu sich dann auf den Streik beschränken? In Wirklichkeit wird sich das Verhalten einer Partei während der Mobilmachung aus ihren vergangenen Erfolgen und aus der Gesamtlage ergeben. Das Ziel der revolutionären Politik soll ja doch nicht ein isolierter Generalstreik als spezielles Mitte, „dem Krieg Einhalt zu gebieten“, sein, sondern die proletarische Revolution, in die der Generalstreik als unvermeidlicher oder überaus wahrscheinlicher Bestandteil eingehen wird.
Die ILP hat mit der Labour Party hauptsächlich um der Unabhängigkeit ihrer Parlamentsfraktion willen gebrochen. Wir treten hier nicht in die Erörterung der Frage ein, ob der Bruch im damaligen Augenblick richtig war, und ob der ILP daraus der Gewinn erwuchs, den sie sich davon erhoffte. Wir glauben nicht. Aber Tatsache bleibt, dass für jede revolutionäre Organisation in England das Verhältnis zu den Massen, zur Klasse, beiahe zusammenfällt mit dem Verhältnis zur Labour Party, die sich auf die Trade-Unions stützt. Die Frage, ob gegenwärtig inner- oder außerhalb der Labour Party arbeiten, ist keine prinzipielle, sondern eine Frage der realen Möglichkeiten. Auf jeden Fall – ohne starke Fraktion in den Trade-Unions und somit auch in der Labour Party ist die ILP heute zur Ohnmacht verurteilt. Indessen hat die ILP lange Zeit hindurch der „Einheitsfront“ mit der winzigen Kommunistischen Partei viel größere Bedeutung beigelegt als der Arbeit in den Massenorganisationen. Die Politik des oppositionellen Flügels in der Labour Party halten die ILP-Führer für falsch aus ganz überraschenden Erwägungen: nämlich „sie (die Oppositionellen) kritisieren die Führung und die Politik der Partei, können aber in Anbetracht der massiven Abstimmungen (Kollektivmandate) und der Organisationsformen der Partei weder den Personenstab noch die Politik des Exekutivkomitees und der Parlamentsfraktion in einem solchen Zeitraum ändern, dass der Reaktion, dem Faschismus und dem Kriege Widerstand geleistet werden könnte“ (S.8). Die Politik der Labour Party ist entsetzlich schlecht. Aber das bedeutet nur, dass es ihr in der Labour Party eine andere, richtige marxistische Politik gegenüberzustellen gilt. Das ist nicht leicht? Gewiss! Doch man muss verstehen, seine Arbeit bis zu einer gewissen Zeit vor den Polizeiaugen des Lord Citrine und seiner Agenten zu verbergen. Der marxistischen Fraktion wird es nicht gelingen, die Struktur und die Politik der Labour Party zu ändern? Das ist ganz unsere Meinung: die Bürokratie wird sich nicht ergeben. Aber den Revolutionären kann und muss es bei gleichzeitigem Ansetzen von außen und von innen gelingen, Zehn- und Hunderttausende von Arbeitern zu gewinnen. Die Kritik der ILP an der linken Fraktion in der Labour Party ist ganz sichtlich gekünstelt. Mit viel mehr Berechtigung kann man sagen: die kleine ILP, die sich mit der diskreditierten Kommunistischen Partei zusammengetan und sich so von den Massenorganisationen isoliert hat, hat erst recht keine Aussichten, zur Massenpartei zu werden, in einem solchen Zeitraum, dass der kapitalistischen Reaktion, dem Faschismus und dem Krieg Widerstand geleistet werden könnten.
Im nationalen Rahmen hält die ILP also ein unabhängiges Dasein der revolutionären Organisation schon in diesem Augenblick für erforderlich. Die marxistische Logik verlangt, sollte es scheinen, dass diese Betrachtungsweise auch aufs internationale Gebiet übertragen werde. Der Kampf gegen den Krieg und für die Revolution ist ohne Internationale undenkbar. Wenn die ILP ihr eigenes Dasein neben der Kommunistischen Partei und folglich gegen die Kommunistische Partei, für notwendig hält, so erkennt sie damit die Notwendigkeit der Schaffung einer neuen Internationale – gegen die Komintern – an. Aber diese Schlussfolgerung wagt die ILP nicht zu ziehen. Warum?
Wenn die ILP glaubte, die Komintern sei reformierbar, wäre sie verpflichtet, in sie einzutreten, um für diese Reform zu arbeiten. Wenn aber die ILP überzeugt ist, dass die Komintern unverbesserlich ist, dann ist sie verpflichtet, mit uns den Kampf für die Vierte Internationale aufzunehmen. Die ILP macht weder das eine noch das andere. Sie bleibt auf halbem Wege stehen. Sie gedenkt, die „freundschaftliche Zusammenarbeit“ mit der Komintern aufrechtzuerhalten. Wenn sie zum nächsten Kongress eingeladen wird – so steht buchstäblich in den Thesen vom April dieses Jahres geschrieben! – so wird sie dort ihre Position und die Interessen der „Einheit des revolutionären Sozialismus“ verteidigen. Die ILP wartete also auf eine „Einladung“ in die Internationale. Das heißt, in Bezug auf die Internationale hat sie die Psychologie eines Gastes und nicht die eines Hausherrn. Allein, die Komintern hat die ILP nicht eingeladen. Was ist da nun zu tun?
Vor allem heißt es begreifen, dass wirklich unabhängige Arbeiterparteien – unabhängig nicht nur von der Bourgeoisie, sondern auch von den beiden bankrotten Internationalen – nicht anders aufgebaut werden können als durch engen internationalen Zusammenhalt untereinander, auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien, unter Voraussetzung eines lebendigen Austauschs der Erfahrungen und wachsamer gegenseitiger Kontrolle. Der Gedanke, dass zuvor nationale Parteien (welche? Auf welchen Grundlagen?) entstehen müssten, um sich erst dann zur neuen Internationale zusammenzuschließen (wie soll dabei wohl die gemeinsame prinzipielle Basis gewährleistet werden?) ist ein karikaturenhafter Abklatsch der Geschichte der Zweiten Internationale; sowohl die erste wie die dritte wurden anders aufgebaut. Heute aber, in den Verhältnissen der imperialistischen Epoche, nachdem die proletarische Vorhut aller Länder der Welt eine gigantische gemeinsame Erfahrung von vielen Jahrzehnten hinter sich hat, darunter auch die Erfahrung des Zusammenbruchs der beiden Internationalen, ist es absolut unvorstellbar, neue marxistische, revolutionäre Parteien zu errichten, ohne direkten Zusammenhang mit dem gleichen Aufbau in den anderen Ländern. Das aber eben ist der Aufbau der Vierten Internationale.
Allerdings hat die ILP eine gewisse internationale Vereinigung in Reserve: das Londoner Büro (IAG). Ist das der Anfang für eine neue Internationale? Nein, auf keinen Fall. Entschiedener noch als alle anderen Teilnehmer ist die ILP gegen „Spaltung“: nicht umsonst schrieb das Büro der abgespaltenen Organisationen auf seine Fahnen ... die „Einheit“. Einheit mit wem? De ILP möchte sehr gern, dass alle revolutionär-sozialistischen Organisationen und alle Kominternsektionen sich in einer einzigen gemeinsamen Internationale vereinigen und dass diese Internationale ein gutes Programm hat. Mit guten Vorsätzen ist der Weg zur Hölle gepflastert. Die Position der ILP ist um so hoffnungsloser, als in der Londoner Vereinigung selbst niemand sie teilt. Andererseits strebt die Komintern, die aus der Theorie des Sozialismus in einem Lande sozialpatriotische Schlussfolgerungen zieht, heute ein Bündnis mit den starken reformistischen Organisationen an und keineswegs mit den schwachen revolutionären Gruppen. Die Aprilthesen der ILP trösten uns: „dafür sind sie (das heißt die anderen Organisationen der Londoner Vereinigung) einer Meinung darüber, dass die Frage der neuen Internationale heute eine theoretische (!) ist, und dass die Form (!), die die wiederhergestellte Internationale annehmen wird, abhängt von den Ereignissen (!) und der Entwicklung der wirklichen Kämpfe der Arbeiterklasse“ (S.20). Eine bemerkenswerte Betrachtung! De ILP schlägt vor, die „revolutionär-sozialistischen Organisationen“ mit den Sektionen der Komintern zu vereinigen, aber weder die einen noch die andren wünschen diese Vereinigung, genauso wenig können sie sie wünschen. „Dafür“, so tröstet sich die ILP, sind die revolutionär-sozialistischen Organisationen einer Meinung ... worüber? Darüber, dass man jetzt noch nicht voraussehen kann, welche „Form“ die wiederhergestellte Internationale haben wird. Aus diesem Grunde ist die Frage der Internationale („Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“) eine theoretische. Mit demselben Recht kann man die Frage des Sozialismus für theoretisch erklären, denn es ist unbekannt, welche Form er annehmen wird. Außerdem kann man die sozialistische Revolution ja auch nicht mit Hilfe einer „theoretischen“ Internationale durchführen.
Die Frage der nationalen Partei und die Frage der Internationale stehen für die ILP auf zweierlei Ebenen. Die Gefahr des Faschismus und des Kriegs fordert, hören wir, sofortige Arbeit an der Schaffung der nationalen Partei. Was die Internationale betrifft, so ist diese Frage eine „theoretische“. In nichts anderem kommt der Opportunismus so klar und so unbestreitbar zum Ausdruck wie in dieser prinzipiellen Gegenüberstellung der nationalen Parteien und der Internationale. Die Fahne der „revolutionär-sozialistischen Einheit“ soll nur das gähnende Loch in der ILP verhüllen. Haben wir nicht Recht zu sagen: die Londoner Vereinigung ist ein provisorisches Asyl für Schwankende, Obdachlose oder für die, die hoffen, in eine der bestehende Internationalen „eingeladen“ zu werden?
Während die ILP der Kommunistischen Partei eine „revolutionäre und theoretische Basis“ zugesteht, findet sie in deren Verhalten „Sektierertum“. Diese Charakteristik ist oberflächlich, einseitig, im Grunde glatt unwahr. Von welcher „theoretischer Basis“ spricht die ILP? Vom Marxschen Kapital, von Lenins Schriften, von den Resolutionen der ersten Kominternkongresse? Oder von dem eklektischen Programm, das die Komintern 1928 annahm, von der unseligen Theorie der „Dritten Periode“ oder des „Sozialfaschismus“ oder schließlich von den letzten sozialpatriotischen Offenbarungen?
Die ILP-Führer tun (wenigstens war das bis gestern so), als hätte die Komintern die von Lenin gelegte theoretische Basis bewahrt. Sie setzen, mit anderen Worten, Leninismus mit Stalinismus gleich. Allerdings bringen sie es nicht über sich, das geradeheraus zu sagen. Doch, indem sie den gewaltigen kritischen Kampf, der sich zuerst in der Komintern und dann jenseits ihrer Grenzpfähle abspielte, mit Schweigen übergehen, indem sie sich weigern, den Kampf der „Linken Opposition“ (Bolschewiki-Leninisten) zu studieren und dazu Stellung zu nehmen, zeigen sich die ILP-Führer, was die Fragen der Weltbewegung betrifft, als rückständige Provinzler. Damit zollen sie den überlebten Traditionen der englischen Arbeiterbewegung Tribut. In Wirklichkeit hat die Komintern überhaupt keine theoretische Basis. Ja, welche theoretische Basis sollte es auch dort geben, wo Führer von gestern wie Bucharin für „bürgerliche Liberale“ erklärt, Führer von vorgestern wie Sinowjew als „Konterrevolutionäre“ ins Gefängnis gesperrt werden, und wo die Manuilski, Losowski, Dimitroff ebenso wie Stalin selbst sich überhaupt niemals mit theoretischen Fragen abgegeben haben?
Nicht weniger verfehlt ist der Satz vom „Sektierertum“. Der bürokratische Zentrismus, der die Arbeiterklasse zu kommandieren sucht, ist nicht Sektierertum, sondern spezifische Äußerung der Selbstherrschaft der Sowjetbürokratie. Da diese Herren sich die Finger verbrannt haben, kriechen sie heute demütig vor dem Reformismus und dem Patriotismus auf dem Bauche. Die ILP-Führer haben den SAP-Führern (schlechte Ratgeber!) aufs Wort geglaubt, dass bis auf das „ultralinke Sektierertum“ mit der Komintern alles ganz in Ordnung sei. Inzwischen hat der siebte Kongress die letzten Überreste des „Ultralinkstums“ abgelegt; doch ist die Komintern damit nicht höher gestiegen, sondern vielmehr noch tiefer gesunken und allen Rechts auf selbständiges politisches Dasein verlustig gegangen. Denn für die Blockpolitik mit der Bourgeoisie und patriotische Verführung der Arbeiter sind die Parteien der Zweiten Internationale jedenfalls weit mehr geeignet; sie blicken auf eine ansehnliche opportunistische Vergangenheit zurück und erregen bei den bürgerlichen Parteien viel weniger Argwohn.
Meinen die ILP-Führer nicht, dass sie nach dem Siebten Kongress ihr Verhalten zur Komintern radikal prüfen sollten? Wenn man die Labour Party nicht reformieren kann, so besteht noch unvergleichlich weniger Aussicht, die Komintern zu reformieren. Da bleibt nichts anderes übrig, als eine neue Internationale aufzubauen. Wohl gibt es in den Kommunistischen Parteien auch bis auf diesen Tag nicht wenige ehrliche revolutionäre Arbeiter. Doch diese heißt es eben aus dem Morast der Komintern hinauszuführen auf den revolutionären Weg.
Die ILP hat in ihr Programm sowohl die revolutionäre Machteroberung wie die Diktatur des Proletariats aufgenommen. Nach den Geschehnissen in Deutschland, Österreich und Spanien drängen sich diese Losungen von selbst auf. Aber dies bedeutet durchaus nicht, dass hinter ihnen in allen Fällen ein echt revolutionärer Gehalt steckt. Die Zyromski aller Länder scheuen sich nicht, die „Diktatur des Proletariats“ zu verquicken mit minderwertigem Patriotismus und ähnliche Scharlatanerie kommt immer mehr in Mode. Die ILP-Führer sind keine Sozialpatrioten. Doch solange sie nicht die Brücke zum Stalinismus abbrechen, wird ihr Internationalismus halbplatonisch bleiben.
Die Aprilthesen der ILP erlauben uns, an die selbe Frage unter einem neuen Gesichtswinkel heranzutreten. Zwei besondere Paragraphen der Thesen (27 und 28) sind den künftigen britischen Sowjets der Arbeiterdeputierten gewidmet. An sich enthalten sie nichts Falsches. Doch ist es nötig zu bemerken, dass Sowjets als solche lediglich eine Organisationsform und absolut kein unerschütterliches Prinzip sind. Marx und Engels haben die Theorie der proletarischen Revolution geliefert, insbesondere an Hand der Analyse der Pariser Kommune, dabei aber von Sowjets ein Wort gesagt. In Russland gab es sozial-revolutionäre und menschewistische, d.h. antirevolutionäre Sowjets. In Deutschland standen die Sowjets 1918 unter Führung der Reformisten und Patrioten und spielten eine konterrevolutionäre Rolle. Im Herbst 1923 fiel die Rolle der Sowjets faktisch den Betriebsräten zu, die den Sieg der Revolution vollkommen hätten gewährleisten können, wäre nicht die feige Politik der Kommunistischen Partei unter der Leitung von Brandler & Co gewesen. Somit ist die Losung der Sowjets als Organisationsform an sich keine grundsätzliche Losung. Wir haben selbstverständlich nichts gegen die Aufnahme der Sowjets als „allumfassende Organisationen“ (all-inclusive organisations, S.11) in das ILP-Programm. Nötig ist nur, dass diese Losung nicht zum Fetisch , oder noch schlimmer, zu einer hohlen Phrase wird wie bei den französischen Stalinisten („Daladier an die Macht!“ „Überall Sowjets!“)
Aber uns interessiert eine andere Seite der Frage. § 28 der Thesen lautet: „Die Arbeitersowjets entstehen in ihrer endgültigen Form in einer wirklich revolutionärer Krise, die Partei aber muss ihre Organisierung konsequent vorbereiten“. (Von uns hervorgehoben) Nehmen wir dies zur Kenntnis und vergleichen wir die Einstellung der ILP zu den künftigen Sowjets mit ihrer Einstellung zur künftigen Internationale. Die Verkehrtheit der ILP-Position wird uns besonders krass vor Augen treten. In der Tat: zum Thema Internationale hörten wir Gemeinplätze im Geiste der SAP, „die Form, die die wiederhergestellte Internationale annehmen wird, hängt ab von den geschichtlichen Ereignissen und der Entwicklung des wirklichen Kampfes der Arbeiterklasse“. Auf Grundlage dessen zieht die ILP den Schluss, die Frage der Internationale sei eine rein „theoretische“, d.h. in der Sprache der Empiriker, irreale Frage. Gleichzeitig sagt sie uns: „Die Arbeitersowjets werden in ihrer endgültigen Form in einer wirklich revolutionärer Krise entstehen, die Partei aber muss konsequent ihre Organisierung vorbereiten“. Schwerlich kann man sich hoffnungsloser verwirren! In der Frage der Sowjets und in der Frage der Internationale wendet die ILP ganz entgegengesetzte Denkmethoden an. In welchem Falle geht sie fehl? In beiden. Die Thesen stellen die realen Aufgaben der Partei auf den Kopf. Die Sowjets sind eine Organisationsform und nur eine Form. Sowjets „vorbereiten“ kann man nicht anders als durch richtige revolutionäre Politik auf allen Gebieten der Arbeiterbewegung, eine besondere spezifische „Vorbereitung“ von Sowjets gibt es nicht. Ganz anders steht es mit der Internationale. Können Sowjets nur entstehen, wenn Millionenmassen ins Sieden geraten sind, der Internationale bedarf es immer, Feiertags wie Werktags, beim Angriff wie beim Rückzug, im Frieden wie im Krieg. Die Internationale ist keineswegs eine „Form“, wie es die durch und durch falsche Formulierung der ILP erscheinen lässt. Die Internationale ist vor allem ein Programm und ein daraus abgeleitetes System strategischer, taktischer und organisatorischer Methoden. Die Frage der britischen Sowjets ist durch geschichtliche Umstände auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Frage der Internationale aber, ebenso wie die Frage der nationalen Parteien, kann nicht um eine Stunde aufgeschoben werden: das sind im Grunde zwei Seiten ein und derselben Sache. Ohne marxistische Internationale sind die nationalen Organisationen, selbst die am weitesten fortgeschrittenen, zu Beschränktheit, Schwanken, Hilflosigkeit verdammt, und die fortgeschrittenen Arbeiter gezwungen, sich mit Surrogaten des Internationalismus zu behelfen. Den Aufbau der Vierten Internationale für etwas „rein theoretisches“, d.h. Nutzloses zu erklären, heißt feig der Grundaufgabe unserer Epoche auszuweichen. In diesem Falle verlieren die Losungen der Revolution, der Diktatur, der Sowjets neun Zehntel ihrer Bedeutung.
Im New Leader vom 30. August steht ein vorzüglicher Artikel: Kein Vertrauen in die Regierung! (Don’t trust government!) Der Artikel zeigt, wie die Gefahr der „nationalen Einheit“ zusammen mit der Kriegsgefahr wächst. Während die armseligen SAP-Führer zur Nachahmung der britischen Pazifisten aufrufen (buchstäblich!), schreibt der New Leader: „Sie (die britische Regierung) bedient sich in Wirklichkeit der Friedensbegeisterung, um das britische Volk auf den imperialistischen Krieg vorzubereiten.“ Diese fettgedruckten Zeilen bringen mit aller Genauigkeit die politische Funktion des kleinbürgerlichen Pazifismus zum Ausdruck, indem er der Furcht der Massen vor dem Krieg platonisch Ausdruck verleiht, gestattet der Pazifismus dem Imperialismus, diese Massen umso leichter in Kanonenfutter zu verwandeln. Der New Leader brandmarkt die patriotische Position Citrines und anderer Sozialimperialisten, die (mit Hinweis auf Stalin), den Lansbury und anderen Pazifisten rittlings aufsitzen. Allein, derselbe Artikel äußert sein „Erstaunen“ darüber, dass die britischen Kommunisten Citrines Politik in der Frage des Völkerbundes und seiner Sanktionen gegen Italien unterstützen (astonishing support of Labour line). Das „Erstaunen“ des Artikels ist die Achillesferse der gesamten ILP-Position. Wen irgend eine Einzelperson uns durch unerwartetes Benehmen in „Erstaunen“ setzt, so heißt das nur, dass wir den eigentlichen Charakter dieser Person schlecht kennen. Viel schlimmer ist es, wenn ein Politiker sich gezwungen sieht, sein „Erstaunen“ über die Taten einer politischen Partei zuzugeben oder gar einer gesamten Internationale., denn die britischen Kommunisten führen ja nur die Aufträge des Siebten Kominternkongresses aus. Die ILP-Führer sind „erstaunt“ nur, weil sie bis jetzt nicht den wahren Charakter der Komintern und ihrer Sektionen zu begreifen versuchten. Indessen sieht die marxistische Kritik an der Komintern auf eine 12-jährige Geschichte zurück. Seitdem die Sowjetbürokratie die Theorie des „Sozialismus in einem Lande“ zu ihrem Glaubenssymbol machte (1924), haben die Bolschewiki-Leninisten die Unvermeidbarkeit der nationalistischen und patriotischen Entartung der Kominternsektionen vorhergesagt und in der Folgezeit diesen Prozess in allen seinen Etappen kritisch beleuchtet. Nur weil die ILP-Führer die Kritik unserer Tendenz ignorierten, sind sie eben von den Ereignissen überrumpelt worden. Angesichts großer Ereignisse in „Erstaunen“ zu geraten, ist das Vorrecht des pazifistischen und reformistischen Kleinbürgers. Ein Marxist, vor allem, wenn er Anspruch auf Führung erhebt, soll nicht „erstaunen“, sondern vorhersehen. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte, nebenbei bemerkt, zeigte sich die marxistische Wachsamkeit scharfsichtiger als die zentristische Vertrauensseligkeit.
Die ILP verließ die mächtige Labour Party wegen ihrem Reformismus und Patriotismus. Heute noch schreibt der New Leader in Erwiderung auf Wilkinson, die Unabhängigkeit der ILP sei vollständig gerechtfertigt durch die patriotische Haltung der Labour Party. Was aber dann sagen von der langen Affäre der ILP mit der britischen Kommunistischen Partei, die nunmehr am Schwanze der Labour Party marschiert! Was sagen von dem Bestreben der ILP, mit der Komintern zu verschmelzen, die im sozialpatriotischen Orchester jetzt die erste Geige spielt? Sie sind “erstaunt“, Genosse Maxton, Fenner Brockway usw.? Das ist für eine Parteileitung etwas mager. Um nicht mehr zu erstaunen, heißt es, den durchlaufenen Weg kritisch zu prüfen und Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.
Bereits im August 1933 schlug die Delegation der Bolschewiki-Leninisten in einer besonderen Erklärung allen Teilnehmern der Londoner Vereinigung, darunter auch der ILP, offiziell vor, zusammen mit uns die strategischen Grundprobleme unserer Epoche zu erörtern und im besonderen ihre Einstellung zu unserer programmatischen Dokumenten festzulegen. Doch die ILP-Führer hielten es für unter ihrer Würde, sich damit abzugeben. Obendrein fürchteten sie, sich zu kompromittieren durch die Gemeinschaft mit einer Organisation, die der Gegenstand besonders wütender und niederträchtiger Hetze seitens der Moskauer Bürokratie ist: vergessen wir nicht, dass die ILP-Führer all die Zeit die „Einladung“ der Komintern erwarteten. Erwarteten und nicht erhielten ...
Wen die ILP-Führer es auch nach dem Siebten Kongress wagen, die Sache so darzustellen, als hätten die britischen Stalinisten nur aus Versehen, nur momentan den Waffenknecht des wenig ehrenwerten Lord Citrine gespielt? Solche Ausflüchte wären einer revolutionären Partei unwürdig. Wir möchten hoffen, dass die ILP-Führer die Gesetzmäßigkeit des vollständigen und unwiderruflichen Zusammenbruchs der Komintern als revolutionärer Organisation endlich einsehen und aus dieser Tatsache alle erforderlichen Schlussfolgerungen ziehen. Sie sind sehr einfach:
Diesen Weg würden wir Schulter an Schulter mit der ILP gehen.
1*. In dieser Version wurde die geschlechtsneutrale Endung “Innen” in einer etwas inkonsequenten Weise benutzt, die den damaligen Gepflogenheiten nicht passt. Wir haben sie deshalb zur damals üblichen männlichen Form geändert.
Zuletzt aktualiziert am 21.7.2008