Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Kapitel 20:
Die Kunst des Aufstandes

Die Menschen machen eine Revolution wie auch einen Krieg nicht gern. Der Unterschied jedoch ist, daß im Kriege die entscheidende Rolle der Zwang spielt; in der Revolution gibt es keinen Zwang, sieht man vom Zwang der Verhältnisse ab. Eine Revolution geschieht dann, wenn kein anderer Weg übrigbleibt. Der Aufstand, der sich über die Revolution erhebt wie ein Gipfel in der Bergkette, kann ebensowenig willkürlich hervorgerufen werden wie die Revolution in ihrer Gesamtheit. Die Massen vollziehen wiederholte Angriffe und Rückzüge, ehe sie sich zum entscheidenden Sturm entschließen.

Die Verschwörung wird gewöhnlich als das planmäßige Unternehmen einer Minderheit dem Aufstande als der Elementarbewegung einer Mehrheit gegenübergestellt. Und in der Tat: der siegreiche Aufstand, der nur Sache einer Klasse sein kann, die berufen ist, sich an die Spitze der Nation zu stellen, ist seiner historischen Bedeutung und seinen Methoden nach durch einen Abgrund getrennt von der Umwälzung durch Verschwörer, die hinter dem Rücken der Massen handeln.

Im Wesen birgt jede Klassengesellschaft genügend Widersprüche in sich, daß man in ihren Rissen eine Verschwörung bauen kann. Doch beweist die historische Erfahrung, daß immerhin ein bestimmter Krankheitsgrad der Gesellschaft nötig ist – wie in Spanien, Portugal, Südamerika –, damit die Verschwörerpolitik dauernd Nahrung findet. Eine reine Verschwörung kann selbst im Falle ihres Sieges nur die Ablösung einzelner Cliquen der gleichen regierenden Klasse an der Macht ergeben, oder noch weniger: Ablösung der Regierungsfiguren. Den Sieg eines sozialen Regimes über ein anderes hat in der Geschichte bisher nur der Massenaufstand gebracht. Während periodische Verschwörungen am häufigsten nur Ausdruck von Stillstand und Fäulnis der Gesellschaft sind, entsteht dagegen der Volksaufstand gewöhnlich als Folge einer vorangegangenen schnellen, das alte Gleichgewicht der Nation erschütternden Entwicklung. Die chronischen „Revolutionen“ der südamerikanischen Republiken haben mit der permanenten Revolution nichts gemein, sie bilden vielmehr in gewissem Sinne ihren Gegensatz.

Doch bedeutet das Gesagte keinesfalls, daß Volksaufstand und Verschwörung einander unter allen Umständen ausschließen. Das Element der Verschwörung ist in dem einen oder dem anderen Maße fast immer im Aufstande enthalten. Eine historisch bedingte Etappe der Revolution bildend, ist der Massenaufstand niemals rein elementar. Sogar wenn er für die Mehrzahl seiner Teilnehmer überraschend zum Ausbruch kommt, ist er von jenen Ideen befruchtet, in denen die Aufständischen Ausweg aus Daseinslasten erblicken. Doch kann man den Massenaufstand voraussehen und vorbereiten. Kann ihn im voraus organisieren. In diesem Falle ist die Verschwörung dem Aufstand unterworfen, sie dient ihm, erleichtert seinen Gang, beschleunigt seinen Sieg. Je höher die revolutionäre Bewegung ihrem politischen Niveau nach ist, je ernster ihre Führung, einen um so größeren Raum nimmt die Verschwörung im Volksaufstande ein.

Richtig das Verhältnis zwischen Aufstand und Verschwörung, in ihrem Gegensatz wie in ihrem Sichergänzen, zu verstehen, ist um so notwendiger, als der Gebrauch des Wortes „Verschwörung“ sogar in der marxistischen Literatur einen nach außen hin widerspruchsvollen Charakter hat, je nachdem, ob es sich um das selbständige Unternehmen einer initiativen Minderheit handelt oder um den durch die Minderheit vorbereiteten Aufstand der Mehrheit.

Die Geschichte zeigt allerdings, daß der Volksaufstand unter bestimmten Bedingungen auch ohne Verschwörung siegen kann. Entstanden „elementar“, aus allgemeiner Empörung, vereinzelten Protesten, Demonstrationen, Streiks, Straßenzusammenstößen, kann der Aufstand einen Teil der Armee mitreißen, die Kräfte des Feindes paralysieren und die alte Macht stürzen. So bis zu einem gewissen Grade geschah dies im Februar 1917 in Rußland. Ungefähr das gleiche Bild bot die Entwicklung der deutschen und der österreichisch-ungarischen Revolution im Herbst 1918. Soweit in diesen Fällen an der Spitze der Aufständischen keine von den Interessen und Zielen des Aufstandes durch und durch erfüllte Partei stand, mußte sein Sieg unabwendbar die Macht in die Hände jener Parteien legen, die bis zum letzten Augenblick dem Aufstand entgegengewirkt hatten.

Die alte Macht stürzen – ist eines. Die Macht übernehmen – ein anderes. Die Bourgeoisie ist in der Lage, in der Revolution die Macht zu übernehmen, nicht weil sie revolutionär ist, sondern weil sie die Bourgeoisie ist: in ihren Händen befinden sich Besitz, Bildung, Presse, ein Netz von Stützpunkten, eine Hierarchie von Institutionen. Anders das Proletariat: bar jedes außerhalb seiner selbst liegenden sozialen Vorranges, kann das aufständische Proletariat nur auf seine zahlenmäßige Stärke, seine Geschlossenheit, seine Kader, seinen Stab rechnen.

Wie es dem Schmied nicht gegeben ist, mit bloßen Händen glühendes Eisen anzufassen, so kann das Proletariat nicht mit bloßen Händen die Macht ergreifen: es braucht eine für diese Aufgabe geeignete Organisation. In der Verknüpfung von Massenaufstand und Verschwörung, der Unterordnung der Verschwörung unter den Aufstand, der Organisierung des Aufstandes durch die Verschwörung besteht jenes komplizierte und verantwortliche Gebiet der revolutionären Politik, das Marx und Engels „die Kunst des Aufstandes“ nannten. Sie setzt voraus eine richtige Gesamtführung der Massen, eine elastische Orientierung in den sich verändernden Bedingungen, einen durchdachten Angriffsplan, Vorsicht bei der technischen Vorbereitung und Kühnheit beim Zuschlagen.

Als elementaren Aufstand bezeichnen Historiker und Politiker gewöhnlich eine solche Massenbewegung, die – geeint durch Feindschaft gegen das alte Regime – weder klare Ziele, noch ausgearbeitete Kampfmethoden, noch eine bewußt zum Siege führende Leitung besitzt. Der elementare Aufstand genießt die wohlwollende Anerkennung der offiziellen Historiker, wenigstens der demokratischen, als unabwendbares Übel, für das die Verantwortung auf das alte Regime fällt. Die wahre Ursache des Wohlwollens besteht darin, daß „elementare“ Aufstände über die Rahmen des bürgerlichen Regimes nicht hinausgehen können.

Die gleiche Bahn geht auch die Sozialdemokratie: sie verneint nicht die Revolution im allgemeinen, als soziale Katastrophe, wie sie Erdbeben, vulkanische Ausbrüche, Sonnenfinsternisse und Pestepidemien nicht verneint. Was sie als „Blanquismus“ oder noch schlimmer als Bolschewismus verneint, ist die bewußte Vorbereitung der Umwälzung, der Plan, die Verschwörung. Mit anderen Worten, die Sozialdemokratie ist bereit, allerdings post factum, jene Umwälzungen zu sanktionieren, die die Macht in die Hände der Bourgeoisie übergeben, verurteilt aber gleichzeitig unversöhnlich jene Methoden, die allein imstande sind, die Macht in die Hände des Proletariats zu übergeben. Unter dem scheinbaren Objektivismus verbirgt sich die Politik des Schutzes der kapitalistischen Gesellschaft.

Aus den Beobachtungen und Betrachtungen über die Mißerfolge vieler Aufstände, deren Teilnehmer oder Zeuge er gewesen, leitete Auguste Blanqui eine Reihe taktischer Regeln ab, ohne deren Wahrung der Sieg des Aufstandes äußerst erschwert, wenn nicht gar unmöglich sei. Blanqui forderte rechtzeitige Schaffung regelrechter revolutionärer Abteilungen unter zentralisierter Leitung, deren regelrechte Ausrüstung, gut berechnete Verteilung der Barrikaden von bestimmter Konstruktion mit einer systematischen, nicht episodischen Verteidigung. Alle diese sich aus den Kriegsaufgaben des Aufstandes ergebenden Regeln müssen sich selbstverständlich unvermeidlich zusammen mit den sozialen Bedingungen und der Kriegstechnik verändern; an sich aber sind sie keinesfalls „Blanquismus“ in dem Sinne, wie dieser Begriff dem deutschen „Putschismus“ oder dem revolutionären Abenteurertum nahesteht.

Der Aufstand ist eine Kunst und hat wie jede Kunst seine Gesetze. Blanquis Regeln waren Forderungen des kriegsrevolutionären Realismus. Blanquis Irrtum bestand nicht in seinem direkten Theorem, sondern in dessen Umkehrung. Aus der Tatsache, daß die taktische Hilflosigkeit den Aufstand zum Untergang verurteilte, zog Blanqui die Schlußforderung, daß die Einhaltung der Regeln der Insurrektionstaktik an sich imstande sei, den Sieg zu sichern. Erst von da ab beginnt die berechtigte Gegenüberstellung von Blanquismus und Marxismus. Die Verschwörung ersetzt den Aufstand nicht. Die aktive Minderheit des Proletariats, so gut sie auch organisiert sein mag, ist nicht fähig, unabhängig vom Gesamtzustande des Landes die Macht zu ergreifen: in diesem Sinne hat die Geschichte über den Blanquismus ihr Urteil gesprochen. Aber nur in diesem Sinne. Das direkte Theorem behält seine volle Geltung. Zur Machteroberung genügt dem Proletariat nicht der elementare Aufstand. Nötig ist die entsprechende Organisation, nötig der Plan, nötig die Verschwörung. So ist die Leninsche Fragestellung.

Die von Engels geübte Kritik am Barrikadenfetischismus stützte sich auf die Evolution der allgemeinen und der militärischen Technik. Die Insurrektionstaktik des Blanquismus entsprach dem Charakter des alten Paris, des halb auf Handwerk fußenden Proletariats, der engen Straßen und des Militärsystems Louis Philipps. Der prinzipielle Irrtum des Blanquismus bestand in der Gleichsetzung von Revolution und Insurrektion, Der technische Irrtum des Blanquismus lag darin, daß er Insurrektion und Barrikade einander gleichsetzte. Die marxistische Kritik war gegen beide Irrtümer gerichtet. Einer Meinung mit dem Blanquismus, der Aufstand sei eine Kunst, deckte Engels indes nicht nur die untergeordnete Stellung des Aufstandes innerhalb der Revolution auf, sondern auch die schwindende Rolle der Barrikade im Aufstand, Engels’ Kritik hatte nichts gemein mit Verzicht auf die revolutionären Methoden zugunsten des reinen Parlamentarismus, wie dies seinerzeit Philister der deutschen Sozialdemokratie unter Beihilfe der Hohenzollernzensur hinzustellen versuchten. Für Engels blieb die Frage der Barrikade die Frage nach einem der technischen Elemente des Umsturzes. Die Reformisten hingegen suchten aus der Verneinung einer entscheidenden Bedeutung der Barrikade die Verneinung der revolutionären Gewalt überhaupt abzuleiten. Dies ist beinahe dasselbe, als wollte man aus Erwägungen über die wahrscheinlich abnehmende Bedeutung des Schützengrabens im künftigen Kriege auf den Zusammenbruch des Militarismus schließen.

Die Organisation, mit deren Hilfe das Proletariat imstande ist, nicht nur die alte Macht zu stürzen, sondern auch sie abzulösen, sind die Sowjets. Was später Sache historischer Erfahrung wurde, war vor der Oktoberumwälzung theoretische, allerdings auf die einleitende Erfahrung von 1905 gestützte Prognose. Die Sowjets sind Organe der Vorbereitung der Massen für den Aufstand, Organe des Aufstandes, und nach dem Siege – Organe der Macht.

Freilich, die Sowjets an sich lösen die Frage noch nicht. In Abhängigkeit von Programm und Führung können sie verschiedenen Zwecken dienen. Das Programm wird den Sowjets von der Partei gegeben. Wenn die Sowjets unter den Bedingungen der Revolution – außerhalb der Revolution sind sie überhaupt undenkbar – die gesamte Klasse erfassen, mit Ausnahme der gänzlich rückständigen, passiven oder demoralisierten Schichten, so stellt die revolutionäre Partei den Kopf der Klasse dar. Die Aufgabe der Machteroberung kann nur gelöst werden durch eine bestimmte Verbindung von Partei und Sowjets oder anderen, den Sowjets mehr oder weniger gleichwertigen Massenorganisationen.

Der von der revolutionären Partei geführte Sowjet strebt bewußt und rechtzeitig die Machteroberung an. In Übereinstimmung mit den Veränderungen der politischen Situation und der Massenstimmungen bereitet er Stützpunkte des Aufstandes vor, verbindet die Stoßtruppen durch die Einheitlichkeit des Zieles, entwirft im voraus den Plan des Angriffs und des letzten Ansturms: dieses eben bedeutet, organisierte Verschwörung in den Massenaufstand hineinbringen.

Die Bolschewiki mußten mehr als einmal, schon lange vor der Oktoberumwälzung, die von den Gegnern gegen sie gerichtete Beschuldigung des Verschwörertums und Blanquismus widerlegen. Indes hat niemand einen so unversöhnlichen Kampf gegen das System der reinen Verschwörung geführt wie Lenin. Die Opportunisten der internationalen Sozialdemokratie haben mehr als einmal die alte sozialrevolutionäre Taktik des individuellen Terrors gegen die Agenten des Zarismus in Schutz genommen vor der erbarmungslosen Kritik der Bolschewiki, die dem individualistischen Abenteurertum der Intelligenz den Kurs auf den Massenaufstand entgegenstellten. Während er jedoch alle Abarten des Blanquismus und Anarchismus verwarf hat Lenin sich keine Minute vor der „Heiligkeit“ der Massenspontaneität gebeugt. Er hat früher und tiefer als die anderen das Verhältnis zwischen objektiven und subjektiven Faktoren der Revolution, zwischen elementarer Bewegung und Parteipolitik, zwischen Volksmassen und fortgeschrittener Klasse, zwischen Proletariat und dessen Avantgarde, zwischen Sowjets und Partei, zwischen Aufstand und Verschwörung durchdacht.

Aber wenn es richtig ist, daß man einen Aufstand nicht willkürlich hervorrufen kann, daß man ihn für den Sieg gleichzeitig organisieren muß, dann entsteht vor der revolutionären Führung die Aufgabe einer richtigen Diagnose: man muß rechtzeitig den anwachsenden Aufstand erfassen, um ihn durch die Verschwörung zu ergänzen. Die geburtshilfliche Einmischung in die Entbindungsqualen, so sehr dies Bild mißbraucht worden ist, bleibt dennoch die krasseste Illustration des bewußten Eingriffs in den elementaren Prozeß. Herzen hat erstmals seinen Freund Bakunin beschuldigt, dieser habe bei allen seinen revolutionären Vorhaben unabänderlich den zweiten Monat der Schwangerschaft für den neunten gehalten. Herzen selbst neigte eher dazu, die Schwangerschaft auch im neunten Monat zu bestreiten. Im Februar wurde die Frage des Geburtstermins fast überhaupt nicht gestellt, insoweit der Aufstand „überraschend“ ohne zentralisierte Führung ausgebrochen war. Aber gerade deshalb ging die Macht nicht an jene über, die den Aufstand vollzogen, sondern an jene, die ihn gebremst hatten. Ganz anders verhielt sich die Sache mit dem neuen Aufstand: er wurde bewußt von der bolschewistischen Partei vorbereitet. Die Aufgabe: den Moment für das Angriffssignal richtig zu erfassen, fiel somit dem bolschewistischen Stab zu.

Das Wort „Moment“ darf man nicht gar zu buchstäblich nehmen, als auf Tag und Stunde bestimmt: auch für die Geburt läßt die Natur eine beträchtliche Schwankungszeit zu, für deren Grenzen sich nicht nur die Kunst der Geburtshilfe interessiert, sondern auch die Kasuistik des Erbrechts. Zwischen dem Moment, wo der Versuch, einen Aufstand hervorzurufen, sich unvermeidlich als noch verfrüht erweisen und zur revolutionären Fehlgeburt führen muß, und dem Moment, wo man die günstige Situation schon als hoffnungslos verpaßt betrachten muß, verläuft eine gewisse Revolutionsperiode – sie läßt sich nach Wochen, manchmal nach Monaten messen –, während der der Aufstand mit mehr oder weniger Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden kann. Das Erfassen dieser verhältnismäßig kurzen Frist und die Wahl des Moments, bereits im präzisen Sinne von Tag und Stunde, für den letzten Schlag, stellen die revolutionäre Führung vor die verantwortungsvollste Aufgabe. Man kann sie mit vollem Recht als das Knotenproblem bezeichnen, denn sie verbindet die revolutionäre Politik mit der Technik des Aufstandes: muß man daran erinnern, daß der Aufstand wie der Krieg die Fortsetzung der Politik nur mit anderen Mitteln darstellt?

Intuition und Erfahrung sind für revolutionäre Leitung ebenso erforderlich wie für alle anderen Gebiete des Schaffens. Aber dies genügt nicht. Auch die Kunst der Kurpfuscher kann sich nicht ohne Erfolg auf Intuition und Erfahrung stützen. Politische Kurpfuscherei reicht aber nur aus für Epochen oder Perioden, die im Zeichen der Routine stehen. Eine Epoche großer historischer Umwälzungen duldet keine Kurpfuscherei. Auch die von Intuition beseelte Erfahrung genügt ihr nicht. Es ist eine synthetische Doktrin erforderlich, die die Wechselwirkung der wichtigsten historischen Kräfte umfaßt. Es ist die materialistische Methode erforderlich, die es gestattet, hinter den chinesischen Schatten von Programmen und Parolen die wirkliche Bewegung der sozialen Körper zu entdecken.

Grundvoraussetzung der Revolution ist, daß sich das bestehende gesellschaftliche Regime als unfähig erweist, die lebensnotwendigen Aufgaben der Entwicklung der Nation zu lösen. Die Revolution wird aber nur dann möglich, wenn innerhalb der Gesellschaft eine neue Klasse existiert, die zur Lösung der von der Geschichte gestellten Aufgaben an die Spitze der Nation zu treten vermag. Der Vorbereitungsprozeß der Revolution besteht darin, daß die objektiven, in den Wirtschafts- und Klassenwidersprüchen enthaltenen Aufgaben sich im Bewußtsein der lebendigen Menschenmassen Bahn brechen, es verändern und ein neues politisches Kräfteverhältnis schaffen.

Die herrschenden Klassen verlieren infolge ihrer in der Tat offenbarten Unfähigkeit, das Land aus der Sackgasse herauszuführen, den Glauben an sich; die alten Parteien zerfallen; es entsteht ein erbitterter Kampf zwischen Gruppen und Cliquen; die Hoffnungen werden auf ein Wunder oder einen Wundertäter übertragen. All das bildet eine der politischen Voraussetzungen des Umsturzes, eine äußerst wichtige, wenn auch passive.

Erbitterte Feindschaft gegen die bestehende Ordnung und Bereitschaft, die heroischsten Anstrengungen und Opfer zu wagen, um das Land auf den Weg des Aufstieges hinauszuführen – dies ist das neue politische Bewußtsein der revolutionären Klasse, das die wichtigste aktive Voraussetzung der Umwälzung bildet.

Die zwei Hauptlager – Großbesitz und Proletariat – erschöpfen jedoch die Nation nicht. Zwischen ihnen liegen die breiten Schichten der Kleinbourgeoisie, die in allen Farben des ökonomischen und politischen Regenbogens schillern. Die Unzufriedenheit der Zwischenschichten, ihre Enttäuschung an der Politik der regierenden Klasse, ihre Ungeduld und Empörung, ihre Bereitschaft, bilden die dritte politische Bedingung der Umwälzung, eine teils passive, insofern sie die Spitze der Kleinbourgeoisie neutralisiert, eine teils aktive, insofern sie deren untere Schichten in den direkten Kampf stößt, Seite an Seite mit den Arbeitern.

Die gegenseitige Bedingtheit dieser Voraussetzungen ist offensichtlich: je entschlossener und sicherer das Proletariat handelt, um so mehr Möglichkeiten hat es, die Zwischenschichten mitzureißen, um so isolierter ist die herrschende Klasse, um so tiefergehend die Demoralisierung in deren Mitte. Und umgekehrt: der Zerfall der Herrschenden gießt Wasser auf die Mühle der revolutionären Klasse.

Von der für die Umwälzung notwendigen Zuversicht zu seinen Kräften kann das Proletariat nur erfüllt sein, wenn sich vor ihm eine klare Perspektive entrollt, wenn es die Möglichkeit besitzt, aktiv das sich zu seinen Gunsten verändernde Kräfteverhältnis nachzuprüfen, wenn es über sich eine weitblickende, feste und sichere Leitung fühlt. Das führt uns zu der – der Reihe, nicht aber der Bedeutung nach – letzten Bedingung der Machteroberung: zur revolutionären Partei, als der eng verschmolzenen und gestählten Avantgarde der Klasse.

Dank der günstigen Verknüpfung historischer Bedingungen, innerer wie internationaler, erhielt das russische Proletariat an seine Spitze eine Partei von außergewöhnlicher politischer Klarheit und beispielloser revolutionärer Stählung: nur dies allein gestattete der zahlenmäßig kleinen und jungen Klasse, eine dem Außmaße nach nie dagewesene historische Aufgabe zu erfüllen. Im allgemeinen erwies sich nach dem Zeugnis der Geschichte – Pariser Kommune, deutsche und österreichische Revolution von 1918, Sowjetungarn und Bayern, italienische Revolution von 1919, deutsche Krise von 1923, chinesische Revolution von 1925 bis 1927, spanische Revolution von 1931 – als das schwächste Glied in der Kette der Bedingungen bis jetzt das Parteiglied: für die Arbeiterklasse ist es am schwierigsten, eine revolutionäre, auf der Höhe ihrer historischen Aufgabe stehende Organisation zu schaffen. In den älteren und zivilisierten Ländern sind mächtige Kräfte am Werke zur Schwächung und Zersetzung der revolutionären Avantgarde. Einen wichtigen Bestandteil dieser Arbeit bildet der Kampf der Sozialdemokratie gegen „Blanquismus“, unter welchem Namen das revolutionäre Wesen des Marxismus figuriert.

Trotz der großen Zahl sozialer und politischer Krisen konnte man ein Zusammentreffen aller für eine siegreiche und widerstandsfähige proletarische Umwälzung notwendigen Bedingungen bis jetzt in der Geschichte nur einmal beobachten: im Oktober 1917 in Rußland. Eine revolutionäre Situation ist nicht von ewiger Dauer. Die schwankendste Voraussetzung der Umwälzung ist die Stimmung der Kleinbourgeoisie. Während nationaler Krisen geht sie hinter jener Klasse, die ihr nicht durch Worte, sondern auch durch Taten Vertrauen einflößt. Fähig zum impulsiven Aufstieg, sogar zu revolutionärer Raserei, fehlt der Kleinbourgeoisie Ausdauer, sie verliert bei Mißerfolg leicht den Mut und fällt aus flammenden Hoffnungen in Enttäuschung. Die scharfen und jähen Wechsel ihrer Stimmungen verleihen eben jeder revolutionären Situation eine solche Unbeständigkeit. Ist die proletarische Partei nicht genügend entschlossen, um die Erwartungen und Hoffnungen der Volksmassen rechtzeitig in revolutionäre Handlung umzusetzen, wird die Flut schnell von der Ebbe abgelöst: die Zwischenschichten wenden ihre Blicke von der Revolution ab und suchen die Retter im feindlichen Lager. Wie während der Flut das Proletariat die Kleinbourgeoisie mitreißt, so reißt während der Ebbe die Kleinbourgeoisie bedeutende Schichten des Proletariats mit. Dies ist die Dialektik der kommunistischen und faschistischen Wellen in der politischen Evolution Europas nach dem Kriege.

Bemüht, sich auf den Marx’schen Grundsatz zu stützen: kein Regime verschwindet von der Bühne, ehe es alle seine Möglichkeiten erschöpft hat, bestritten die Menschewiki die Zulässigkeit des Kampfes um die Diktatur des Proletariats im rückständigen Rußland, wo der Kapitalismus sich noch längst nicht erschöpft hatte. Diese Beurteilung enthielt zwei Irrtümer, von denen jeder fatal war. Der Kapitalismus ist kein nationales, sondern ein Weltsystem. Der imperialistische Krieg und seine Folgen haben gezeigt, daß das System des Kapitalismus sich im Weltmaßstabe erschöpft hat. Die Revolution in Rußland war die Sprengung des schwächsten Gliedes im kapitalistischen Weltsystem.

Aber das Irrige an der menschewistischen Konzeption offenbart sich auch unter dem nationalen Gesichtswinkel. Vom Standpunkte der ökonomischen Abstraktion läßt sich vielleicht behaupten, daß der Kapitalismus in Rußland seine Möglichkeiten nicht erschöpft hatte. Aber die ökonomischen Prozesse verlaufen nicht im Äther sondern im konkreten historischen Milieu. Der Kapitalismus ist keine Abstraktion: er ist ein lebendiges System von Klassenbeziehungen, das vor allem einer Staatsmacht bedarf. Daß die Monarchie, unter deren Schutz sich der russische Kapitalismus entwickelte, ihre Möglichkeiten erschöpft hatte, bestritten auch die Menschewiki nicht. Die Februarrevolution versuchte ein staatliches Zwischenregime zu errichten. Wir haben seine Geschichte verfolgt: im Laufe von acht Monaten hatte es sich restlos erschöpft. Welche andere Staatsordnung hätte denn unter diesen Umständen vermocht, die weitere Entwicklung des russischen Kapitalismus zu sichern?

„Die bürgerliche Republik, verteidigt allein nur von Sozialisten der gemäßigten Strömungen, die im Volke keine Stütze fanden ..., konnte sich nicht halten. Ihr ganzer Kern war verwittert, es blieb nur die äußere Schale.“ Diese treffende Charakteristik gehört Miljukow. Das Schicksal des verwitterten Systems mußte, nach sein Worten, das gleiche sein wie das Schicksal der Zarenmonarchie: „Beide haben den Boden für die Revolution vorbereitet, und am Tage der Revolution fanden beide keinen einzigen Verteidiger.“

Schon seit Juli-August charakterisierte Miljukow die Lage mit der Alternative der zwei Namen: Kornilow oder Lenin. Kornilow jedoch hatte bereits seine Erfahrung gemacht, die mit dem kläglichen Fiasko endete. Für das Kerenskiregime war jedenfalls kein Platz mehr übrig. Bei allem Unterschiede der Stimmungen, bezeugt Suchanow, „war gemeinsam nur der Haß für die Kerenskiade“. Wie sich die Zarenmonarchie am Ende auch in den Augen der Spitzen des Adels und sogar der Großfürsten unmöglich gemacht hatte, so wurde die Kerenskiregierung sogar den offenen Inspiratoren des Regimes, den „Großfürsten“ der Versöhnlerspitze, verhaßt. In dieser allgemeinen Unzufriedenheit, in diesem heftigen politischen Unwohlsein aller Klassen besteht eines der wichtigsten Merkmale für die Reife der revolutionären Situation. So ist jeder Muskel, jeder Nerv, jede Fiber eines Organismus unerträglich gespannt, bevor ein schweres Geschwür durchbricht.

Die Resolution des Julikongresses der Bolschewiki, die die Arbeiter vor vorzeitigen Zusammenstößen warnte, wies gleichzeitig daraufhin, daß man den Kampf werde aufnehmen müssen, „wenn die nationale Krise und der tiefe Massenaufstieg günstige Bedingungen für den Übergang der Armut in Stadt und Land auf die Seite der Arbeiter geschaffen haben wird“. Dieser Moment war im September–Oktober gekommen.

Der Aufstand durfte von nun an auf Erfolg rechnen, da er sich auf die wahre Volksmehrheit stützen konnte. Dies ist selbstverständlich nicht formal zu verstehen. Würde man in der Frage des Aufstandes vorher eine Volksabstimmung veranstalten, sie ergäbe äußerst widerspruchsvolle und schwankende Resultate. Die innere Bereitschaft, eine Umwälzung zu unterstützen, ist keinesfalls identisch mit der Fähigkeit, sich im voraus klare Rechenschaft über deren Notwendigkeit abzulegen. Außerdem wären die Antworten in hohem Maße von der Fragestellung selbst und von dem Organ, das die Umfrage leitet, abhängig oder, einfacher gesagt, von der Klasse, die an der Macht steht.

Die Methoden der Demokratie haben ihre Grenzen. Man kann alle Reisenden über den wünschenswertesten Wagentyp befragen, aber es ist nicht möglich, sie darüber zu befragen, ob man den in voller Fahrt befindlichen Zug, dem eine Katastrophe droht, bremsen soll. Indes, ist die Rettungsaktion geschickt und rechtzeitig vollzogen, darf man der Zustimmung der Passagiere im voraus gewiß sein.

Parlamentarische Konsultationen des Volkes werden gleichzeitig vorgenommen, während in der Revolution die verschiedenen Schichten des Volkes zur gleichen Schlußfolgerung in unvermeidlichen, mitunter sehr geringen Zeitabständen gelangen. Indes die Avantgarde vor revolutionärer Ungeduld brannte, begannen die rückständigen Schichten sich erst zu rühren. In Petrograd und Moskau standen alle Massenorganisationen unter Führung der Bolschewiki; im Tambower Gouvernement, das eine Bevölkerung von über drei Millionen zählte, das heißt etwas weniger als beide Hauptstädte zusammen, tauchte die bolschewistische Fraktion erst kurz vor der Oktoberumwälzung zum ersten Male im Sowjet auf.

Die Syllogismen der objektiven Entwicklung fallen keinesfalls – auf den Tag – mit den Syllogismen des Massendenkens zusammen. Und wird ein großer praktischer Entschluß durch den Gang der Dinge unaufschiebbar, läßt er am allerwenigsten eine Volksabstimmung zu. Niveau- und Stimmungsunterschiede der einzelnen Volksschichten werden durch die Aktion überwunden: die Fortgeschrittenen reißen die Schwankenden mit und isolieren die Widerstrebenden. Die Mehrheit wird nicht gezählt, sondern erobert. Der Aufstand reift gerade dann heran, wenn ein Ausweg aus den Widersprüchen sich nur auf dem Wege der unmittelbaren Aktion eröffnet.

Ohnmächtig, aus ihrem Krieg gegen die Gutsbesitzer die notwendigen politischen Schlußfolgerungen selbst zu ziehen, schloß sich die Bauernschaft allein durch die Tatsache des Agraraufstandes von vornherein dem Aufstand der Städte an, rief ihn hervor, forderte ihn. Sie bekundete ihren Willen nicht durch weiße Stimmzettel, sondern durch den roten Hahn: das war eine ernste Volksabstimmung. In den Grenzen, in denen die Unterstützung der Bauernschaft für die Errichtung der Sowjetdiktatur erforderlich war, hat sie auch bestanden. „Diese Diktatur“, erwiderte Lenin den Zweiflern, „würde den Bauern Land und den Bauernkomitees am Orte die ganze Macht geben: wie kann man, ohne verrückt zu sein, da noch zweifeln, daß die Bauern diese Diktatur unterstützen würden?“ Damit die Soldaten, Bauern, unterdrückten Nationalitäten, herumirrend im Wirbel der Wahlzettel, die Bolschewiki wirklich kennenlernten, war notwendig, daß die Bolschewiki die Macht ergriffen.

Wie aber mußte das Kräfteverhältnis sein, um dem Proletariat die Machteroberung zu erlauben? „Im entscheidenden Augenblick am entscheidenden Punkte ein erdrückendes Kräfteübergewicht zu haben“, schrieb Lenin später, als er die Oktoberumwälzung erläuterte, „dieses Gesetz der Kriegserfolge ist auch das Gesetz des politischen Erfolges, besonders in jenem erbitterten, stürmischen Klassenkrieg, der Revolution heißt. Die Hauptstädte und überhaupt die großen Handels- und Industriezentren ... entscheiden in hohem Maße das politische Schicksal des Volkes, – selbstverständlich unter der Bedingung, daß die Zentren von genügenden örtlichen Dorfkräften unterstützt werden, wenn es auch keine sofortige Unterstützung ist.“ In diesem dynamischen Sinne sprach Lenin von der Mehrheit des Volkes. Und das war der einzige reale Sinn des Begriffes Mehrheit.

Die demokratischen Gegner trösteten sich damit, daß das Volk, das mit den Bolschewiki geht, – nur Rohstoff historischer Lehm ist; Töpfer zu sein sind doch nur die Demokraten berufen unter Mitarbeit der gebildeten Bourgeois. „Sehen diese Menschen nicht“, fragte die menschewistische Zeitung, „daß das Petrograder Proletariat und die Garnison noch niemals von allen anderen gesellschaftlichen Schichten so isoliert gewesen waren?“ Das Unglück des Proletariats und der Garnison bestand darin, daß sie von jenen Klassen „isoliert“ waren, denen die Macht wegzunehmen sie sich anschickten.

Konnte man sich tatsächlich ernsthaft auf die Sympathie und Unterstützung der dunklen Massen der Provinz und Front verlassen? Ihr Bolschewismus, schrieb verächtlich Suchanow, „war nichts anderes als Haß gegen die Koalition und Sehnsucht nach Land und Frieden“. Als wäre das wenig! Haß gegen die Koalition bedeutete das Bestreben, der Bourgeoisie die Macht zu entreißen, Sehnsucht nach Land und Frieden war ein grandioses Programm, das Bauern und Soldaten verwirklichen wollten unter Führung der Arbeiter. Die Nichtigkeit der Demokraten, sogar der linkesten, ergab sich aus dem Unglauben der „gebildeten“ Skeptiker an die finsteren Massen, die die Ereignisse im großen sehen, ohne sich auf Details und Nuancen einzulassen. Das intelligenzlerische, talmi-aristokratische, verächtliche Verhalten zum Volke war dem Bolschewismus fremd, seiner Natur zuwider. Die Bolschewiki waren keine Kiebitze, keine Schreibtischfreunde des Volkes, keine Pedanten. Sie fürchteten sich nicht vor jenen rückständigen Schichten, die zum ersten Male vom tiefsten Grunde emporstiegen. Die Bolschewiki nahmen das Volk so, wie es die vorangegangene Geschichte geschaffen hatte und wie es berufen war, die Revolution zu vollbringen. Ihre Mission erblickten die Bolschewiki darin, sich an die Spitze dieses Volkes zu stellen. Gegen den Aufstand waren „alle“ außer den Bolschewiki. Die Bolschewiki aber – das war das Volk.

Die tragende politische Kraft der Oktoberumwälzung war das Proletariat, und in ihm nahmen den ersten Platz die Petrograder Arbeiter ein. In der Avantgarde der Hauptstadt wiederum stand der Wyborger Bezirk. Der Aufstandsplan erwählte diesen ausschlaggebenden proletarischen Bezirk zur Ausgangsbasis für die Entwicklung des Angriffs.

Versöhnler aller Schattierungen, beginnend mit Martow, versuchten schon nach der Umwälzung den Bolschewismus als eine Soldatenströmung hinzustellen. Die europäische Sozialdemokratie griff freudig diese Theorie auf. Dabei wurden die grundlegenden historischen Tatsachen ignoriert: daß das Proletariat als erstes auf die Seite der Bolschewiki überging; daß die Petrograder Arbeiter den Arbeitern des ganzen Landes den Weg wiesen; daß Garnison und Front viel länger Stützpunkt der Versöhnler blieben; daß Sozialrevolutionäre und Menschewiki im Sowjetsystem verschiedentliche Privilegien für die Soldaten zum Schaden der Arbeiter geschaffen, gegen die Bewaffnung der Arbeiter gekämpft und die Soldaten gegen sie gehetzt hatten; daß nur unter dem Einfluß der Arbeiter ein Umschwung in den Truppen sich vollzog; daß die Führung der Soldaten im entscheidenden Augenblick in den Händen der Arbeiter lag; schließlich, daß ein Jahr später die Sozialdemokratie in Deutschland nach dem Beispiel ihrer russischen Gesinnungsgenossen sich im Kampfe gegen die Arbeiter auf die Soldaten stützte.

Gegen Herbst hatten die rechten Versöhnler endgültig die Möglichkeit eingebüßt, in Fabriken und Kasernen aufzutreten. Die linken jedoch versuchten noch, die Massen vom Wahnsinn des Aufstandes zu überzeugen. Martow, der im Kampfe gegen die im Juli angreifende Konterrevolution einen Pfad zum Bewußtsein der Massen gefunden hatte, verrichtete jetzt wiederum eine hoffnungslose Sache. „Wir können nicht damit rechnen“, gestand er selbst am 14. Oktober in der Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees, „daß die Bolschewiki auf uns hören werden.“ Nichtsdestoweniger erblickte er seine Pflicht darin, „die Massen zu warnen“. Die Massen aber verlangten nach Taten, nicht nach Belehrungen. Sogar in den Fällen, wo sie verhältnismäßig geduldig einen bekannten Warner anhörten, „dachten sie sich weiter das Ihre“, gesteht Mstislawski. Suchanow erzählt, wie er unter regnerischem Himmel die Putilower zu überzeugen versuchte, daß die Sache sich ohne Aufstand gutmachen lasse. Er wurde von ungeduldigen Stimmen unterbrochen. Zwei – drei Minuten hörte man zu, unterbrach dann wieder. „Nach einigen Versuchen gab ich die Sache auf. Es kam nichts dabei heraus ..., der Regen aber fiel immer stärker auf uns.“ Unter dem unfreundlichen Oktoberhimmel sehen die armen linken Demokraten sogar in ihrer eigenen Schilderung wie nasse Hühner aus.

Beliebtes politisches Argument der „linken“ Gegner der Umwälzung wurde, auch unter den Bolschewiki, der Hinweis auf das Fehlen des Kampfwillens in den unteren Schichten. „Die Stimmung der Werktätigen- und der Soldatenmassen“, schrieben Sinowjew und Kamenjew am 11. Oktober, „erinnert nicht einmal an die Stimmung vor dem 3. Juli.“ Das hatte seine Gründe: unter dem Petrograder Proletariat herrschte eine gewisse Niedergeschlagenheit infolge des zu langen Wartens. Es setzte eine Enttäuschung ein, auch an den Bolschewiki: sollten auch sie betrügen? Am 16. Oktober sagte Rachia, einer der aktivsten Petrograder Bolschewiki, der Abstammung nach Finne, in der Sitzung des Zentralkomitees: „Offensichtlich verspätet sich unsere Losung, denn es bestehen Zweifel, ob wir das tun werden, wozu wir aufrufen.“ Doch die Müdigkeit vom Warten, die nach Erschlaffung aussah, währte nur bis zum ersten Kampfsignal.

Die Aufgabe jedes Aufstandes besteht zunächst darin, auf seine Seite die Truppen herüberzuziehen. Dazu eben dienen hauptsächlich Generalstreik, Massenaufzüge, Straßenzusammenstöße, Barrikadenkämpfe. Die besondere, nie und nirgends zuvor in solcher Vollendung beobachtete Eigenart der Oktoberumwälzung bildet die Tatsache, daß es der proletarischen Avantgarde infolge glücklicher Fügung der Umstände gelang, die Garnison der Hauptstadt noch vor Beginn des offenen Aufstandes auf ihre Seite hinüberzuziehen; und nicht nur hinüberzuziehen, sondern diesen Gewinn auch durch die Garnisonberatung organisatorisch zu verankern. Man kann die Mechanik der Oktoberumwälzung nicht begreifen, ohne sich vollständig darüber klarzusein, daß die wichtigste, im voraus am schwierigsten zu berechnende Aufgabe des Aufstandes in Petrograd im Kern bereits vor dem Beginn des bewaffneten Kampfes gelöst war.

Das heißt jedoch nicht, daß der Aufstand sich erübrigt hatte. Auf seiten der Arbeiter war zwar die überwiegende Mehrheit der Garnison; eine Minderheit aber war gegen die Arbeiter, gegen die Umwälzung, gegen die Bolschewiki. Diese kleine Minderheit bestand aus den qualifiziertesten Elementen der Armee: Offizieren, Junkern, Stoßbrigadlern, vielleicht auch Kosaken. Politisch waren diese Elemente nicht zu erobern: man mußte sie besiegen. Der letzte Teil der Aufgabe der Umwälzung, der in die Geschichte eben unter dem Namen Oktoberaufstand eingegangen ist, hatte somit rein militärischen Charakter. Entscheiden mußten auf der letzten Etappe Gewehre, Bajonette, Maschinengewehre, vielleicht auch Kanonen. Auf diesen Weg führte die Partei der Bolschewiki.

Welches waren die militärischen Kräfte des bevorstehenden Zusammenstoßes? Boris Sokolow, der die militärische Arbeit der sozialrevolutionären Partei leitete, erzählt, daß in der der Umwälzung vorangegangenen Periode „in den Regimentern alle Parteiorganisationen außer den bolschewistischen auseinanderfielen und die Bedingungen für Schaffung neuer Organisationen keinesfalls günstig waren. Die Stimmung der Soldaten war zwar ausgesprochen bolschewistisch, doch ihr Bolschewismus war passiv, und es fehlten ihnen alle Tendenzen zur aktiven bewaffneten Erhebung.“ Sokolow versäumt nicht hinzuzufügen: „Ein bis zwei zuverlässige und kampffähige Regimenter hätten genügt, um die ganze Garnison in Gehorsam zu halten.“ Durchwegs allen, von den monarchistischen Generalen bis zu den „sozialistischen“ Intellektuellen, fehlten gegen die proletarische Revolution „ein bis zwei Regimenter“. Aber es ist richtig, daß die Garnison, in ihrer überwältigenden Masse der Regierung tief kindlich, auch auf seiten der Bolschewiki nicht kampffähig gewesen wäre. Der Grund lag in der unüberbrückbaren Kluft zwischen der alten Militärstruktur der Truppenteile und ihrer neuen politischen Struktur. Rückgrat einer kampffähigen Truppe bildet der Kommandobestand. Dieser war gegen die Bolschewiki. Das politische Rückgrat der Truppenteile stellten die Bolschewiki dar. Sie aber vermochten nicht nur nicht das Kommando auszuüben, sie wußten in der Mehrzahl auch schlecht mit der Waffe umzugehen. Die Soldatenmasse war nicht einheitlich. Die aktiven, kampffähigen Elemente bildeten, wie immer, die Minderheit. Die Mehrheit der Soldaten sympathisierte mit den Bolschewiki, stimmte für sie, wählte sie, erwartete aber von ihnen auch die Lösung. Den Bolschewiki feindliche Elemente waren in den Truppenteilen zu verschwindend gering, um irgendeine Initiative zu wagen. Die politische Verfassung der Garnison war somit für den Aufstand außerordentlich günstig. Aber das Gewicht ihres Kampfgeistes war nicht groß, das war von vornherein sichtbar.

Doch die Garnison völlig von der Kampfwaage hinunterzuwerfen, war keineswegs notwendig. Tausende von Soldaten, bereit, auf seiten der Revolution zu kämpfen, waren zerstreut unter der passiveren Masse, die sie gerade deshalb mehr oder weniger mitzogen. Einzelne Truppenteile von glücklicherer Zusammensetzung bewahrten Disziplin und Kampffähigkeit. Man traf feste revolutionäre Kerne auch in gelockerten Regimentern. Im 6. Reservebataillon mit einer Gesamtzahl von etwa zehntausend Mann zeichnete sich unter den fünf Kompanien die erste stets aus, galt fast von Beginn der Revolution an als bolschewistisch und zeigte sich in den Oktobertagen auf der Höhe. Die Durchschnittsregimenter der Garnison existierten als geschlossene Regimenter zwar nicht, ihr Verwaltungsmechanismus war desorganisiert: sie waren zu einer andauernden Kampfanstrengung unfähig; doch waren dies immerhin Anhäufungen bewaffneter Menschen, von denen die Mehrzahl bereits im Feuer gewesen. Alle Truppen verband eine gemeinsame Stimmung: so schnell wie möglich Kerenski stürzen, heimkehren und eine neue Bodenordnung einführen. So mußte die völlig in Auflösung befindliche Garnison in den Oktobertagen sich noch einmal zusammenschließen und eindrucksvoll mit den Waffen rasseln, ehe sie endgültig auseinanderstob.

Welche Macht stellten, vom militärischen Standpunkte gesehen, die Petrograder Arbeiter dar? Das ist die Frage nach der Roten Garde. Es ist nun an der Zeit, Ausführlicheres über sie zu sagen: ihr steht bevor, in den nächsten Tagen in die große historische Arena zu treten.

Mit ihren Traditionen in das Jahr 1905 zurückreichend, erlebte die Arbeitergarde ihre Wiedergeburt zusammen mit der Februarrevolution und teilte in der Folge deren Schicksalswandlungen. Kornilow, der damalige Oberbefehlshaber des Petrograder Militärbezirkes, behauptete, es seien in den Tagen des Sturzes der Monarchie aus den Artillerielagern dreißigtausend Revolver und vierzigtausend Gewehre weggeschwommen. Eine große Anzahl von Waffen geriet überdies in die Hände des Volkes bei Entwaffnung der Polizei durch befreundete Regimenter. Der Aufforderung, die Waffen abzuliefern, kam niemand nach. Die Revolution lehrt die Flinte schätzen. Den organisierten Arbeitern fiel jedoch nur ein ganz geringer Teil dieses Gutes anheim.

In den ersten vier Monaten stand die Frage des Aufstandes überhaupt nicht vor den Arbeitern. Das demokratische Regime der Doppelherrschaft gab den Bolschewiki die Möglichkeit, in den Sowjets die Mehrheit zu erobern. Bewaffnete Arbeitermannschaften bildeten einen Bestandteil der demokratischen Miliz. Aber es war doch mehr Form als Inhalt. Die Flinte in der Hand des Arbeiters bedeutete ein ganz anderes historisches Prinzip als die gleiche Flinte in der Hand des Studenten.

Daß die Arbeiter im Besitze von Waffen waren, beunruhigte die besitzenden Klassen von Anfang an, da dies das Kräfteverhältnis in den Betrieben zusehends verschob. In Petrograd, wo der Staatsapparat, unterstützt vom Zentral-Exekutivkomitee, anfangs eine unbestrittene Macht darstellte, war die Arbeitermiliz noch nicht so bedrohlich fühlbar. In den Industriebezirken der Provinz jedoch bedeutete die Festigung der Arbeitergarde eine Umwälzung aller Verhältnisse nicht nur innerhalb des Unternehmens, sondern auch in seiner weiteren Umgebung. Bewaffnete Arbeiter setzten Meister und Ingenieure ab, nahmen sogar Verhaftungen vor. Auf Beschluß von Fabrikversammlungen wurde den Rotgardisten nicht selten aus den Betriebskassen Löhnung gezahlt. Im Ural, mit seinen reichen Traditionen des Partisanenkampfes aus dem Jahre 1905, führten die Mannschaften unter Leitung der alten Kämpfer Ordnung ein. Bewaffnete Arbeiter liquidierten fast unbemerkt die offizielle Macht und ersetzten sie durch Organe der Sowjets. Durch die Sabotage seitens der Besitzer und Administratoren fiel den Arbeitern der Schutz der Betriebe zu; der Maschinen, Lager, Kohle- und Rohstoffvorräte. Die Rollen hatten gewechselt. Der Arbeiter hielt fest das Gewehr in der Hand zur Verteidigung der Fabrik, in der er die Quelle seiner Macht sah. So bildeten sich in Betrieben und Bezirken Elemente der Arbeiterdiktatur heraus, bevor noch das Proletariat in seiner Gesamtheit die Macht im Staate erobert hatte.

Wie stets die Ängste der Besitzenden widerspiegelnd, wirkten die Versöhnler mit aller Kraft der Arbeiterbewaffnung in den Hauptstädten entgegen und reduzierten sie auf ein Minimum. Nach Minitschjew bestanden die gesamten Waffen des Narwaer Bezirkes „aus etwa fünfzehn Gewehren und einigen Revolvern“. In der Stadt häuften sich unterdessen Gewaltakte und Plünderungen. Von überall trafen beunruhigende Gerüchte ein, Vorboten neuer Erschütterungen. Am Vorabend der Julidemonstration hatte man erwartet, daß der Bezirk in Brand gesteckt werden würde. Die Arbeiter suchten nach Waffen, klopften an alle Türen, brachen sie zuweilen auch auf.

Von der Demonstration des 3. Juli hatten die Putilower eine Trophäe herangeschleppt: ein Maschinengewehr und fünf Kisten Munitionsgürtel. „Wir freuten uns wie Kinder“, erzählt Minitschjew. Einzelne Betriebe waren besser bewaffnet. Nach Litschkows Worten waren die Arbeiter seiner Fabrik im Besitze von achtzig Gewehren und zwanzig großen Revolvern. Das war schon ein Reichtum! Durch den Stab der Roten Garde erhielten sie zwei Maschinengewehre; das eine wurde im Speiseraum, das andere auf dem Dach aufgestellt. „Unser Vorgesetzter“, erzählt Litschkow, „war Kotscherowski, seine nächsten Gehilfen – Tomtschak, von den Weißgardisten in den Oktobertagen bei Zarskoje Selo ermordet, und Jefimow, von den weißen Banden bei Jamburg erschossen.“ Die knappen Zeilen gewähren einen Blick in die Fabriklaboratorien, wo die Kader der Oktoberumwälzung und der späteren Roten Armee sieh formierten, ausgewählt wurden, Kommandoführung lernten, wo die Tomtschak und Jefimow, die Hunderte und Tausende namenloser Arbeiter gestählt wurden, die die Macht eroberten, sie unter Selbstaufopferung gegen die Feinde verteidigten und später auf allen Schlachtfeldern fielen.

Die Juliereignisse veränderten jäh die Lage der Roten Garde. Die Entwaffnung der Arbeiter geschieht bereits vollkommen offen, nicht mehr durch Ermahnungen, sondern mit Gewaltanwendung. Unter dem Schein der Waffen liefern jedoch die Arbeiter nur den alten Kram aus. Alles Wertvollere wird sorgfältigst versteckt. Gewehre werden zuverlässigen Parteimitgliedern anvertraut. Maschinengewehre eingefettet in die Erde vergraben. Abteilungen der Roten Garde verschwinden und tauchen in Illegalität unter, sich enger den Bolschewiki anschließend.

Die Sache der Arbeiterbewaffnung konzentrierte sich ursprünglich in den Händen von Fabrik- und Bezirkskomitees der Partei. Nachdem sie sich von der Juliniederschlagung erholt hat, geht die Militärische Organisation der Bolschewiki, die früher nur in der Garnison und an der Front gearbeitet hatte, zum ersten Male an den Aufbau der Roten Garde, indem sie den Arbeitern militärische Instruktoren und in einigen Fällen auch Waffen liefert. Die von der Partei aufgestellte Perspektive des bewaffneten Aufstandes bereitet allmählich die fortgeschrittenen Arbeiter auf die neue Bestimmung der Roten Garde vor. Das ist bereits keine Miliz der Fabriken und Arbeiterviertel, sondern es sind Kader der zukünftigen Aufstandsarmee.

Im August häufen sich Brände in Fabriken und Werkstätten. Jeder heranrückenden Krise geht eine Konvulsion des Kollektivbewußtseins voraus, die sich durch eine Welle der Beunruhigung ankündigt. Die Fabrikkomitees entwickeln eine intensive Tätigkeit zum Schutze der Betriebe gegen Attentate. Die versteckten Gewehre kommen wieder hervor. Der Kornilowaufstand legalisiert endgültig die Rote Garde. In die Mannschaftslisten tragen sich etwa 25.000 Arbeiter ein, die freilich nicht durchwegs – mit Gewehren, teils mit Maschinengewehren ausgerüstet werden können. Die Arbeiter der Schlüsselburger Pulverfabrik liefern über die Newa einen Schleppkahn voll Granaten und Explosivstoffe: gegen Kornilow! Das Versöhnler-Zentral-Exekutivkomitee verzichtet auf das Danaergeschenk. Die Rotgardisten der Wyborger Seite belieferten in der Nacht die Bezirke mit den gefährlichen Gaben.

„Der Unterricht in der Kunst des Waffengebrauchs, früher in Wohnungen und Kämmerchen ausgeübt“, erzählt der Arbeiter Skorinko, „wurde ins Helle und Freie, in Gärten, in Boulevards verlegt.“ – „Die Werkstatt verwandelte sich in ein Lager“, erinnert sich der Arbeiter Rakitow. „... „Hinter den Werkbänken stehen Dreher, über die Schulter die Patronentasche, das Gewehr an der Werkbank.“ In der Granatenwerkstatt schreiben sich bald alle in die Garde ein, außer den alten Sozialrevolutionären und Menschewiki. Nach Arbeitsschluß stellen sie sich im Hof zum Unterricht auf „Es stehen nebeneinander bärtiger Arbeiter und Lehrling, und beide lauschen aufmerksam auf den Instruktor ...“ Während die alten zaristischen Heere endgültig auseinanderfielen, wurde in den Fabriken das Fundament der späteren Roten Armee gelegt.

Sobald die Kornilowgefahr vorbei war, begannen die Versöhnler die Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu bremsen: für die dreißigtausend Putilower wurden insgesamt dreihundert Gewehre ausgegeben. Bald wurde die Waffenausgabe überhaupt eingestellt: die Gefahr rückte jetzt nicht von rechts heran, sondern von links; man mußte nun Schutz suchen nicht bei den Proletariern, sondern bei den Junkern.

Fehlen eines unmittelbaren praktischen Zieles und Mangel an Waffen brachten ein Abfluten der Arbeiter von der Roten Garde. Doch war dies nur eine kurze Atempause. Kernkader haben sich unterdessen in jedem Betrieb zusammengeschlossen. Zwischen den einzelnen Mannschaften bildeten sich feste Verbindungen heraus. Die Kader wissen aus Erfahrung, daß sie ernsthafte Reserven besitzen, die in der Stunde der Gefahr auf die Beine gebracht werden können.

Der Übergang des Sowjets in die Hände der Bolschewiki verändert radikal die Lage der Roten Garde. Bisher gehetzt und geduldet, wird sie offizielles Organ des Sowjets, der bereits die Hand nach der Macht ausstreckt. Die Arbeiter finden nicht selten selbst den Weg zu den Waffen und verlangen vom Sowjet nur noch dessen Sanktion. Seit Ende September, besonders seit dem 10. Oktober, steht die Vorbereitung des Aufstandes offen auf der Tagesordnung. Einen Monat vor der Umwälzung finden in einigen Dutzend Fabriken und Werkstätten Petrograds intensive militärische Übungen statt, hauptsächlich Schießunterricht. Um die Oktobermitte erklimmt das Interesse für die Waffen eine neue Höhe. In einigen Betrieben tragen sich fast alle in die Mannschaftsliste ein. Immer ungeduldiger verlangen die Arbeiter vom Sowjet Waffen, doch gibt es viel weniger Flinten, als Hände sich danach ausstrecken. „Ich kam täglich in den Smolny“, erzählt der Ingenieur Kosmin, „und beobachtete, wie vor und nach der Sowjetsitzung Arbeiter und Matrosen an Trotzki herantraten, Waffen zur Ausrüstung der Arbeiter anbietend oder fordernd, berichterstattend, wo und wie diese Waffen verteilt sind, und fragend: „Wann geht’s nun los?“ Die Ungeduld war groß ...“

Formell bleibt die Rote Garde parteilos. Doch je näher zur Entscheidung, um so mehr rücken in den Vordergrund Bolschewiki: sie bilden den Kern jeder Mannschaft, in ihren Händen liegen Kommandoapparat und Verbindung mit den anderen Betrieben und Bezirken. Parteilose Arbeiter und linke Sozialrevolutionäre gehen mit den Bolschewiki.

Jedoch auch jetzt, am Vorabend des Aufstandes, sind die Reihen der Garde nicht zahlreich. Am 16. schätzte Uritzki, Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees, das Arbeiterheer Petrograds auf vierzigtausend Bajonette. Die Zahl ist eher übertrieben. Die Hilfsquellen der Bewaffnung blieben noch immer sehr beschränkt: bei aller Ohnmacht der Regierung konnte man nicht anders in den Besitz der Arsenale gelangen als auf dem Wege des offenen Aufstandes.

Am 22. tagte eine Stadtkonferenz der Roten Garde: hundert Delegierte vertraten etwa zwanzigtausend Kämpfer. Die Zahl darf man nicht zu buchstäblich nehmen: nicht alle Eingetragenen entwickelten Aktivität; dafür aber ergoß sich in die Abteilungen in Augenblicken des Alarms ein breiter Strom Freiwilliger. Die am nächsten Tag von der Konferenz angenommenen Statuten bezeichnen die Rote Garde als „Organisation der bewaffneten Kräfte des Proletariats zum Kampfe gegen die Konterrevolution und zur Verteidigung der Revolutionserrungenschaften“. Man beachte dies: noch vierundzwanzig Stunden vor dem Aufstande wird die Aufgabe in den Termini der Verteidigung, nicht aber des Angriffs ausgedrückt.

Grundkampfeinheit ist die Zehnergruppe; vier Zehnergruppen sind ein Zug; drei Züge eine Mannschaft; drei Mannschaften – ein Bataillon. Mit dem Kommandobestand und den Fachgruppen zählt ein Bataillon über fünfhundert Mann. Die Bataillone eines Bezirks bilden eine Abteilung. In großen Fabriken, wie im Putilowwerk, werden eigene Abteilungen aufgestellt. Technische Sonderkommandos (Minenwerfer, Radfahrer, Telegraphisten, Maschinengewehrschützen, Artilleristen) werden in den entsprechenden Betrieben angeworben und entweder den Schützenabteilungen zugeteilt, oder sie operieren selbständig, je nach dem Charakter der Aufgabe. Der gesamte Kommandobestand ist wählbar. Dies bildet keine Gefahr: hier sind alle Freiwillige, und alle kennen einander gut.

Die Arbeiterinnen gründen Sanitätsabteilungen. In der Fabrik kriegsmedizinischer Bedarfsartikel werden Vorlesungen über Verwundetenpflege angekündigt. „Fast schon in allen Fabriken“, schreibt Tatjana Graf, „tun Arbeiterinnen, mit dem notwendigen Verbandstoff versehen, als Sanitäterinnen Wachtdienst.“ Die Organisation ist äußerst arm an Geld und technischen Mitteln. Nach und nach beginnen die Fabrikkomitees für die Sanitätspunkte und die fliegenden Abteilungen Material zu schicken. In den Stunden der Umwälzung werden sich die schwachen Zellen sehr schnell entwickeln: sie erhalten sofort bedeutende technische Mittel zur Verfügung gestellt. Am 24. wird der Wyborger Bezirkssowjet anordnen: „Unverzüglich alle Automobile requirieren ... eine Bestandaufnahme aller ambulatorischen Verbandsmittel durchführen und in den Ambulatorien Wachen errichten.“

Immer mehr parteilose Arbeiter strömten zu Schießübungen und Manövern. Die Zahl der Überwachungsposten wuchs. In den Fabriken hielt man Tag und Nacht Wache. Die Stäbe der Roten Garde übersiedelten in größere Räume. In der Trubotschny (Röhren)-Fabrik fand am 23. ein Examen der Rotgardisten statt. Der Versuch eines Menschewiken, gegen die Erhebung zu sprechen, geht im Entrüstungssturm unter: genug, die Zeit des Diskutierens ist vorbei! Die Bewegung ist unaufhaltsam, sie reißt auch Menschewiki mit. Sie „tragen sich bei der Roten Garde ein“, erzählt Tatjana Graf „übernehmen die verschiedensten Aufträge und entwickeln sogar Initiative“. Skorinko schildert, wie sich am 23. in einer Abteilung Sozialrevolutionäre und Menschewiki, junge wie alte, mit den Bolschewiki verbrüderten und wie er, Skorinko selbst, sich vor Freude mit seinem Vater, einem Arbeiter der gleichen Fabrik, umarmte. Der Arbeiter Peskowoj erzählt: in der bewaffneten Abteilung „waren jugendliche Arbeiter, etwa sechzehnjährige, und alte, etwa fünfzigjährige“. Die Buntheit der Lebensalter verlieh „Mut und Kampfgeist“.

Die Wyborger Seite bereitet sich besonders eifrig auf die Kämpfe vor. Man bemächtigt sich der Schlüssel zu den beweglichen Brücken, die auf die Wyborger Seite führen, erforscht die schwachen Stellen des Bezirkes, wählt ein eigenes militärisches Revolutionskomitee, die Betriebskomitees errichten einen ständigen Wachtdienst. Mit berechtigtem Stolz schreibt Kajurow über die Wyborger: „Sind als erste in den Kampf gegen das Selbstherrschertum gegangen, haben als erste in ihrem Bezirk den Achtstundent4 eingeführt, als erste gegen die zehn Minister-Kapitalisten bewaffnet demonstriert, als erste am 7. Juli einen Protest gegen die Verfolgung unserer Partei angenommen und waren nicht die letzten am entscheidenden Tage des 25. Oktober.“ Was wahr ist, ist wahr!

Die Geschichte der Roten Garde ist zum großen Teil die Geschichte der Doppelherrschaft: durch ihre inneren Widersprüche und Zusammenstöße hat diese es den Arbeitern erleichtert, schon vor dem Aufstande eine beachtenswerte bewaffnete Macht zu schaffen. Die Gesamtzahl der Arbeiterabteilungen des ganzen Landes im Augenblick des Aufstandes zu berechnen – ist eine kaum durchführbare Aufgabe, wenigstens im gegenwärtigen Moment. Jedenfalls waren es Zehntausend und aber Zehntausend bewaffneter Arbeiter, die die Kader des Aufstandes bildeten. Die Reserven waren fast unerschöpflich.

Die Organisation der Roten Garde war natürlich von Vollkommenheit weit entfernt. Alles wurde in Hast, im rohen, nicht immer geschickt gemacht. Die Rotgardisten waren in der Mehrzahl wenig ausgebildet, der Verbindungsdienst ungenügend organisiert, die Ausrüstung hinkte, der Sanitätsanteil ließ vieles zu wünschen übrig. Doch zusammengesetzt aus den opfermütigsten Arbeitern, brannte die Rote Garde im Verlangen, diesmal den Kampf zu Ende zu führen. Das hat auch den Ausschlag gegeben.

Der Unterschied zwischen den Arbeiterabteilungen und den Bauernregimentern war nicht allein durch den sozialen Bestand der einen und der anderen bestimmt. Viele dieser schwerfälligen Soldaten werden, nachdem sie in ihre Dörfer zurückgekehrt sind und das gutsherrliche Land untereinander verteilt haben, zuerst in Partisanenabteilungen, dann in der Roten Armee verzweifelt gegen die Weißgardisten kämpfen. Neben dem sozialen Unterschied besteht ein anderer, unmittelbarerer: während die Garnison eine zwangsweise Anhäufung alter, gegen den Krieg sich wehrender Soldaten ist, sind die Abteilungen der Roten Garde neue Gebilde, geschaffen durch persönliche Auswahl, auf neuer Basis, im Namen neuer Ziele.

Das Militärische Revolutionskomitee verfügt noch über eine dritte Gattung bewaffneter Kräfte: die Seeleute der Baltischen Flotte. Nach ihrer sozialen Zusammensetzung stehen sie den Arbeitern näher als die Infanterie. Unter ihnen sind nicht wenige Petrograder Arbeiter. Das politische Niveau der Seeleute ist unvergleichlich höher als das der Soldaten. Zum Unterschiede von den unkriegerischen Reservisten, denen das Gewehr etwas längst Vergessenes war, hatten die Seeleute den aktiven Dienst nie unterbrochen.

Für aktive Operationen konnte man fest rechnen mit den bewaffneten Kommunisten, den Abteilungen der Roten Garde, dem fortgeschrittenen Teil der Matrosen und den intakt gebliebenen Regimentern. Die Elemente dieser kombinierten Armee ergänzten einander. Der zahlreichen Garnison fehlte es am Willen zum Kampfe. Den Matrosenabteilungen an Zahlenstärke. Der Roten Garde an Übung. Die Arbeiter zusammen mit den Seeleuten brachten Energie, Kühnheit, Schwung hinein. Die Regimenter der Garnison bildeten eine wenig bewegliche Reserve, die durch Zahl imponierte und durch Masse erdrückte.

Tagein, tagaus mit den Arbeitern, Soldaten und Matrosen in Berührung kommend, legten sich die Bolschewiki klar Rechenschaft ab über die tiefen qualitativen Unterschiede in den Bestandteilen jener Armee, die in den Kampf zu führen ihnen bevorstand. Auf der Berechnung dieser Unterschiede baute sich auch in hohem Maße der Aufstandsplan auf.

Die soziale Kraft des anderen Lagers bildeten die besitzenden Klassen. Das heißt sie bildeten seine militärische Schwäche. Die soliden Männer des Kapitals, der Presse, des Katheders, wo und wann hatten sie gekämpft? Die Resultate der Kämpfe, die ihr Schicksal entschieden, waren sie gewohnt telephonisch oder telegraphisch zu erfahren. Und die jüngere Generation, Söhne, Studenten? Sie waren fast durchwegs der Oktoberumwälzung feind. Doch in ihrer Mehrzahl warteten sie, gemeinsam mit den Vätern, beiseitestehend den Ausgang der Kämpfe ab. Ein Teil schloß sich später den Offizieren und Junkern an, die sich auch früher im hohen Maße aus der Studentenschaft rekrutiert hatten. Volk stand hinter den Besitzenden nicht. Arbeiter, Soldaten, Bauern kehrten sich gegen sie. Der Zusammenbruch der Versöhnlerparteien bedeutete, daß die besitzenden Klassen ohne Armee geblieben waren.

Entsprechend der hohen Bedeutung der Eisenbahnschienen im Leben moderner Staaten nahm in den politischen Berechnungen beider Lager einen großen Platz die Frage der Eisenbahner ein. Die hierarchische Zusammensetzung des Dienstpersonals gab einer außerordentlichen politischen Buntheit Raum und schuf somit günstige Bedingungen für die Diplomaten des Versöhnlertums. Die spät entstandene Eisenbahner-Gewerkschaft (Wikschel) hatte unter den Angestellten und sogar unter den Arbeitern viel festere Wurzeln als zum Beispiel die Armeekomitees an der Front. Mit den Bolschewiki ging nur eine Minderheit der Eisenbahner, hauptsächlich die Depot- und Werkstättenarbeiter. Nach dem Bericht von Schmidt, einem der bolschewistischen Führer der Gewerkschaftsbewegung, standen der Partei am nächsten die Eisenbahner der Petrograder und Moskauer Knotenpunkte.

Aber auch unter der versöhnlerischen Masse der Angestellten und Arbeiter vollzog sich eine schroffe Wendung nach links mit dem Augenblick des Eisenbahnerstreiks Ende September. Die Unzufriedenheit mit dem Wikschel, der sich durch Lavieren kompromittiert hatte, wuchs von unten immer entschiedener an. Lenin vermerkte: „Die Armeen der Eisenbahn- und Postangestellten verharren in scharfem Konflikt mit der Regierung.“ Vom Standpunkte der unmittelbaren Aufgaben des Aufstandes genügte dies beinahe.

Weniger günstig verhielt sich die Sache im Post- und Telegraphenamt. Nach den Worten des Bolschewiken Bokij „sitzen an den Telegraphenapparaten meist Kadetten“. Doch das untere Personal stellte sich auch hier in feindlichen Gegensatz zu den Oberschichten. Unter den Briefträgern bestand eine Gruppe, bereit, im heißen Augenblick das Amt zu besetzen.

Alle Eisenbahn- und Postangestellten durch Worte umzustimmen, wäre jedenfalls ein hoffnungsloses Unternehmen gewesen. Bei Unentschlossenheit der Bolschewiki würden das Übergewicht die Kadetten- und Versöhnlerspitzen behalten haben. Bei entschlossener revolutionärer Führung mußten die unteren Schichten die Zwischengruppen unweigerlich mitreißen und die Spitze des Wikschel isolieren. Für revolutionäre Berechnungen genügt die Statistik allein nicht: es ist der Koeffizient der lebendigen Tat erforderlich.

Die Gegner des Aufstandes in den Reihen der bolschewistischen Partei selbst fanden immerhin Grund genug für pessimistische Schlußfolgerungen. Sinowjew und Kamenjew warnten vor Unterschätzung der gegnerischen Kräfte. „Es entscheidet Petrograd, in Petrograd aber besitzen die Feinde ... bedeutende Kräfte: fünftausend Junker, vorzüglich bewaffnet und im Schlagen geübt, dann der Stab, dann die Stoßbrigadler, dann die Kosaken, dann ein bedeutender Teil der Garnison, dann eine sehr beträchtliche, fächerartig um Petrograd gruppierte Artillerie. Ferner werden die Gegner bestimmt versuchen, mit Hilfe des Zentral-Exekutivkomitees Truppen von der Front heranzubringen ...“ Die Aufzählung klingt imposant, es ist aber nur eine Aufzählung. Ist die Armee als Ganzes ein Abbild der Gesellschaft, so stellen, tritt der Fall ihrer offenen Spaltung ein, beide Armeen Abbilder der kämpfenden Lager dar. Die Armee der besitzenden Klasse trug in sich den Wurmstich der Isoliertheit und des Zerfalls.

Die Offiziere, die die Hotels, Restaurants und Spelunken überschwemmten, standen nach dem Bruch zwischen Kerenski und Kornilow zu der Regierung feindlich. Unermeßlich schärfer war allerdings ihr Haß gegen die Bolschewiki. Im allgemeinen zeigten die größte Aktivität auf seiten der Regierung die monarchistischen Offiziere. „Teuerste Kornilow und Krymow, was euch nicht gelang, wird mit Gottes Hilfe vielleicht uns gelingen ...“, ist das Gebet des Offiziers Sinegub, eines der ruhmreichsten Verteidiger des Winterpalais am Tage der Umwälzung. Tatsächliche Kampfbereitschaft aber haben, trotz der zahlenmäßigen Stärke des Offizierkorps, nur einzelne bewiesen. Schon die Kornilowsche Verschwörung hatte offenbart, daß das restlos demoralisierte Offizierkorps keinerlei Kampfmacht darstellte.

Die soziale Zusammensetzung der Junker ist nicht einheitlich. Einmütigkeit gibt es unter ihnen nicht. Neben den erblichen Militärs, Offizierssöhnen und -enkeln, sind da nicht wenig zufällige Elemente, zusammengebracht unter dem Druck der Kriegsbedürfnisse noch zur Zeit der Monarchie. Der Leiter der militärischen Ingenieurschule sagt zum Offizier: „Ich und du müssen zugrunde gehen ... wir sind doch Adelige und können nicht anders denken.“ Von den demokratischen Junkern reden diese großsprecherischen Herren, die dem adeligen Zugrundegehen mit Erfolg auszuweichen wußten, wie von Knoten, Muschiks „mit groben, stumpfen Gesichtern“. Die Scheidung in rotes und blaues Blut dringt tief in die Junkerschulen ein, wobei auch hier als eifrigste Hüter der republikanischen Regierung gerade jene auftreten, die die Monarchie am stärksten betrauern. Die demokratischen Junker erklären, sie seien nicht für Kerenski, sondern für das Zentral-Exekutivkomitee. Die Revolution hatte zum ersten Male die Türen der Junkerschulen den Juden geöffnet. Bemüht, den privilegierten Spitzen nicht nachzustehen, benehmen sich die Söhnchen der jüdischen Bourgeoisie äußerst kriegerisch gegen die Bolschewiki. Aber ach, das genügt nicht nur nicht für die Rettung des Regimes, sondern auch nicht für die Verteidigung des Winterpalais. Die bunte Zusammensetzung der Kriegsschulen und ihr völliges Losgetrenntsein von der Armee führte dazu, daß in den kritischen Stunden auch die Junker anfingen, Meetings abzuhalten: was werden die Kosaken tun? wird außer uns noch jemand den Kampf aufnehmen? und lohnt es sich überhaupt, sich für die Provisorische Regierung zu schlagen?

Nach Podwojskis Bericht zählte man Anfang Oktober in den Petrograder Kriegsschulen insgesamt etwa 120 Junker-Sozialisten, darunter 42 bis 43 Bolschewiki. „Die Junker sagen, der gesamte Kommandobestand der Schulen sei konterrevolutionär gestimmt. Sie werden ausgesprochen darauf gedrillt, im Falle einer Erhebung den Aufstand zu unterdrücken ...“ Die Zahl der Sozialisten und besonders der Bolschewiki ist, wie wir sehen, verschwindend gering. Doch verschaffen sie dem Smolny die Möglichkeit, über alles Wesentliche, was bei den Junkern geschieht, unterrichtet zu sein. Zur Vervollständigung des Ganzen ist die Topographie der Kriegsschulen sehr ungünstig: die Junker sind eingepfercht zwischen Kasernen, und obwohl sie von den Soldaten verächtlich sprechen, schauen sie sich doch ängstlich nach ihnen um.

Grund zur Angst gibt es genug. Aus den benachbarten Kasernen und den Arbeitervierteln werden die Junker von Tausenden feindlicher Augen beobachtet. Diese Überwachung ist um so wirksamer, als in jeder Schule ein Soldatenkommando besteht, das in Worten Neutralität wahrt, in der Tat aber zu den Aufständischen hinneigt. Die Lager der Schulen sind in Händen der Bedienungsmannschaft. „Diese Lümmel“, schreibt ein Offizier der Ingenieurschule „hatten nicht nur die Lagerschlüssel verloren so daß ich Befehl erteilen mußte, die Türe aufzubrechen, sondern auch die Schlösser von den Maschinengewehren abgenommen und versteckt.“ In dieser Atmosphäre kann man von den Junkern schwer Wunder an Heroismus erwarten.

Drohte dem Petrograder Aufstand nicht ein Schlag von außen, von den Nachbargarnisonen? Noch in den letzten Tagen ihres Daseins hatte die Monarchie nicht aufgehört, auf den kleinen militärischen Ring zu hoffen, der die Hauptstadt umgab. Die Monarchie hatte sich verrechnet. Aber wie wird es diesmal sein? Solche Bedingungen zu sichern, die jede Gefahr ausschließen, hieße den Aufstand selbst überflüssig machen: sein Ziel ist ja, die Hindernisse zu brechen, die sich politisch nicht auflösen lassen. Man kann nicht alles im voraus berechnen. Aber alles, was man berechnen konnte, war berechnet.

Anfang Oktober fand in Kronstadt eine Sowjetkonferenz des Petrograder Gouvernements statt. Die Delegierten der Garnisonen der Hauptstadtperipherie – Gatschina, Zarskoje, Krassnoje, Oranienbaum, Kronstadt selbst – intonierten die höchsten Töne, nach der Stimmgabel der Baltischen Matrosen. Ihrer Resolution schloß sich der Sowjet der Bauerndeputierten des Petrograder Gouvernements an: die Muschiks lenkten schroff um, über die linken Sozialrevolutionäre zu den Bolschewiki.

In der Sitzung des Zentralkomitees am 16. Oktober gab ein Funktionär aus dem Gouvernement, Stepanow, ein etwas buntes Bild vom Kräfteverhältnis im Gouvernement immerhin in überwiegend bolschewistischen Farben. In Sestrorezk und Kolpino bewaffnen sich die Arbeiter, die Stimmung ist kampffroh. In Novij Peterhof hören die Übungen im Regiment auf; das Regiment ist desorganisiert. In Krassnoje Selo ist das 176. Regiment bolschewistisch (das gleiche, das am 4. Juli am Taurischen Palais die Wachen besetzte); das 172. Regiment ist auf seiten der Bolschewiki; „aber außerdem ist dort auch Kavallerie“. In Luga hat die dreißigtausendköpfige Garnison eine Wendung in die Richtung zum Bolschewismus gemacht, ein Teil schwankt; der Sowjet ist noch immer für Landesverteidigung. Das Regiment in Gdowa – bolschewistisch. In Kronstadt ist die Stimmung gesunken; die Garnison war in den vorangegangenen Monaten zu überschäumend, der beste Teil der Matrosen ist bei der aktiven Flotte. In Schlüsselburg, sechzig Werst von Petrograd entfernt, ist der Sowjet schon lange die einzige Macht geworden; die Arbeiter der Pulverfabrik sind jederzeit bereit, die Hauptstadt zu unterstützen.

In Verbindung mit den Resultaten der Kronstädter Sowjetkonferenz kann man die Angaben über die Reserven ersten Aufgebots als durchaus ermutigend betrachten. Die Ausstrahlungen des Februaraufstandes hatten genügt, um die Disziplin im weiten Umkreise aufzulösen. Um so zuversichtlicher konnte man auf die der Hauptstadt nächstgelegenen Garnisonen jetzt blicken, wo ihre Verfassung im voraus genügend bekannt war.

Zu den Reserven zweiten Aufgebots gehören die Truppen Finnlands und der Nordfront. Hier steht die Sache noch günstiger. Smilgas, Antonows und Dybenkos Arbeit hat unschätzbare Resultate ergeben. Gemeinsam mit der Helsingforser Garnison hatte sich die Flotte auf dein Territorium Finnlands in eine souveräne Macht verwandelt. Die Regierung besaß dort nicht die geringste Gewalt. Die nach Helsingfors gebrachten zwei Kosakendivisionen – von Kornilow für den Schlag gegen Petrograd ausersehen – hatten sich inzwischen den Matrosen eng genähert und unterstützten die Bolschewiki oder die linken Sozialrevolutionäre, die sich in der Baltischen Flotte immer weniger von den Bolschewiki unterschieden.

Helsingfors reichte seinen Arm den Seeleuten der Revaler Basis, deren Stimmung bis dahin unentschiedener war. Der Sowjetkongreß des Norddistrikts, wohl ebenfalls auf Initiative der Baltischen Flotte einberufen, vereinigte die Sowjets der um Petrograd liegenden Garnisonen in so weitem Umkreise, daß er auf der einen Seite Moskau, auf der anderen Archangelsk erfaßte. „Auf diese Weise“, schreibt Antonow, „wurde die Idee verwirklicht, die Hauptstadt der Revolution zu panzern gegen eventuelle Überfälle der Kerenskischen Truppen.“ Smilga kehrte vom Kongreß nach Helsingfors zurück, um aus Matrosen, Infanteristen und Artilleristen eine Sonderabteilung zusammenzustellen für den Abtransport nach Petrograd aufs erste Signal hin. Die finnländische Flanke des Petrograder Aufstandes war aufs beste gesichert. Von dort war nicht ein Schlag, sondern nur starke Hilfe zu erwarten.

Aber auch an den anderen Frontabschnitten war alles günstig, jedenfalls viel günstiger, als es sich in jenen Tagen die optimistischsten Bolschewiki vorstellten. Während des Oktober fanden in der Armee Neuwahlen der Komitees statt, überall mit scharfer Wendung in Richtung zu den Bolschewiki. Im Armeekorps bei Dwinsk fielen die „alten vernünftigen Soldaten“ bei den Wahlen zu den Regiments und Kompaniekomitees durch; ihre Stelle nahmen „düstere graue Subjekte ... mit bösen bohrenden Augen und Wolfsschnauzen“ ein. An den anderen Abschnitten geschah das gleiche. „Überall finden Neuwahlen der Komitees statt, überall werden nur Bolschewiki und Defätisten gewählt.“ Die Regierungskommissare begannen den Reisen zu den Truppenteilen auszuweichen: „jetzt ist ihre Lage nicht besser als die unsrige“. Wir zitieren Baron Budberg. Zwei Kavallerieregimenter seines Korps, ein Husaren- und ein Uraler Kosakenregiment, die am längsten in den Händen der Kommandeure verharrt und die Teilnahme an die Unterdrückung aufständischer Regimenter nicht verweigert hatten, kamen auf einmal ins Schwanken und verlangten, daß man sie „von der Rolle der Unterdrücker und Gendarmen befreie“. Des bedrohlichen Sinnes dieser Warnung war sich der Baron klarer als sonst jemand. „Man kann über einen Haufen Hyänen, Schakale und Schafe nicht mittels Geigenspielens verfügen“, schrieb er, „... Rettung besteht nur in der Möglichkeit einer Massenanwendung glühenden Eisens.“ Und sogleich ein tragisches Geständnis: „das nicht vorhanden und nicht zu erlangen ist“.

Wenn wir ähnliche Aussagen über andere Korps und Divisionen nicht anführen, so nur deshalb, weil deren Führer nicht solche Beobachtungsgabe besaßen wie Baron Budberg oder keine Tagebücher führten, oder aber weil diese Tagebücher noch nicht an die Oberfläche gedrungen sind. Doch unterschied sich das Korps bei Dwinsk außer durch den krassen Stil seines Kommandeurs in nichts Wesentlichem von den anderen Korps der 5. Armee, die ihrerseits den anderen Armeen nur wenig vorauseilte.

Das schon längst in der Luft hängende Versöhnlerkomitee der 5. Armee fuhr fort, telegraphische Drohungen nach Petrograd zu senden- mit dem Bajonett Ordnung schaffen zu wollen. „Das ist alles nur Prahlerei und Lufterschütterung“, schreibt Budberg. Das Komitee lebte in Wirklichkeit seine letzten Tage. Am 23. wurde es neu gewählt. Vorsitzender des neuen, bolschewistischen Komitees wurde Doktor Skljanski, ein ausgezeichneter junger Organisator, der bald danach seine Begabung auf dem Gebiete des Aufbaues der Roten Armee weitgehend entfaltete und später einen zufälligen Tod bei einer Spazierfahrt auf einem amerikanischen See fand.

Der Gehilfe des Regierungskommissars der Nordfront berichtete am 22. Oktober dem Kriegsminister, die Ideen des Bolschewismus gewännen in der Armee immer mehr an Boden, die Masse wolle Frieden, und sogar die Artillerie, die sich bis zur allerletzten Zeit gehalten hätte, werde „empfänglich für die defätistische Propaganda“. Das war kein unwesentliches Symptom. „Die Provisorische Regierung genießt keine Autorität“, so berichtet der Regierung deren direkter Agent bei der Armee drei Tage vor der Umwälzung.

Gewiß, das Militärische Revolutionskomitee kannte damals alle diese Dokumente nicht. Aber auch das, was es kannte, genügte vollauf. Am 23. defilierten Vertreter verschiedener Frontteile vor dem Petrograder Sowjet und forderten Frieden; andernfalls würden die Truppen zurückluten und „alle Parasiten vernichten, die sich anschicken, noch zehn Jahre Krieg zu führen“. Ergreift die Macht, sagten die Frontler dem Sowjet: „die Schützengräben werden euch unterstützen“.

An den entfernteren und rückständigen Fronten, der südwestlichen und der rumänischen, waren die Bolschewiki immer noch vereinzelte Exemplare, seltsame Erscheinungen. Die Stimmungen der Soldaten waren aber auch dort die gleichen. Eugenia Bosch erzählt, daß bei dem in der Umgebung von Schmerinka liegenden 2. Gardekorps auf sechzigtausend Soldaten ein junger Kommunist und zwei Sympathisierende kamen; das hinderte das Korps nicht, sich in den Oktobertagen zur Unterstützung des Aufstandes zu erheben.

Auf das Kosakentum hofften die Regierungskreise bis zur allerletzten Stunde. Doch weniger verblendete Politiker des rechten Lagers hatten begriffen, daß es auch hier mit der Sache gar schlimm bestellt war. Fast alle Kosakenoffiziere waren Kornilowianer. Die gemeinen Kosaken strebten immer mehr nach links. In der Regierung wollte man das lange nicht begreifen und erklärte sich die Kühle der Kosakenregimenter für das Winterpalais mit ihrem Gekränktsein Kaledins wegen. Aber letzten Endes leuchtete es auch dem Justizminister Maljantowitsch ein, daß hinter Kaledin „nur die Kosakenoffiziere standen, die gemeinen Kosaken jedoch, wie alle Soldaten, einfach zum Bolschewismus neigten“.

Von jener Front, die in den ersten Märztagen Hände und Füße des liberalen Popen küßte, die Kadettenminister auf Schultern trug, sich an Kerenskis Reden berauschte und daran glaubte, daß die Bolschewiki deutsche Agenten seien – war nichts übrig geblieben. Die rosigen Illusionen waren eingestampft in den Schmutz der Schützengräben, den die Soldaten mit ihren durchlöcherten Stiefeln weiterzukneten sich weigerten. „Die Lösung naht“, schrieb am Tage des Petrograder Aufstandes Budberg, „und an ihrem Ausgang kann kein Zweifel bestehen; an unserer Front gibt es keinen Truppenteil mehr, der nicht in der Gewalt der Bolschewiki wäre.“

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003