Leo Trotzki

 

Die Tragödie des deutschen Proletariats

(14. März 1933)


Deutscher, Novack und Dahmer (Hrg.): Leo Trotzki, Denkzettel, Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frankfurt 1981, S.199-202.
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Das nach seiner Rolle in der Produktion, nach seinem sozialen Gewicht, nach der Stärke seiner Organisation mächtigste Proletariat in Europa hat Hitlers Machtergreifung und dem ersten wilden Ansturm auf die Arbeiterorganisationen keinen Widerstand geleistet. Das ist die Tatsache, von der man im weiteren bei allen strategischen Überlegungen ausgehen muß.

Es wäre selbstverständlich unsinnig zu glauben, daß die Entwicklung in Deutschland den italienischen Weg einschlagen wird – daß Hitler seine Herrschaft ohne ernstlichen Widerstand Schritt für Schritt festigt, daß dem deutschen Faschismus lange Jahre der Herrschaft bevorstehen. Nein, Schlußfolgerungen über das weitere Schicksal des Nationalsozialismus muß man aus der Analyse der deutschen und der internationalen Bedingungen ziehen, nicht aber aus historischen Analogien. Eins steht von jetzt an fest: Während wir von der Komintern seit September 1930 für Deutschland eine Politik auf kurze Sicht gefordert haben, muß man sich jetzt umstellen auf eine Politik der weiten Sicht. Bevor entscheidende Kämpfe möglich sein werden, wird sich die Avantgarde des deutschen Proletariats umorientieren müssen, d.h. das Vorgefallene klar begreifen, die Verantwortung für die große historische Niederlage richtig verteilen, neue Wege vorzeichnen und das Selbstvertrauen wiedergewinnen müssen.

Die verbrecherische Rolle der Sozialdemokratie erfordert keine Kommentare; die Komintern wurde vor 14 Jahren [1919] gerade zu dem Zweck geschaffen, das Proletariat dem demoralisierenden .Einfluß der Sozialdemokratie zu entreißen. Daß es bis jetzt nicht gelungen ist, daß das deutsche Proletariat bei der größten historischen Prüfung sich als ohnmächtig, entwaffnet, paralysiert erwies, ist die direkte und unmittelbare Schuld der nachleninschen Führung der Komintern. Das ist die erste Folgerung, die heute gezogen werden muß.

Unter den Schlägen der Stalinschen Bürokratie hatte die Linke Opposition der offiziellen Partei [der KPD] bis zum Ende Treue bewahrt. Die Bolschewiki-Leninisten teilen jetzt das Schicksal aller übrigen kommunistischen Organisationen: unsere Kader werden verhaftet, unsere Presse ist verboten, unsere Literatur konfisziert. Hitler hat sich beeilt, sogar das in russischer Sprache erscheinende Bulletin der Opposition zu verbieten. Wenn aber die Bolschewiki-Leninisten zusammen mit der proletarischen Avantgarde die Folgen des ersten ernsten Sieges des Faschismus teilen, können und wollen sie nicht auch nur den Schatten einer Verantwortung für die offizielle Politik der Komintern tragen.

Seit 1923, d.h. seit Beginn des Kampfes gegen die Linke Opposition, hatte die Stalinsche Führung mit aller Kraft, wenn auch vom anderen Ende aus, der Sozialdemokratie geholfen, das deutsche Proletariat vom richtigen Weg abzudrängen, zu verwirren und ohnmächtig zu machen; sie hemmte und bremste die Arbeiter, wo die Bedingungen einen kühnen revolutionären Angriff diktierten; proklamierte revolutionäre Situationen als bevorstehend, wenn sie bereits verpaßt waren; schloß Bündnisse mit Phrasenhelden und Schwätzern aus dem Lager des Kleinbürgertums; hinkte unter dem Schein der Einheitsfrontpolitik ohnmächtig hinter der Sozialdemokratie her; proklamierte die „Dritte Periode“ und den Kampf um die Eroberung der Straße unter den Bedingungen der politischen Ebbe und des Schwächezustandes der Kommunistischen Partei; ersetzte den ernsten Kampf durch Wettkämpfe, Abenteuer und Paraden; isolierte die Kommunisten von den Gewerkschaftsmassen, identifizierte die Sozialdemokratie mit dem Faschismus und lehnte eine Einheitsfront mit den Massenorganisationen der Arbeiter gegen den unmittelbaren Angriff der nationalsozialistischen Banden ab; sabotierte jede lokale Initiative zur defensiven Einheitsfront und täuschte gleichzeitig die Arbeiter systematisch über das wirkliche Kräfteverhältnis; entstellte Tatsachen, stellte Freunde als Feinde dar und Feinde als Freunde und schnürte der Partei die Kehle immer enger zu, indem sie ihr die Möglichkeit raubte, frei zu atmen, zu sprechen und zu denken.

Aus der unermeßlichen, dem Faschismus gewidmeten Literatur genügt es, auf die Rede des offiziellen Führers der deutschen Kommunistischen Partei, Thälmann, zu verweisen, der vor dem EKKI-Plenum im April 1931 die „Pessimisten“, d.h. die Menschen, die etwas weiter vorauszusehen vermochten, mit folgenden Worten bedachte:

„Wir haben nicht geduldet, daß uns panische Stimmungen von unserem Wege abdrängen ... Wir haben nüchtern und fest klargestellt, daß der 14. September (1930) in gewissem Sinne Hitlers bester Tag wurde, dem keine besseren, sondern schlechtere Tage folgen werden ... Jene Einschätzung, die wir der Entwicklung dieser Partei gegeben, haben die Ereignisse bestätigt ... Der Faschismus hat heute schon keinen Grund zum Lachen.“

Mit Hinweis darauf, daß die Sozialdemokratie Schutzformationen aufstellt, erklärte Thälmann in der gleichen Rede, daß diese Formationen sich nicht von den Kampfformationen des Nationalsozialismus unterschieden und daß beide in gleichem Maße zur Niederschlagung der Kommunisten bestimmt seien.

Thälmann ist in Haft. Vor dem Angesicht der triumphierenden Reaktion stehen die Bolschewiki-Leninisten in einer Reihe mit ihm.

Aber Thälmanns Politik ist Stalins Politik, d.h. die offizielle Politik der Komintern. Und diese Politik ist ja gerade die Ursache der völligen Demoralisierung der Partei im Augenblick der Gefahr, wenn die Führer den Kopf verlieren, die des Denkens entwöhnten Parteimitglieder in Apathie verfallen, und die wichtigsten historischen Positionen ohne Kampf abgetreten werden. Eine falsche politische Theorie trägt die Strafe in sich selbst. Macht und Beharrlichkeit des Apparats steigern nur die Ausmaße der Katastrophe ...


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008