Leo Trotzki

 

Was Nun?


Vorwort

Der russische Kapitalismus erwies sich infolge seiner außerordentlichen Zurückgebliebenheit als schwächstes Glied der imperialistischen Kette. Der deutsche Kapitalismus offenbart sich in der gegenwärtigen Krise aus dem entgegengesetzten Grunde als das schwächste Glied: er ist der fortgeschrittenste Kapitalismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Je größer die innere dynamische Kraft der Produktivkräfte Deutschlands ist, desto mehr wird sie durch das europäische Staatensystem erdrosselt, das dem Käfig-System einer zusammengeschrumpften Provinzmenagerie gleicht. Jede Konjunkturschwankung stellt den deutschen Kapitalismus vor jene Aufgaben, die er mittels des Krieges zu lösen versucht hatte. Unter dem Hohenzollern-Regime [1] war die deutsche Bourgeoisie darangegangen, „Europa zu organisieren“. Durch die Regierung Brüning-Curtius [2] unternahm sie den Versuch der ... Zollunion mit Österreich. Welch schrecklicher Niedergang der Aufgaben, Möglichkeiten und Perspektiven! Aber auch auf diese Union mußte man verzichten. Das ganze europäische System steht auf schwachen Beinen. Die große, heilbringende Hegemonie Frankreichs könnte zusammenstürzen, wenn sich einige Millionen Österreicher Deutschland anschließen.

Für Europa und vor allem für Deutschland gibt es kein Vorwärts auf kapitalistischem Wege. Eine vorübergehende Überwindung der gegenwärtigen Krise durch das automatische Kräftespiel des Kapitalismus selbst – auf den Knochen der Arbeiter – würde die Reproduktion der Widersprüche auf der nächsten Etappe bedeuten, nur in noch konzentrierterer Gestalt.

Europas spezifisches Gewicht in der Weltwirtschaft kann nur abnehmen. Von der Stirn Europas verschwinden ohnehin schon nicht die amerikanischen Etiketten: Dawesplan, Youngplan, Hoovermoratorium. [3] Europa ist gründlich auf amerikanische Ration gesetzt.

Die Fäulnis des Kapitalismus bedeutet soziale und kulturelle Fäulnis. Der fälligen Differenzierung der Nation, dem Wachstum des Proletariats auf Kosten der Zwischenklassen ist der Weg verlegt. Das weitere Anhalten der sozialen Krise kann nur Pauperisierung der Kleinbourgeoisie und lumpenproletarische Entartung immer größerer Schichten der Arbeiterklasse bedeuten. Diese Gefahr sitzt – einschneidender als alles andere – dem fortschrittlichen Deutschland an der Gurgel.

Der verfaulteste Teil des faulenden kapitalistischen Europa ist die sozialdemokratische Bürokratie. Sie hatte ihren historischen Weg unter Marxens und Engels’ Banner angetreten und sich den Sturz der bürgerlichen Herrschaft zum Ziel gestellt. Der machtvolle Aufschwung des Kapitalismus nahm von ihr Besitz und schleifte sie hinter sich her. Sie verzichtete, erst in der Tat, dann auch in Worten, auf die Revolution im Namen der Reformen. Kautsky [4] verfocht zwar noch lange die Phraseologie der Revolution, wobei er sie den Bedürfnissen des Reformismus anpaßte. Bernstein [5] hingegen forderte den Verzicht auf die Revolution: der Kapitalismus betritt die Epoche friedlicher Prosperität ohne Krisen und Krieg. Ein Muster an Prophetie! Es könnte scheinen, daß zwischen Kautsky und Bernstein ein unversöhnlicher Widerspruch besteht. In Wirklichkeit ergänzten sie einander symmetrisch: linker und rechter Stiefel des Reformismus.

Der Krieg brach aus. Die Sozialdemokratie unterstützte den Krieg im Namen künftiger Prosperität. Statt Prosperität kam Verfall. jetzt bestand die Aufgabe nicht mehr darin, aus der Unzulänglichkeit des Kapitalismus die Notwendigkeit der Revolution zu folgern, auch nicht darin, durch Reformen die Arbeiter mit dem Kapitalismus auszusöhnen. Die neue Politik der Sozialdemokratie bestand darin, die bürgerliche Gesellschaft um den Preis des Verzichts auf Reformen zu retten.

Aber auch das war nicht die letzte Stufe der Entartung. Die gegenwärtige Krise des sterbenden Kapitalismus zwang die Sozialdemokratie, auf die Früchte des langen wirtschaftlichen und politischen Kampfes zu verzichten und die deutschen Arbeiter auf das Lebensniveau ihrer Väter, Großväter und Urgroßväter hinabzuführen. Es gibt kein tragischeres und gleichzeitig abstoßenderes historisches Schauspiel als die bösartige Fäulnis des Reformismus inmitten der Trümmer all seiner Errungenschaften und Hoffnungen. Das Theater jagt nach Modernität. Man sollte öfter Hauptmanns [6] Weber spielen. Das zeitgemäßeste aller Stücke. Doch der Direktor sollte nicht vergessen, die ersten Reihen den Führern der Sozialdemokratie zu reservieren.

Übrigens steht ihr Sinn nicht nach Schauspielen: sie sind zur letzten Grenze der Anpassungsfähigkeit gelangt. Es gibt ein Niveau, unter das Deutschlands Arbeiterklasse freiwillig und für lange sich nicht hinablassen kann. Indes will das um seine Existenz ringende bürgerliche Regime dieses Niveau nicht anerkennen. Brünings Notverordnungen sind bloß der Anfang, ein Abtasten des Bodens. Das Brüningregime hält sich dank der feigen und treubrüchigen Unterstützung der sozialdemokratischen Bürokratie, die sich selbst vermöge des mürrischen Halbvertrauens eines Teils des Proletariats hält. Das System bürokratischer Verordnungen ist unbeständig, unsicher, kurzlebig. Das Kapital braucht eine andere, entschiedenere Politik. Die Unterstützung der Sozialdemokratie, die sich nach den eigenen Arbeitern umsehen muß, ist nicht nur unzureichend für seine Ziele, sie beginnt es bereits zu beengen. Die Periode der Halbmaßnahmen ist vorbei. Um zu versuchen, einen neuen Ausweg zu finden, muß sich die Bourgeoisie vollends des Drucks der Arbeiterorganisationen entledigen, sie hinwegräumen, zertrümmern, zersplittern. Hier setzt die historische Funktion des Faschismus ein. Er bringt jene Klassen auf die Beine, die sich unmittelbar über das Proletariat erheben und fürchten, in dessen Reihen gestürzt zu werden, organisiert und militarisiert sie unter Deckung des offiziellen Staates mit den Mitteln des Finanzkapitals und treibt sie zur Zertrümmerung der proletarischen Organisationen, der revolutionären wie der gemäßigten.

Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten. Dazu ist die physische Ausrottung der revolutionärsten Arbeiterschicht ungenügend. Es heißt, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern, alle Stützpunkte des Proletariats zu zerstören und die Ergebnisse eines dreiviertel Jahrhundert Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu vernichten. Denn auf diese Arbeit stützt sich in letzter Instanz auch die Kommunistische Partei,

Die Sozialdemokratie hat alle Bedingungen für den Sieg des Faschismus vorbereitet. Doch damit hat sie auch die Bedingungen ihrer eigenen politischen Liquidierung vorbereitet. Der Sozialdemokratie die Verantwortung für Brünings Notverordnungssystem und die drohende faschistische Barbarei aufzuerlegen, ist vollkommen richtig. Die Sozialdemokratie mit dem Faschismus zu identifizieren, vollkommen unsinnig.

Durch ihre Politik während der Revolution von 1848 hatte die liberale Bourgeoisie den Sieg der Konterrevolution vorbereitet, die dann den Liberalismus zur Ohnmacht verurteilte. Marx und Engels geißelten die deutsche liberale Bourgeoisie nicht minder scharf als Lassalle [7] und gründlicher als er. Als aber die Lassalleaner feudale Konterrevolution und liberale Bourgeoisie als die eine „reaktionäre Masse“ bezeichnete, empörten sich Marx und Engels berechtigterweise über diesen falschen Ultraradikalismus. Die irrige Position der Lassalleaner machte sie gelegentlich zu unfreiwilligen Helfershelfer der Monarchie, trotz des allgemeinen progressiven Charakter ihrer Arbeit, die so unermeßlich ernster und bedeutsamer war als die des Liberalismus.

Die Theorie des „Sozialfaschismus“ reproduziert den wesentlichen Fehler des Lassalleanismus auf neuen historischen Grundlagen. Während sie Nationalsozialisten und Sozialdemokraten zu einer faschistischen Masse zusammenwirft, sinkt die Stalinbürokratie zu solchen Taten herab wie die Unterstützung des Hitlerschen Volksentscheids: das ist in keiner Weise besser als die Lassalleschen Kombinationen mit Bismarck. [8]

In seinem Kampf gegen die Sozialdemokratie muß sich der deutsche Kommunismus in der jetzigen Etappe auf zwei untrennbare Grundsätze stützen: a) die politische Verantwortung der Sozialdemokratie für die Macht des Faschismus; b) die absolute Unversöhnlichkeit zwischen dem Faschismus und jenen Arbeiterorganisationen, durch die sich die Sozialdemokratie hält.

Die Widersprüche des deutschen Kapitalismus haben gegenwärtig jene Spannung erreicht, der unvermeidlich die Explosion folgen muß. Die Anpassungsfähigkeit der Sozialdemokratie hat die Grenze erreicht, wo bereits die Selbstvernichtung eintritt. Die Fehler der Stalinschen Bürokratie haben den Punkt erreicht, nach welchem die Katastrophe kommt. Das ist die dreiteilige Formel, die Deutschlands Lage charakterisiert. Alles steht auf des Messers Schneide.

Verfolgt man das Leben Deutschlands anhand von Zeitungen, die mit einwöchiger Postverspätung anlangen, brauchen die Manuskripte eine weitere Woche, um die Entfernung zwischen Konstantinopel und Berlin zu bezwingen, worauf noch Wochen vergehen, ehe die Broschüre den Leser erreicht, so sagt man sich unwillkürlich – wird es nicht zu spät sein? Und jedesmal antwortet man sich: nein, die ins Treffen geführten Armeen sind zu gewaltig, als daß eine einmalige, blitzartige Entscheidung zu befürchten wäre. Die Kräfte des deutschen Proletariats sind nicht erschöpft. Sie sind noch gar nicht in Bewegung gesetzt. Die Logik der Tatsachen wird mit jedem Tage immer gebieterischer sprechen. Das rechtfertigt den Versuch des Autors, sein Wort beizusteuern, wenn auch mit der Verspätung von mehreren Wochen, d.h. einer ganzen historischen Periode.

Die Stalinsche Bürokratie hat befunden, sie werde ihre Arbeit ruhiger vollführen können, wenn sie den Autor dieser Zeilen auf Prinkipo festsetzt. Von der Regierung des Sozialdemokraten Hermann Müller [9] hatte sie die Verweigerung des Visums für den ... „Menschewik“ erreicht: die Einheitsfront war in diesem Falle ohne Schwanken und Säumnis verwirklicht worden. Heute melden die Stalinisten in den offiziellen Sowjetpublikationen, ich „verteidige“ die Brüningregierung im Einverständnis mit der Sozialdemokratie, die sich um die Gewährung meines Einreiserechts nach Deutschland bemühe. Statt uns über die Niedertracht zu entrüsten, wollen wir die Dummheit verlachen. Aber unser Lachen sei kurz, denn ist wenig Zeit.

Daß die Ereignisse uns Recht geben werden, darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen. Aber auf welchen Wegen wird die Geschichte ihren Beweis führen: durch die Katastrophe der Stalinschen Fraktion oder durch den Sieg der marxistischen Politik?

Hier liegt gegenwärtig die ganze Frage. Es ist die Frage des Schicksals des deutschen Volkes und nicht nur seiner allein.

* * *

Die in dieser Broschüre behandelten Fragen sind nicht erst gestern aufgetaucht. Nun sind es schon neun Jahre her, daß die Kominternführung sich mit der Umwertung der Werte beschäftigt und die internationale proletarische Avantgarde mit Hilfe taktischer Konvulsionen desorientiert, die in ihrer Gesamtheit „Generallinie“ genannt werden. Die Russische Linke Opposition (Bolschewiki-Leninisten) ist nicht auf der Grundlage bloß russischer Fragen entstanden, sondern auf Grundlage internationaler Fragen. Das Problem der revolutionären Entwicklung Deutschlands hat dabei nicht den letzten Platz eingenommen. Scharfe Meinungsverschiedenheiten in dieser Frage entstanden im Jahre 1923. Der Autor dieser Zeilen hat sich in den vergangenen Jahren mehr als einmal zu den strittigen Fragen geäußert. Ein bedeutender Teil seiner kritischen Arbeiten ist in deutscher Sprache erschienen. Die vorliegende Broschüre reiht sich lückenlos in die theoretische und politische Arbeit der Linksopposition ein. Vieles, das hier nur beiläufig Erwähnung gefunden hat, wurde von uns seinerzeit eingehend entwickelt. Ich muß den Leser insbesondere auf meine Bücher: Die internationale Revolution und die Komintern, Die Permanente Revolution usw. verweisen. Nun, da die Meinungsverschiedenheiten sich vor aller Welt in bezug auf ein großes historisches Problem entfalten, lassen sich ihre Quelle weitaus besser und gründlicher einschätzen. Für einen ernsten Revolutionär einen wirklichen Marxisten ist das unbedingt nötig. Eklektiker leben von episodischen Gedanken, von Improvisationen, die unter dem Druck der Ereignisse entstehen. Marxistische Kader, fähig, die proletarische Revolution zu führen, lassen sich nur durch beharrliche, kontinuierliche Verarbeitung der Aufgaben und der Meinungsverschiedenheiten erziehen.

Prinkipo, 27. Januar 1932

L.T.

 

 

Anmerkungen

1. Die Hohenzollern: Dynastie der deutschen Kaiser des Zweiten Reichs (1871-1918); früher Könige von Preußen; noch früher Markgrafen von Brandenburg.

2. Heinrich Brüning (1885-1970): Führer des katholischen Zentrums und von März 1930 bis Mai 1932 Kanzler, der eine Minderheitsregierung führte, die durch Notverordnungen und mit nur halbherziger Unterstützung des Reichstags regierte; wurde von Hindenburg abgesetzt, dessen Wiederwahl als Präsidenten er organisierte – auf Rat von Schleicher, dem politischen Chef der Reichswehr; verließ Deutschland Mai 1933. – Julius Curtius: Außenminister in den Müller- und Brüning-Regierungen 1929-30.

3. Dawesplan: eine der Reihe von Maßnahmen, die der 1923er Krise zu Ende brachten. Er reduzierte die Reparationen, die Deutschland in der Periode 1924-28 bezahlen sollte, auf ein bezahlbares Niveau; wurde von internationaler Überwachung der deutschen Wirtschaft und großen Krediten aus den USA begleitet. – Hoovermoratorium: einjähriges Moratorium der Zahlungen der Kriegsschulden und der Reparationen, das Juli 1931 auf Initiative des US-Präsidenten Herbert Hoover erklärt wurde.

4. Karl Kautsky (1854-1938): führender Theoretiker der Zweiten Internationale und der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg; Pazifist während des Ersten Weltkriegs; Mitglied der USPD 1917; kehrte 1922 der SPD zurück; zwischen den Kriegen wurde zum Hauptapologeten der Politik der SPD – obwohl er immer noch marxistische Sprache dafür benutzte.

5. Eduard Bernstein (1850-1932): Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, der behauptete, man müsse den Marxismus „revidieren“ – daher „Revisionismus“ – und der Sozialismus würde jetzt durch die allmähliche Demokratisierung des Kapitalismus entstehen; Gegner des Ersten Weltkriegs; mit Haase und Kautsky Initiator der Bewegung unter den Reichstagsabgeordneten, die 1917 zur Spaltung der SPD führte; Gründungsmitglied der USPD; kehrte 1919 zur SPD zurück.

6. Hauptmann:

7. Ferdinand Lassalle (1825-1864): einer der Begründer der deutschen Arbeiterbewegung; Marx verurteilte seine Charakterisierung aller anderen Klassen der deutschen Gesellschaft als „reaktionäre Masse“ – da sie ihn dazu führte, das absolutistische preußische Regime gegen seine halbherzigen bürgerlichen Gegner zu unterstützen; seine Anhänger und die von Marx schlossen sich 1875 zusammen, um die SPD zu bilden.

8. Otto Fürst von Bismarck (1815-1898): Vertreter der Interessen der preußischen Junker; Ministerpräsident Preußens ab 1862; organisierte die Vereinigung Deutschlands von oben und wurde Reichskanzler; blieb in Amt bis 1890.

9. Hermann Müller (1876-1931): ab 1916 sozialdemokratisches Mitglied des Reichstags; ab 1920 Führer der Reichstagsfraktion; bildete die provisorische Regierung nach dem Kapp-Putsch (1920); Kanzler in einer Koalitionsregierung von Mai 1828 bis März 1930; letzter sozialdemokratischer Kanzler vor der Machtübernahme der Nazis.

 


Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008