Leo Trotzki

 

Was Nun?


X. Zentrismus „überhaupt“ und Zentrismus der Stalinschen Bürokratie

Die Fehler der Kominternführung und damit auch der deutschen Kommunistischen Partei gehören nach Lenins üblicher Terminologie in die Kategorie der „ultralinken Dummheiten“. Auch kluge Menschen können Dummheiten begehen, besonders in jugendlichem Alter. Doch darf man mit diesem Recht, wie Heine rät, nicht Mißbrauch treiben. Werden politische Dummheiten eines bestimmten Typus systematisch begangen, während längerer Zeit, und das in wichtigen Fragen, so hören sie auf, bloße Dummheiten zu sein und verwandeln sich in eine Tendenz. Was ist das für eine Tendenz? Welchen historischen Bedürfnissen entspricht sie? Welches sind ihre sozialen Wurzeln?

Der Ultraradikalismus hat in verschiedenen Ländern, zu verschiedenen Zeiten verschiedenartige soziale Grundlagen. Vollendetster Ausdruck des Ultraradikalismus waren Anarchismus und Blanquismus sowie verschiedene ihrer Abarten, darunter auch die jüngste: der Anarchosyndikalismus.

Der soziale Boden dieser vorwiegend in lateinischen Ländern verbreiteten Tendenzen war die alte klassische Kleinindustrie von Paris. Deren Dauerhaftigkeit verlieh den französischen Abarten des Ultraradikalismus eine unzweifelhafte Bedeutung und gestattete ihnen bis zu einem gewissen Grade, die Arbeiterbewegung anderer Länder zu beeinflussen. Die Entfaltung der Großindustrie in Frankreich, der Krieg und die russische Revolution haben dem Anarchosyndikalismus das Rückgrat gebrochen. Zurückgeworfen, verwandelte er sich in schlechten Opportunismus. In beiden Stadien hat der französische Syndikalismus den gleichen Jouhaux [1] an der Spitze – die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen.

Der spanische Anarchosyndikalismus bewahrte sich seinen revolutionären Anstrich nur in einem Milieu politischer Stagnation. Indem sie alle Fragen auf des Messers Schneide stellte, zwang die Revolution die anarchosyndikalistischen Führer, den Ultraradikalismus abzuwerfen und ihr opportunistisches Wesen zu enthüllen. Man kann mit Gewißheit annehmen, daß die spanische Revolution die syndikalistischen Vorurteile aus ihrer letzten lateinischen Zufluchtsstätte vertreiben wird.

Anarchistische und blanquistische Elemente durchsetzen auch alle übrigen ultralinken Tendenzen und Gruppierungen. An der Peripherie einer großen revolutionären Bewegung lassen sich stets Erscheinungen von Putschismus und Abenteurertum beobachten, deren Träger bald rückständige, oft halb handwerkliche Schichten der Arbeiterschaft sind, bald intellektuelle Mitläufer. Doch erlangt diese Art Ultraradikalismus in der Regel keine selbständige historische Bedeutung und behält meist episodischen Charakter.

In historisch zurückgebliebenen Ländern, die ihre bürgerliche Revolution unter den Bedingungen einer entwickelten Weltarbeiterbewegung durchzuführen haben, trägt die linke Intelligenz in die halb elementare Bewegung der Massen, vorwiegend der kleinbürgerlichen, die extremsten Losungen und Methoden hinein. Das ist das Wesen kleinbürgerlicher Parteien vom Typus der russischen „Sozialrevolutionäre“ mit ihren Tendenzen von Putschismus, individuellem Terror usw. Dank dem Vorhandensein Kommunistischer Parteien im Westen dürften sich selbständige abenteuerliche Gruppen dort kaum zur Bedeutung der russischen Sozialrevolutionäre aufschwingen. Dafür aber können die jungen Kommunistischen Parteien in ihren eigenen Bestand Elemente von Abenteurertum einführen. Was die russischen Sozialrevolutionäre betrifft, so haben sie sich unter dem Einfluß der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in die Partei des imperialistischen Kleinbürgertums verwandelt und der Oktoberrevolution gegenüber eine konterrevolutionäre Haltung eingenommen.

Es ist evident, daß der Ultraradikalismus der heutigen Komintern zu keinem der oben angeführten historischen Typen zählt. Die Hauptpartei der Komintern, die russische KP, stützt sich bekanntlich auf das industrielle Proletariat und geht schlecht oder recht von den revolutionären Traditionen des Bolschewismus aus. Die Mehrheit der übrigen Sektionen der Komintern besteht aus proletarischen Organisationen. Sprechen nicht schon die unterschiedlichen Bedingungen in den verschiedenen Ländern, wo gleichermaßen und gleichzeitig die ultralinke Politik des offiziellen Kommunismus wütet, dafür, daß dieser Strömung keine allgemeinen sozialen Wurzeln zugrundeliegen können? Wird doch der ultralinke Kurs ein und desselben „prinzipiellen“ Charakters in China wie in Großbritannien durchgeführt. Ist dem aber so, wo ist dann die Wurzel des neuen Ultraradikalismus zu suchen?

Die Frage wird kompliziert, doch zugleich erhellt durch einen weiteren, äußerst wichtigen Umstand: Ultraradikalismus ist keineswegs der unveränderliche Grundzug der heutigen Kominternführung. Der in seinem Grundstock gleiche Apparat hat bis 1928 eine offen opportunistische Politik geführt, die sich in vielen entscheidenden Fragen auf den Geleisen des Menschewismus bewegte. Von 1924-27 hielt man nicht nur Abkommen mit den Reformisten für möglich, sondern ließ überdies auch den Verzicht auf die Selbständigkeit der Partei, auf die Freiheit der Kritik, ja sogar auf ihre proletarische Klassenbasis zu. [1*] Es handelt sich also nicht um eine spezifische ultralinke Strömung, sondern um den verlängerten ultralinken Zickzack einer Strömung, die in der Vergangenheit auch ihre Fähigkeit zu tiefen, ultrarechten Zickzacks bewiesen hat. Schon diese äußerlichen Merkmale weisen darauf hin, daß es sich um Zentrismus handelt.

Formal und deskriptiv kann man sagen. daß der Zentrismus all jene Strömungen im Proletariat und an dessen Peripherie umfaßt, die sich zwischen Reformismus und Marxismus ausbreiten und zumeist verschiedene Entwick-lungsetappen auf dem Wege vom Reformismus zum Marxismus und umgekehrt repräsentieren. Marxismus wie Reformismus haben festen sozialen Boden unter den Füßen. Der Marxismus drückt die historischen Interessen des Proletariats aus. Der Reformismus entspricht der privilegierten Stellung der proletarischen Bürokratie und Aristokratie im kapitalistischen Staat. Der Zentrismus, den wir in der Vergangenheit kannten, hatte keine selbständige soziale Basis und konnte keine haben. Die verschiedenen Schichten des Proletariats entwickeln sich auf verschiedenen Wegen und zu verschiedenen Zeiten in revolutionärer Richtung. In Perioden andauernden industriellen Aufschwungs oder in Perioden politischer Ebbe nach Niederlagen wandern verschiedene Schichten des Proletariats politisch von links nach rechts ab, wobei sie mit anderen Schichten zusammenstoßen, die sich erst nach links zu entwickeln beginnen. Verschiedene Gruppen machen bei bestimmten Etappen ihrer Entwicklung halt, finden zeitweilige, schaffen eigene Programme und Organisationen. Es ist leicht zu begreifen, welche Vielfalt von Strömungen unter den Begriff „Zentrismus“ fällt! Je nach Ursprung, sozialer Zusammensetzung und Entwicklungsrichtung können verschiedene Gruppierungen in erbittertem Kampf miteinander stehen, ohne dabei aufzuhören, Variationen vom Zentrismus zu sein.

Wenn der Zentrismus im allgemeinen die Funktion der linken Deckung des Reformismus erfüllt, so läßt die Frage, welchem Hauptlager, dem reformistischen oder dem marxistischen, eine bestimmte zentristische Tendenz zugehört, keine allgemein gültige Entscheidung zu. Hier ist es noch mehr als sonst nötig, den konkreten Inhalt des Prozesses und seine inneren Entwicklungstendenzen zu analysieren. So lassen sich manche politischen Irrtümer Rosa Luxemburgs theoretisch richtig als linkszentristisch charakterisieren. Man kann weitergehen und sagen, daß die meisten Meinungsverschiedenheiten Rosa Luxemburgs mit Lenin einen größeren oder kleineren Einschlag nach der Seite des Zentrismus hin bedeuteten. Aber nur die schamlosen Ignoranten und Scharlatane der Kominternbürokratie können den Luxemburgismus als historische Strömung dem Zentrismus zurechnen. Daß die heutigen „Führer“ der Komintern, mit Stalin angefangen, theoretisch, politisch und moralisch der großen Revolutionärin nicht einmal bis zu den Knien reichen, muß gar nicht erst gesagt werden.

Kritiker, die sich in den Kern der Sache nicht hineingedacht haben, haben in letzter Zeit den Autor dieser Zeilen mehr als einmal beschuldigt, er treibe Mißbrauch mit dem Wort „Zentrismus“, indem er allzu verschiedenartige Strömungen und Gruppen innerhalb der Arbeiterbewegung mit diesem Namen belege. In Wirklichkeit ergibt sich die Vielfältigkeit der Typen des Zentrismus, wie schon gesagt, aus der Sache selbst und keineswegs aus terminologischem Mißbrauch. Erinnern wir daran, wie oft die Marxisten beschuldigt wurden, die verschiedenartigsten und gegensätzlichsten Erscheinungen dem Kleinbürgertum zuzuordnen. Und tatsächlich muß man der Kategorie „Kleinbürgertum“ auf den ersten Blick vollkommen unvereinbare Tatsachen, Ideen und Tendenzen subsumieren. Kleinbürgerlichen Charakter besitzt die Bauernbewegung wie die radikale Strömung in der städtischen Reformation; kleinbürgerlich waren die französischen Jakobiner und die russischen Narodniki; kleinbürgerlich die Proudhonisten, aber auch die Blanquisten [2]; kleinbürgerlich ist die heutige Sozialdemokratie, aber auch der Faschismus; kleinbürgerlich sind: die französischen Anarchosyndikalisten, die „Heilsarmee“, die Gandhibewegung in Indien usw. usw. Ein noch bunteres Bild ergäbe sich, würden wir auf das Gebiet von Philosophie und Kunst übergehen. Heißt das, daß der Marxismus mit der Terminologie spielt? Nein, es bedeutet nur, daß das Kleinbürgertum durch außerordentliche Mannigfaltigkeit seiner sozialen Natur gekennzeichnet ist. Nach unten hin fließt es mit dem Proletariat zusammen und geht ins Lumpenproletariat über, nach oben in die kapitalistische Bourgeoisie. Es kann sich auf alte Produktionsformen stützen, sich aber auch auf Grundlage der modernen Industrie rasch entfalten (der neue „Mittelstand“). Kein Wunder, wenn es ideologisch in allen Farben des Regenbogens spielt.

Der Zentrismus spielt innerhalb der Arbeiterbewegung in gewissem Sinne die gleiche Rolle wie die kleinbürgerliche Ideologie aller Spielarten in der bürgerlichen Gesellschaft im ganzen. Der Zentrismus reflektiert die Entwicklungsprozesse des Proletariats, seine politisch-revolutionäre Entwicklung wie seinen Verfall im Zusammenhang mit dem Druck, den alle übrigen Gesellschaftsklassen auf das Proletariat ausüben. Kein Wunder, daß die Palette des Zentrismus sich durch solche Buntheit auszeichnet! Daraus erhellt indes nicht, daß man auf den Begriff Zentrismus verzichten muß, sondern nur, daß man in jedem einzelnen Falle durch konkrete soziale und historische Analyse das wirkliche Wesen der fraglichen Spielart von Zentrismus aufdecken muß.

Die leitende Kominternfraktion stellt nicht Zentrismus „im allgemeinen“ dar, sondern eine ganz bestimmte historische Formation, die, die wenn auch sehr junge, so doch mächtige soziale Wurzeln besitzt. Es handelt sich vor allem um die Sowjetbürokratie. In den Schriften der stalinistischen Theoretiker existiert diese Schicht überhaupt nicht. Man spricht von „Leninismus“ von einer körperlosen Führung, von ideologischen Traditionen, vom Geiste des Bolschewismus, von der unwägbaren „Generallinie“; davon aber, daß die lebendige, aus Fleisch und Knochen bestehende Bürokratie diese Generallinie lenkt wie der Feuerwehrmann seinen Schlauch, davon hört man kein Wort.

Indes ist der Bürokrat am allerwenigsten einem körperlosen Geist ähnlich. Er ißt, trinkt, vermehrt sich und schafft sich einen ordentlichen Bauch. Er kommandiert mit schallender Stimme, sondert unten seine getreuen Leute aus, übt Treue gegenüber der Obrigkeit, verbittet sich Kritik und sieht darin den Wesenskern der Generallinie. Solcher Bürokraten gibt es einige Millionen mehr – einige Millionen! – als es während der Oktoberrevolution Industriearbeiter gab. Die Mehrzahl dieser Beamten hat nie am Klassenkampf teilgenommen, der mit Opfern und Gefahren verbunden ist. Diese Leute wurden in ihrer überwiegenden Masse bereits als herrschende Schicht geboren. Hinter ihrem Rücken steht die Staatsmacht. Sie sichert ihnen die Existenz und erhebt sie hoch über die übrige Masse. Sie kennen nicht die Gefahr der Arbeitslosigkeit, wenn sie nur verstehen, die Hände an der Hosennaht zu halten. Die größten Fehler werden ihnen vergeben, wenn sie bereit sind, im nötigen Augenblick den Sündenbock zu spielen und dem nächsten Vorgesetzten die Verantwortung abzunehmen. Also, hat eine solche herrschende Millionenschicht soziales Gewicht und politischen Einfluß im Leben des Landes? Ja oder nein?

Daß Arbeiterbürokratie und Arbeiteraristokratie die soziale Basis des Opportunismus abgeben, ist aus den alten Büchern bekannt. In Rußland hat die Erscheinung neue Formen angenommen. Auf der Basis der proletarischen Diktatur – in einem zurückgebliebenen, vom Kapitalismus umgebenen Lande – bildete sich zum ersten Male aus den oberen Schichten der Werktätigen ein mächtiger bürokratischer Apparat, der sich über die Masse erhebt, sie kommandiert, ungeheure Vorrechte genießt, durch kollektive, innere Solidarität verbunden ist, seine besonderen Interessen, Methoden und Prozeduren in die Politik des Arbeiterstaates hineinträgt.

Wir sind keine Anarchisten. Wir begreifen die Notwendigkeit des Arbeiterstaates und folglich auch die historische Unvermeidlichkeit der Bürokratie in der Übergangsperiode. Doch begreifen wir ebenso die in dieser Tatsache begründeten Gefahren, besonders für ein rückständiges, isoliertes Land. Die Idealisierung der Sowjetbürokratie ist der schändlichste Fehler, den ein Marxist begehen kann. Lenin bemühte sich mit allen Kräften darum, daß die Partei als selbständige Avantgarde der Arbeiterklasse sich über den Staatsapparat erhebe, ihn kontrolliere, überprüfe, ausrichte und säubere, indem sie die historischen Interessen des Proletariats – des internationalen, nicht nur des nationalen – über die Interessen der herrschenden Bürokratie stellt. Als erste Bedingung der Parteikontrolle über den Staat betrachtete Lenin die Kontrolle der Parteimasse über den Parteiapparat. Man lese aufmerksam seine Artikel, Reden und Briefe aus der Sowjetperiode, besonders aus den letzten beiden Jahren seines Lebens, und man wird sehen, mit welcher Sorge sein Gedanke jedesmal auf diese brennende Frage zurückkam.

Was geschah aber in der nachleninschen Periode? Die gesamte führende Partei- und Staatsschicht, die Revolution und Bürgerkrieg durchgemacht hatte, wurde hinweggefegt, beseitigt, zerschlagen. Ihren Platz hat der unpersönliche Beamte eingenommen. Gleichzeitig wurde der Kampf gegen den Bürokratismus, der zu Lebzeiten Lenins, als die Bürokratie noch kaum den Windeln entwachsen war, so heftig geführt wurde, vollständig eingestellt, nun, wo der Apparat bis zum Himmel hoch aufgeschossen war.

Wer könnte auch diesen Kampf führen? Die Partei als autonome proletarische Avantgarde gibt es nicht mehr. Der Parteiapparat ist mit dem des Staates verschmolzen. Hauptinstrument der Generallinie innerhalb der Partei ist die GPU. Die Bürokratie läßt nicht nur kein kritisches Wort von unten nach oben zu, sie untersagt ihren Theoretikern sogar, sie nur zu erwähnen. Der wütende Haß gegen die Linke Opposition wird gerade dadurch hervorgerufen, daß die Opposition offen von der Bürokratie spricht, von ihrer besonderen Rolle, ihren Interessen, und das Geheimnis enthüllt, daß die Generallinie von Fleisch und Blut der neuen, nationalen, herrschenden Schicht untrennbar ist, die keineswegs mit dem Proletariat identisch ist.

Die Bürokratie leitet ihre Unfehlbarkeit daraus ab, daß es sich um einen Arbeiterstaat handelt: wie kann die Bürokratie eines Arbeiterstaates entarten! Staat und Bürokratie werden dabei nicht als historische Prozesse, sondern als ewige Kategorien angesehen: wie können die heilige Kirche und ihre gotterfüllten Priester irren! Konnte aber die Arbeiterbürokratie, die sich in der kapitalistischen Gesellschaft über das kämpfende Proletariat erhoben hatte, zu der Partei von Noske, Scheidemann, Ebert und Wels entarten, – warum kann sie nicht entarten, wo sie sich über ein siegreiches Proletariat erhebt?

Die herrschende und unkontrollierte Stellung der Sowjetbürokratie züchtet eine Psychologie hoch, die in vielem der Psychologie des proletarischen Revolutionärs direkt entgegengesetzt ist. Die Bürokratie stellt ihre Berechnungen und Kombinationen in der inneren und der internationalen Politik höher als die Aufgaben der revolutionären Massenerziehung und praktiziert sie ohne jede Verbindung mit den Aufgaben der internationalen Revolution. Während einer Reihe von Jahren hat die Stalinfraktion bewiesen, daß ihr Interessen und Psychologie des „starken Bauern“, des Ingenieurs, des Administrators, der chinesischen bürgerlichen Intellektuellen, der britischen Trade-Union-Beamten näher stehen und begreiflicher geworden sind als Psychologie und Bedürfnisse des einfachen Arbeiters, der Bauernarmut, der aufständischen chinesischen Volksmassen, der englischen Streikenden usw.

Warum aber ist dann die Stalinfraktion auf der Linie des nationalen Opportunismus nicht bis zu Ende gegangen? Darum, weil sie die Bürokratie eines Arbeiterstaates ist. Beschirmt die internationale Sozialdemokratie die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft, so ist die Sowjetbürokratie, solange sie keinen Staatsstreich durchgeführt hat, gezwungen, sich den durch die Oktoberrevolution gelegten sozialen Grundlagen anzupassen. Daher der Doppelcharakter von Psychologie und Politik der Stalinschen Bürokratie. Zentrismus, aber ein Zentrismus auf dem Fundament des Arbeiterstaates, ist der einzig mögliche Ausdruck dieses Doppelcharakters.

Haben in den kapitalistischen Ländern zentristische Gruppierungen meist transitorischen Charakter, indem sie die Entwicklung bestimmter Arbeiter-schichten nach rechts oder links widerspiegeln, so erhielt unter den Bedingungen der Sowjetrepublik der Zentrismus eine weitaus festere und organisiertere Basis in Gestalt der millionenstarken Bürokratie. Während sie das natürliche Milieu opportunistischer und nationaler Tendenzen darstellt, ist sie gleichwohl gezwungen, die Grundlagen ihrer Herrschaft im Kampf gegen den Kulaken zu verteidigen und gleichzeitig für ihr „bolschewistisches“ Prestige in der Weltarbeiterbewegung zu sorgen. Nachdem sie versucht hatte, die Freundschaft der Kuomintang und der Amsterdamer Bürokratie zu erringen, die ihr geistig in vielem nahesteht, trat die Sowjetbürokratie jedesmal in scharfen Konflikt mit der Sozialdemokratie, die die Feindseligkeit der Weltbourgeoisie gegenüber der Sowjetunion widerspiegelt. Das sind die Quellen des jetzigen linken Zickzacks.

Die Eigenart der Lage besteht nicht darin, daß die Sowjetbürokratie mit einer besonderen Immunität gegen Opportunismus oder Nationalismus versehen wäre, sondern darin, daß sie, ohne die Möglichkeit, eine komplette nationalreformistische Position zu beziehen, gezwungen ist, Zickzacks zwischen Marxismus und Nationalreformismus zu beschreiben. Die Schwankungen dieses bürokratischen Zentrismus haben, entsprechend seiner Macht, seinen Hilfs-quellen und den Widersprüchen seiner Lage, ein ganz unerhörtes Ausmaß erreicht: von ultralinken Abenteuern in Bulgarien und Estland – zum Bündnis mit Tschiang Kai-schek, Radic und Purcell; von der schändlichen Verbrüderung mit den britischen Streikbrechern – zum völligen Verzicht auf die Einheitsfront mit Massengewerkschaften.

Ihre Methoden und Zickzacks überträgt die Stalinsche Bürokatie auf andere Länder, soweit sie durch den Parteiapparat die Kommunistische Internationale nicht nur führt, sondern kommandiert. Thälmann war für die Kuomintang, als Stalin für die Kuomintang war. Auf dem VII. EKKI-Plenum im Herbst 1926 trat der Kuomintangdelegierte und Abgesandte Tschiang Kaischeks, Schao Li-tzu [3] in voller Einmütigkeit mit Thälmann, Sémard [4] und all den Remmeles gegen den „Trotzkismus“ auf. „Genosse“ Schao Li-tzu sagte: „Wir sind alle überzeugt, daß unter Führung der Komintern die Kuomintang ihre historische Aufgabe erfüllen wird“ (Russ. Prot. I. Band, S.459) Das ist der historische Tatbestand!

Nehmt Die Rote Fahne vom Jahre 1926 und ihr werdet dort eine Menge Artikel über das Thema finden, Trotzki beweise durch die Forderung nach dem Bruch mit dem britischen Generalrat der Streikbrecher seinen ... Menschewismus! Heute aber besteht der „Menschewismus“ schon in der Verteidigung der Einheitsfront mit Massenorganisationen, d.h. der Durchführung jener Politik, die unter Lenins Leitung vom III. und IV. Weltkongreß formuliert wurde (gegen alle die Thälmann, Thalheimer, Bela Kun, Frossard usw.).

Diese niederschmetternden Zickzacks wären unmöglich, hätte sich nicht in allen nationalen Sektionen eine selbstgenügsame, d.h. von der Partei unabhängige Bürokratenschicht herausgebildet. Hier liegt die Wurzel des Übels!

Die Kraft einer revolutionären Partei besteht in der Selbsttätigkeit der Avantgarde, die ihre Kader überprüft und aussondert, und – indem sie ihre Führer erzieht – sie allmählich durch ihr Vertrauen an die Spitze hebt. Dies schafft ein untrennbares Band zwischen Kadern und Massen, zwischen Führern und Kadern und verleiht der gesamten Leitung innere Selbstsicherheit. Nichts davon in den heutigen Kommunistischen Parteien! Die Führer werden ernannt. Sie wählen ihre Untergebenen aus. Die Mitgliedermasse wird gezwungen, die ernannten Führer zu akzeptieren, um die eine künstliche Reklameatmosphäre geschaffen wird. Die Kader hängen von der Spitze statt von den unteren Schichten ab. Die Quellen ihres Einflusses wie ihre Existenzquellen suchen sie meist außerhalb der Massen. Ihre politischen Losungen beziehen sie nicht aus der Kampferfahrung, sondern über die Telegraphenleitung. Gleichzeitig werden in Stalins Archiven für alle Fälle Anklagedokumente aufbewahrt. Jeder der Führer weiß, daß man ihn jeden Augenblick wie Federflaum fortblasen kann.

So entsteht in der gesamten Komintern eine abgegrenzte bürokratische Schicht, die den Nährboden für den Bazillus des Zentrismus abgibt. Organisatorisch sehr stabil und widerstandsfähig, da er sich auf die Bürokratie des Sowjetstaates stützt, zeichnet sich der Zentrismus der Thälmann, Remmele und Co in politischer Hinsicht durch äußerste Labilität aus. Ohne jene Sicherheit, die sich nur aus der organischen Verbindung mit den Massen ergibt, ist das unfehlbare ZK zu den ungeheuerlichsten Zickzacks fähig. Je weniger es für ernste ideologische Kämpfe gerüstet ist, desto freigebiger ist es mit Schmähungen, Kriechereien, Verleumdungen. Stalin, nach Lenins Definition „grob“ und „illoyal“, ist die Personifizierung dieser Schicht.

Die hier gegebene Charakteristik des bürokratischen Zentrismus bestimmt das Verhältnis der Linken Opposition zur Stalinschen Bürokratie: Volle und uneingeschränkte Unterstützung, soweit die Bürokratie die Grenzen der Sowjetrepublik und die Grundlagen der Oktoberrevolution verteidigt; offene Kritik, soweit sie durch ihre administrativen Zickzacks die Verteidigung der Revolution und des sozialistischen Aufbaus erschwert; unbarmherziger Widerstand, soweit sie durch ihr bürokratisches Kommando den Kampf des Weltproletariats desorganisiert.

 

 

Fußnote von Trotzki

1*. Eine detaillierte Analyse dieses opportunistischen Kapitels der Kominterngeschichte, das mehrere Jahre währte, findet man in unseren Arbeiten: Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale (Kritik des Programms der Komintern), Die permanente Revolution, Wer leitet heute die Komintern? usw.


Anmerkungen

1. Leon Jouhaux (1879-1954): französischer Syndikalist; Unterstützter des Ersten Weltkriegs; Generalsekretär der französischen Gewerkschaft CGT (1909–40).

2. Jakobiner: radikal-bürgerlicher Flügel der Französischen Revolution; dominierte die Regierung vom Fall der Gironde 1791 bis zu Thermidor 1794. – Narodniki: ab 1876 russische revolutionäre Strömung, die sich ans Volk (eigentlich an die Bauern) wandte; benutzte immer mehr Methoden des individuellen Terrorismus; erfolgreiches Attentat auf den Zaren Alexander II. führte zur Niederschlagung der Bewegung; Lenins Bruder Alexander, ein Mitglied dieser Bewegung, wurde nach dem Attentat hingerichtet. – Proudhonisten: Strömung in der französischen Arbeiterbewegung; Anhänger von Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865): Theoretiker des Anarchismus; Gegner von Marx; argumentierte, der Sozialismus würde aus der Gründung genossenschaftlicher Werkstätte entstehen. – Blanquisten: revolutionäre Strömung in der französischen Arbeiterbewegung; Anhänger von Louis-Auguste Blanqui (1805-1881): französischer Revolutionär; utopischer Kommunist; glaubte, die Revolution würde von einer streng organisierten Minderheit durchgeführt werden, die die proletarische Diktatur durch einen plötzlichen Staatsstreich erringen würde.

3. Schao Li-tzu: Delegierter der Kuomintang bei der Komintern.

4. Pierre Sémard (1887-1942): Führer der Kommunistischen Partei Frankreichs.

 


Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008