Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Kapitel 19:
Lenin ruft zum Aufstand

Neben Fabriken, Kasernen, Dörfern, Front, Sowjets besaß die Revolution noch ein Laboratorium: Lenins Kopf. In Illegalität getrieben, war Lenin gezwungen, 111 Tage, vom 6. Juli bis zum 25. Oktober, seine Zusammenkünfte sogar mit den Mitgliedern des Zentralkomitees einzuschränken. Ohne unmittelbare Verbindung mit den Massen, ohne Berührung mit den Organisationen, konzentrierte er um so entschiedener seinen Gedanken auf die Kernfragen der Revolution, die er – was bei ihm in gleichem Maße Bedürfnis wie Regel war – zu Grundproblemen des Marxismus gestaltete.

Das Hauptargument der Demokraten, auch der allerlinkesten, gegen die Machtergreifung bestand in der Behauptung, die Werktätigen würden unfähig sein, sich des Staatsapparates zu bemächtigen. Ähnlich waren im wesentlichen auch die Befürchtungen der opportunistischen Elemente innerhalb des Bolschewismus selbst. „Staatsapparat!“ Jeder Kleinbürger ist erzogen in Ehrfurcht vor diesem mystischen Prinzip, das sich über Menschen und Klassen erhebt. Der gebildete Philister trägt in seinen Knochen das gleiche Beben wie sein Vater oder Großvater, der Krämer oder wohlhabende Bauer vor den allmächtigen Institutionen, wo Fragen über Krieg und Frieden entschieden, wo Handelslizenzen erteilt werden, wo die Geißel der Steuern herstammt, wo man straft, aber manchmal auch Gnade übt, wo man Ehen und Geburten gesetzlich registriert, wo sogar der Tod sich ehrfurchtsvoll anstellen muß, ehe ihm Bestätigung zuteil wird. Staatsapparat! In Gedanken nicht nur den Hut, sondern auch die Stiefel abnehmend, betritt der Kleinbourgeois mag er Kerenski, Laval, Macdonald oder Hilferding heißen – auf den Sockenspitzen den Tempel des Idols, erheben ihn der persönliche Erfolg oder die Macht der Verhältnisse zum Minister. Für diese Gnade kann er sich nicht anders erkenntlich erweisen als durch demütige Ergebenheit vor dem „Staatsapparat“. Die russischen radikalen Intellektuellen, die sich sogar während der Revolution an der Macht nicht anders zu beteiligen wagten als hinter dem Rücken der hochtitulierten Gutsbesitzer und der Männer des Kapitals, blickten mit Angst und Entrüstung auf die Bolschewiki: diese Straßenagitatoren, diese Demagogen gedenken sich des Staatsapparates zu bemächtigen!

Nachdem die Sowjets im Kampfe gegen Kornilow angesichts der Willenlosigkeit und Ohnmacht der offiziellen Demokratie die Revolution gerettet hatten, schrieb Lenin: „Mögen an diesem Beispiel alle Kleingläubigen lernen. Möge sich schämen, wer da sagt: „Wir haben keinen Apparat, der den alten, unvermeidlich zur Verteidigung der Bourgeoisie hinneigenden Apparat ersetzen könnte.“ Denn dieser Apparat ist da. Es sind eben die Sowjets. Fürchtet nicht Initiative und Selbständigkeit der Massen, vertraut euch den revolutionären Organisationen der Massen an – und ihr werdet auf allen Gebieten des Staatslebens die gleiche Kraft, Größe und Unbesiegbarkeit der Arbeiter und Bauern erkennen, die diese in ihrer Einigkeit, in ihrem Anstürmen gegen die Kornilowiade bewiesen haben.“

In den ersten Monaten seiner Illegalität schreibt Lenin das Buch Staat und Revolution, für das er das Hauptmaterial bereits in der Emigration, in den Kriegsjahren ausgewählt hatte. Mit der gleichen Sorgfalt, mit der er praktische Tagesaufgaben überlegte, bearbeitet er jetzt theoretische Probleme des Staates. Er kann nicht anders: für ihn ist die Theorie tatsächlich eine Anleitung zum Handeln. Lenin stellt sich dabei nicht einen Augenblick die Aufgabe, ein neues Wort in die Theorie hineinzubringen. Im Gegenteil, seiner Arbeit verleiht er einen äußerst bescheidenen, unterstrichen schülermäßigen Charakter. Seine Aufgabe ist – die wahre „Lehre des Marxismus vom Staate“ wiederherzustellen.

Durch die sorgfältige Auswahl der Zitate und deren detaillierte polemische Deutung mag das Buch pedantisch erscheinen ... wirklichen Pedanten, die unfähig sind, hinter der Analyse der Texte den mächtigen Puls des Gedankens und Willens zu verspüren. Allein durch Wiederaufrichtung der Klassentheorie vom Staat, auf einer neuen, höheren historischen Grundlage verleiht Lenin Marxens Gedanken neue Konkretheit und somit auch neue Bedeutsamkeit. Doch ihre unermeßliche Wichtigkeit erhält die Arbeit über den Staat vor allem dadurch, daß sie eine wissenschaftliche Einführung in die historisch größte Umwälzung darstellt. Marxens „Kommentator“ bereitete seine Partei auf die revolutionäre Eroberung eines Sechstels des Erdterritoriums vor.

Wäre es möglich, den Staat den Bedürfnissen eines neuen historischen Regimes einfach anzupassen, es würden keine Revolutionen entstehen. Indes kam die Bourgeoisie selbst bis jetzt nicht anders an die Macht als auf dem Wege der Umwälzung. Nun ist die Reihe an den Arbeitern. Lenin gab auch in dieser Frage dem Marxismus seine Bedeutung wieder als theoretischem Werkzeug der proletarischen Revolution.

Die Arbeiter werden außerstande sein, sich des Staatsapparates zu bemächtigen? Aber es geht ja gar nicht darum, lehrt Lenin, sich der alten Maschinen für neue Ziele zu bemächtigen: das ist reaktionäre Utopie. Die Auswahl der Menschen im alten Apparat, ihre Erziehung, ihre gegenseitigen Beziehungen – das alles widerspricht den historischen Aufgaben des Proletariats. Hat man erst die Macht erobert, dann heißt es nicht den alten Apparat umzuformen, sondern ihn in Stücke zu zerschlagen. Wodurch ihn ersetzen? Durch die Sowjets. Aus Führern der revolutionären Massen, aus Organen des Aufstandes werden sie zu Organen einer neuen Staatsordnung werden.

Im Strudel der Revolution würde die Arbeit wenig Leser finden, sie wird auch erst nach dem Aufstande herausgegeben werden. Lenin bearbeitet das Problem des Staates vor allem für die eigene innere Sicherheit und – für die Zukunft. Die Wahrung der geistigen Nachfolgeschaft bildete eine seiner ständigen Sorgen. Im Juli schreibt er Kamenjew: „Entre nous, sollte man mir den Garaus machen, bitte ich Sie, mein Heft Der Marxismus über den Staat (in Stockholm steckengeblieben) herauszugeben. Blauer Umschlag, gebunden. Gesammelt sämtliche Zitate aus Marx und Engels, wie auch Kautsky gegen Pannekoek. Enthält eine Reihe Anmerkungen und Notizen. Formulieren. Ich glaube, die Herausgabe ist möglich nach einer Woche Arbeit. Erachte es als wichtig, denn nicht nur Plechanow und Kautsky verwirrten. Bedingung: all dies absolut entre nous.“ Der revolutionäre Führer, gehetzt als Agent eines feindlichen Staates und mit der Möglichkeit eines Attentates seitens der Feinde rechnend, sorgt sich um die Herausgabe eines „blauen“ Heftes mit Zitaten aus Marx-Engels: das ist sein Geheimtestament. Das Wörtchen „Garaus machen“ muß als Gegengift dienen gegen die verhaßte Pathetik: der Auftrag ist seinem Wesen nach pathetischen Charakters.

Während er aber einen Schlag in den Rücken erwartete, bereitete Lenin sich darauf vor, einen Schlag in die Brust zu führen. Indes er zwischen Zeitunglesen und Abfassen instruktiver Briefe das endlich aus Stockholm eingetroffene wertvolle Heft ordnete, hielt das Leben nicht still. Es nahte die Stunde, wo bevorstand, die Frage des Staates praktisch zu lösen.

Aus der Schweiz hatte Lenin gleich nach dem Sturze der Monarchie geschrieben: „... Wir sind keine Blanquisten, keine Anhänger der Machtergreifung durch eine Minderheit ...“ Den gleichen Gedanken entwickelte er nach Ankunft in Rußland: „Wir sind jetzt in der Minderheit, – die Massen glauben uns vorläufig nicht. Wir werden warten können ... Sie werden uns zuströmen, und wir werden dann unter Berücksichtigung des Kräfteverhältnisses sagen: unsere Zeit ist gekommen.“ Die Frage der Machteroberung stand in diesen ersten Monaten als Frage der Eroberung der Mehrheit in den Sowjets.

Nach der Niederschlagung proklamierte Lenin: die Macht kann von nun an nur vermittels des bewaffneten Aufstandes ergriffen werden; dabei wird man sich allem Anschein nach stützen müssen nicht auf die durch die Versöhnler demoralisierten Sowjets, sondern auf die Fabrikkomitees; Sowjets als Organe der Macht werden nach dem Siege neu geschaffen werden müssen. In Wirklichkeit entrissen die Bolschewiki bereits zwei Monate später die Sowjets den Versöhnlern. Die Art des Leninschen Irrtums in dieser Frage ist in höchstem Maße charakteristisch für sein strategisches Genie: für die allerkühnsten Pläne macht er Berechnungen, ausgehend von den allerungünstigsten Voraussetzungen. Wie er im April, als er durch Deutschland nach Rußland reiste, glaubte, vom Bahnhof ins Gefängnis zu geraten, wie er am 5. Juli sagte: „sie werden uns wohl abschießen“, so meinte er auch jetzt: die Versöhnler werden uns hindern, die Mehrheit in den Sowjets zu erobern.

„Es gibt keinen kleinmütigeren Menschen als mich, wenn ich einen Kriegsplan ausarbeite“, schrieb Napoleon an General Berthier, „ich übertreibe alle Gefahren und alle möglichen Mißgeschicke ... Ist aber mein Entschluß gefaßt, ist alles vergessen außer was seinen Erfolg sichern kann.“ Läßt man die Pose, die sich in dem wenig angebrachten Worten „Kleinmut“ äußert, beiseite, kann man den Kern des Gedankens vollständig auf Lenin beziehen. Mit der Lösung eines strategischen Problems beschäftigt, stattete er den Feind im voraus mit der eigenen Entschlossenheit und dem eigenen Weitblick aus. Lenins taktische Fehler waren am häufigsten Nebenprodukte seiner strategischen Stärke. In diesem Falle ist es überhaupt wohl kaum am Platze, von einem Fehler zu sprechen: wenn ein Diagnostiker an die Feststellung einer Krankheit herangeht vermittels konsequenten Ausscheidens alles Falschen, stellen seine hypothetischen Annahmen, beginnend mit den schlimmsten, nicht Irrtümer dar, sondern die Methode der Analyse.

Sobald die Bolschewiki die beiden hauptsächlichen Sowjets in ihren Händen hatten, sagte Lenin: „Unsere Zeit ist gekommen.“ Im April und Juli hielt er zurück; im August bereitete er theoretisch die neue Etappe vor; seit Mitte September ermahnte er zur Eile und treibt aus allen Kräften an. Jetzt besteht die Gefahr nicht im Vorauseilen, sondern im Zurückbleiben. „Verfrühtes kann es in dieser Hinsicht jetzt nicht geben.“

In Artikeln und Briefen an das Zentralkomitee analysiert Lenin die Lage, wobei er jedesmal die internationalen Bedingungen voranstellt. Symptome und Tatsachen des Erwachens des europäischen Proletariats sind ihm auf dem Hintergrunde der Kriegsereignisse unbestreitbare Beweise dafür, daß die unmittelbare Bedrohung der russischen Revolution seitens des ausländischen Imperialismus immer mehr abnehmen wird. Verhaftungen der Sozialisten in Italien und besonders der Aufstand in der deutschen Flotte veranlassen ihn, einen ungeheuren Umschwung in der gesamten Weltlage zu proklamieren: „Wir stehen am Beginn der proletarischen Weltrevolution.“

Diese Ausgangsposition Lenins möchte die epigonenhafte Historiographie verschweigen: sowohl deshalb, weil Lenins Berechnung durch die Ereignisse widerlegt scheint, wie auch, weil die russische Revolution, entsprechend den späteren Theorien, unter allen Umständen sich selbst genügen muß. Indes war die Leninsche Einschätzung der internationalen Lage nichts weniger als illusorisch. Die Symptome, die er durch das Sieb der Militärzensur aller Länder beobachtete, kündeten tatsächlich das Nahen eines revolutionären Sturmes. Bei den Mittelmächten erschütterte er ein Jahr später das alte Gebäude bis auf das Fundament. Aber auch in den Siegerländern, England und Frankreich, nicht zu sprechen von Italien, nahm er den regierenden Klassen für lange Zeit die Handlungsfreiheit. Gegen das starke, konservative, selbstsichere kapitalistische Europa hätte sich die isolierte, noch nicht erstarkte proletarische Revolution in Rußland nicht einmal wenige Monate halten können. Aber dieses Europa war nicht mehr. Die Revolution im Westen brachte zwar das Proletariat nicht an die Macht – die Reformisten retteten das bürgerliche Regime –, war aber immerhin stark genug, um die Sowjetrepublik in der ersten, gefährlichsten Periode ihres Daseins zu schützen.

Lenins tiefschürfender Internationalismus äußerte sich nicht nur darin, daß er die Einschätzung der internationalen Lage beständig in den Vordergrund schob; er betrachtete die Machteroberung in Rußland selbst vor allem als einen Anstoß zur europäischen Revolution, die, wie er mehr als einmal wiederholte, für das Schicksal der Menschheit unermeßlich größere Bedeutung haben müßte als die Revolution im rückständigen Rußland. Mit welchem Sarkasmus geißelt er jene Bolschewiki, die ihre internationale Pflicht nicht begreifen. „Nehmen wir eine Sympathieresolution für die deutschen Aufständischen an“, höhnt er, „und verwerfen wir den Aufstand in Rußland. Das wird wahrer, vernünftiger Internationalismus sein!“

In den Tagen der demokratischen Beratung schreibt Lenin an das Zentralkomitee: „Nachdem sie in beiden hauptstädtischen Sowjets ... die Mehrheit erlangt haben ..., können und müssen die Bolschewiki die Staatsmacht in ihre Hände nehmen ...“ Die Tatsache, daß die Mehrheit der Bauerndelegierten der künstlich zusammengesetzten Demokratischen Beratung gegen eine Koalition mit den Kadetten stimmte, war in Lenins Augen von entscheidender Bedeutung: dem Muschik, der ein Bündnis mit der Bourgeoisie nicht will, bleibt nichts weiter übrig, als die Bolschewiki zu unterstützen. „Das Volk ist der Schwankungen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre müde. Nur unser Sieg in den Hauptstädten wird die Bauern mitreißen.“ Die Aufgabe der Partei: „Auf die Tagesordnung ist zu stellen: bewaffneter Aufstand in Petrograd und Moskau, Machteroberung, Sturz der Regierung.“ Niemand hatte sich bis dahin so gebieterisch und nackt die Aufgabe der Umwälzung gestellt.

Lenin verfolgt genau alle Wahlen und Abstimmungen im Lande, sammelt aufmerksam die Zahlen, die auf das tatsächliche Kräfteverhältnis ein Licht zu werfen imstande sind. Für die halbanarchistische Gleichgültigkeit gegen Wahlstatistik hatte er nur Verachtung. Aber gleichzeitig identifizierte Lenin niemals den Index des Parlamentarismus mit dem tatsächlichen Kräfteverhältnis: er brachte stets eine Korrektur für die direkte Aktion hinein. „... Die Kraft des revolutionären Proletariats vom Standpunkte des Einwirkens auf die Massen und ihrer Einbeziehung in den Kampf“, mahnt er, „ist unvergleichlich größer im außerparlamentarischen Kampfe als im parlamentarischen. Das ist eine sehr wichtige Beobachtung für die Frage des Bürgerkrieges.“

Mit scharfem Auge entdeckte Lenin als erster, daß die Agrarbewegung eine entscheidende Phase betreten hatte, und zog daraus sofort alle Schlußfolgerungen. Der Muschik will nicht länger warten, ebensowenig der Soldat. „Angesichts einer solchen Tatsache wie der Bauernaufstand“, schreibt Lenin Ende September, „hätten alle anderen politischen Symptome, selbst wenn sie dem Heranreifen der gesamtnationalen Krise widersprechen würden, nicht die geringste Bedeutung.“ Die Agrarfrage ist das Fundament der Revolution. Der Sieg der Regierung über den Bauernaufstand wäre das „Begräbnis der Revolution ...“ Auf günstigere Bedingungen zu hoffen, besteht keine Notwendigkeit. Die Stunde zum Handeln naht. „Die Krise ist reif. Die gesamte Zukunft der russischen Revolution steht auf dem Spiel. Die gesamte Zukunft der internationalen Arbeiterrevolution für den Sozialismus steht auf dem Spiel. Die Krise ist reif.“

Lenin ruft zum Aufstand. Aus jeder einfachen, prosaischen, mitunter eckigen Zeile klingt höchste Spannung der Leidenschaft. „Die Revolution geht zugrunde“, schreibt er Anfang Oktober an die Petrograder Parteikonferenz, „wenn die Kerenski-Regierung von den Proletariern und Soldaten nicht in der allernächsten Zukunft gestürzt wird ... Man muß alle Kräfte mobilisieren, um den Arbeitern und Soldaten den Gedanken von der unbedingten Notwendigkeit des verzweifelten, letzten, entscheidenden Kampfes für den Sturz der Kerenski-Regierung einzuflößen.“

Mehr als einmal hatte Lenin gesagt, die Massen seien linker als die Partei. Er wußte, daß die Partei linker war als die Oberschicht der „alten Bolschewiki“. Zu gut konnte er sich die inneren Gruppierungen und Stimmungen im Zentralkomitee vergegenwärtigen, um von dieser Seite irgendwelche riskanten Schritte zu erwarten: dafür befürchtete er stark überflüssige Vorsicht, Zaudern, Versäumung einer jener historischen Situationen, die sich im Laufe von Jahrzehnten vorbereiten. Lenin vertraut nicht dem Zentralkomitee – ohne Lenin: darin liegt der Schlüssel zu seinen Briefen aus der Illegalität. Und Lenin hat gar nicht so unrecht in seinem Mißtrauen.

Gezwungen, sich in den meisten Fällen nach bereits gefaßtem Beschluß in Petrograd zu äußern, kritisiert Lenin unablässig von links die Politik des Zentralkomitees. Seine Opposition entwickelt sich auf dem Hintergrunde der Frage des Aufstandes, beschränkt sich aber nicht auf sie. Lenin meint, das Zentralkomitee widme zuviel Aufmerksamkeit dem versöhnlerischen Exekutivkomitee, der Demokratischen Beratung, wie überhaupt dem parlamentarischen Treiben in den Sowjetgipfeln. Er tritt scharf auf gegen den Vorschlag der Bolschewiki betreffs eines Koalitionspräsidiums im Petrograder Sowjet. Er brandmarkt den „schändlichen“ Beschluß betreffs Teilnahme am Vorparlament. Er ist entrüstet über die Ende September veröffentlichte Liste der bolschewistischen Kandidaten für die Konstituierende Versammlung: zuviel Intellektuelle, zu wenig Arbeiter. „Mit Rednern und Literaten die Konstituierende Versammlung zu füllen, heißt den ausgetretenen Weg des Opportunismus und Chauvinismus gehen. Das ist der III. Internationale unwürdig.“ Außerdem seien unter den Kandidaten zuviel neue, im Kampfe nicht erprobte Parteimitglieder! Lenin hält es für notwendig, einen Vorbehalt zu machen: „Es versteht sich von selbst, daß ... niemand gegen eine Kandidatur, beispielsweise L.D. Trotzkis, Einwände erheben könnte, denn erstens hat Trotzki sogleich nach seiner Ankunft die Position eines Internationalisten eingenommen; zweitens unter den Interrayonisten für eine Verschmelzung gekämpft; drittens hat er sich in den schweren Julitagen auf der Höhe der Aufgabe und als treuer Anhänger der Partei des revolutionären Proletariats gezeigt. Es ist klar, daß man dies von zahlreichen, in die Liste aufgenommenen gestrigen Parteimitgliedern nicht sagen kann ...“

Es könnte scheinen, die Apriltage seien zurückgekehrt: Lenin ist wieder in Opposition zum Zentralkomitee. Die Fragen stehen jetzt anders, aber der allgemeine Geist seiner Opposition ist der gleiche: das Zentralkomitee ist zu passiv, unterliegt zu stark der öffentlichen Meinung intellektueller Kreise, ist zu versöhnlerisch gestimmt in bezug auf die Versöhnler; und in der Hauptsache, verhält sich zu teilnahmlos, fatalistisch, nicht bolschewistisch zum Problem des bewaffneten Aufstandes.

Es ist Zeit, von Worten zur Tat überzugehen: „Unsere Partei hält jetzt in der Demokratischen Beratung faktisch einen eigenen Kongreß ab, und dieser Kongreß muß (ob er will oder nicht) das Schicksal der Revolution entscheiden.“ Es ist aber nur eine Entscheidung denkbar: der bewaffnete Aufstand. In diesem ersten Brief über den Aufstand macht Lenin noch den Vorbehalt: „Es handelt sich nicht um den „Tag“ des Aufstandes, nicht um seinen „Moment“ im engen Sinne des Wortes. Das wird allein die Gesamtstimme jener entscheiden, die mit den Arbeitern und Soldaten, mit den Massen unmittelbar in Berührung stehen.“ Aber schon zwei, drei Tage danach (die Briefe aus dieser Zeit sind in der Regel ohne Datum: aus konspirativen Erwägungen, nicht aus Vergeßlichkeit) besteht Lenin unter offensichtlichem Eindruck der Fäulnis der Demokratischen Beratung auf sofortigem Übergang zu Taten und bringt sogleich einen praktischen Plan vor.

„Wir müssen uns in der Beratung unverzüglich zu einer bolschewistischen Fraktion zusammenschließen, ohne der numerischen Stärke nachzujagen ... Wir müssen eine kurze Deklaration der Bolschewiki entwerfen ... Wir müssen unsere gesamte Fraktion in die Betriebe und Kasernen entsenden. Wir müssen gleichzeitig, ohne eine Minute Zeit zu verlieren, einen Stab aufständischer Abteilungen organisieren, die Kräfte verteilen, die treuen Regimenter auf die wichtigsten Punkte entsenden, die Alexandrinka (das Theater, in dem die Demokratische Beratung tagte) umzingeln, die Peter-Paul-Festung besetzen, Generalstab und Regierung verhaften, zu den Junkern und der Wilden Division Abteilungen abkommandieren, die eher zu sterben bereit sind, als zuzulassen, daß der Feind in die Stadtzentren marschiert; wir müssen bewaffnete Arbeiter mobilisieren, sie zum verzweifelten Endkampf aufrufen, sogleich Telegraph und Telephon besetzen, unseren Aufstandsstab bei der Telephonzentrale unterbringen, alle Fabriken, alle Regimenter, alle Punkte des bewaffneten Aufstandes mit ihm verbinden, und so weiter.“ Der Zeitpunkt wird nicht mehr abhängig gemacht von der „Gesamtstimme jener, die mit den Massen unmittelbar in Berührung stehen“. Lenin schlägt vor, unverzüglich zu handeln: Mit einem Ultimatum aus dem Alexandrinski-Theater hinauszugehen, um dorthin zurückzukehren an der Spitze bewaffneter Massen. Der vernichtende Schlag soll sich nicht nur gegen die Regierung richten, sondern gleichzeitig auch gegen das oberste Organ der Versöhnler.

„... Lenin, der in Privatbriefen Verhaftung der Demokratischen Beratung forderte“, so enthüllt Suchanow, „schlug in der Presse, wie wir wissen, ein „Kompromiß“ vor: sollen doch Menschewiki und Sozialrevolutionäre die ganze Macht nehmen, danach mag der Sowjetkongreß sprechen ... Das Gleiche verfolgte hartnäckig auch Trotzki in der Demokratischen Beratung und um sie herum.“ Suchanow sieht ein Doppelspiel dort, wo nicht die Spur davon ist. Lenin hatte den Versöhnlern ein Kompromiß vorgeschlagen gleich nach dem Siege über Kornilow, in den ersten Septembertagen. Achselzuckend waren die Versöhnler daran vorbeigegangen. Die Demokratische Beratung verwandelten sie in eine Deckung der neuen Koalition mit den Kadetten gegen die Bolschewiki. Die Möglichkeit einer Verständigung fiel somit von selbst endgültig weg. Die Frage der Macht konnte von nun an nur durch den offenen Kampf entschieden werden. Suchanow bringt hier zwei Stadien durcheinander, von denen das erste dem zweiten um vierzehn Tage voranging und dieses politisch bedingte.

Aber wenn sich auch der Aufstand unvermeidlich aus der neuen Koalition ergab, so überraschte Lenin doch durch die Schroffheit der Wendung sogar die Spitzen der eigenen Partei. Auf der Basis seines Briefes die bolschewistische Fraktion in der Beratung zusammenzuschließen, wenn auch „ohne der numerischen Stärke nachzujagen“, war offensichtlich unmöglich. Die Stimmung der Fraktion war derart, daß sie mit siebzig gegen fünfzig Stimmen den Boykott des Vorparlaments, das heißt den ersten Schritt in die Richtung des Aufstandes ablehnte. Im Zentralkomitee selbst fand Lenins Plan absolut keine Unterstützung. Vier Jahre später, auf einem den Erinnerungen gewidmeten Abend, erzählte Bucharin mit den ihm eigenen Übertreibungen und Anekdötchen, im Grunde aber richtig über diese Episode. „Der Brief (Lenins) war außerordentlich entschieden gehalten und drohte uns mit allerhand Strafen [?]. Wir alle waren paff. Niemand hatte bis dahin die Frage so schroff gestellt ... Alle waren fassungslos. Dann beriet man sich und faßte einen Beschluß. Vielleicht war das der einzige Fall in der Geschichte unserer Partei, wo das Zentralkomitee einstimmig beschloß, Lenins Brief zu verbrennen ... Wir glaubten zwar, daß es uns unbedingt gelingen würde, in Petrograd und Moskau die Macht in unsere Hände zu nehmen, meinten aber, daß wir uns in der Provinz noch nicht würden halten können und nach Übernahme der Macht und Auseinanderjagen der Demokratischen Beratung außerstande wären, im ganzen übrigen Rußland Fuß zu fassen.“

Das von Erwägungen der Konspiration hervorgerufene Verbrennen einiger Kopien des gefährlichen Briefes wurde in Wirklichkeit nicht einstimmig beschlossen, sondern mit sechs Stimmen gegen vier bei sechs Stimmenthaltungen. Ein Exemplar wurde für die Geschichte zum Glück aufbewahrt. Doch richtig in Bucharins Erzählung ist, daß sämtliche Mitglieder des Zentralkomitees, wenn auch aus verschiedenen Motiven, Lenins Vorschlag ablehnten: die einen widersetzten sich dem Aufstande überhaupt, andere glaubten, der Augenblick der Beratung sei der ungeeignetste; die dritten schwankten und warteten einfach ab.

Auf offenen Widerstand stoßend, tritt Lenin in eine Art Verschwörung mit Smilga, der sich ebenfalls in Finnland befindet und als Vorsitzender des Distriktkomitees der Sowjets zu jener Zeit beträchtliche reale Macht in seinen Händen konzentriert. Smilga stand 1917 auf dem äußersten linken Flügel der Partei und hatte bereits im Juli dazu geneigt, den Kampf zur Entscheidung zu bringen: bei Wendungen in der Politik fand Lenin stets, auf wen sich zu stützen. Am 27. September schreibt Lenin an Smilga einen umfangreichen Brief: „... Was tun wir? Wir nehmen Resolutionen an? Wir verlieren Zeit, setzen „Termine“ fest (am 20. Oktober – Sowjetkongreß – ist es nicht lächerlich, so hinauszuschieben? Ist es nicht lächerlich, sich darauf zu verlassen?). Systematische Arbeit, um ihre militärischen Kräfte für Kerenskis Sturz vorzubereiten, wird von den Bolschewiki nicht getan ... Man muß in der Partei agitieren für ein ernstes Verhalten zum bewaffneten Aufstand ... Weit über Ihre Rolle ... Ein Geheimkomitee aus zuverlässigen Militärpersonen schaffen, mit ihnen allseitig beraten, sammeln (und selbst nachprüfen) genaueste Informationen über Zusammensetzung und Aufstellung der Truppen bei Petrograd und in Petrograd, über den Transport finnländischer Truppen nach Petrograd, über Flottenbewegungen und so weiter.“ Lenin fordert „systematische Propaganda unter den Kosaken, die sich hier, in Finnland, befinden ... Man muß alle Informationen über die Aufstellung der Kosaken studieren und die Hinsendung von Agitatorentrupps aus den besten Kräften der Matrosen und Soldaten Finnlands organisieren“. Schließlich: „Zur richtigen Vorbereitung der Köpfe muß man sofort folgende Losung in Umlauf bringen: „Die Macht muß unverzüglich in die Hände des Petrograder Sowjets übergehen, der sie dem Sowjetkongreß übertragen wird. Denn wozu noch weitere drei Wochen Krieg und kornilowsche Vorbereitungen seitens Kerenskis dulden?““

Wir haben einen neuen Aufstandsplan vor uns: „ein Geheimkomitee aus den wichtigsten Militärpersonen“ in Helsingfors als Kampfstab; die in Finnland liegenden russischen Truppen als Kampfmacht: „wohl das einzige, was wir völlig in unseren Händen haben können und was eine ernste militärische Rolle spielen wird, sind die finnländischen Truppen und die Baltische Flotte“. Lenin rechnet somit, den Hauptschlag gegen die Regierung außerhalb Petrograds zu führen. Gleichzeitig ist erforderlich „eine richtige Vorbereitung der Köpfe“, damit der Sturz der Regierung durch die militärischen Kräfte Finnlands über den Petrograder Sowjet nicht als Überraschung hineinbricht: bis zum Sowjetkongreß wird er der Nachfolger der Regierung sein müssen.

Der neue Entwurf des Planes ist wie der vorangegangene nicht verwirklicht worden. Doch ist er nicht ohne Spur geblieben. Die Agitation unter den Kosakendivisionen zeitigte bald Resultate: davon hörten wir von Dybenko. Hinzuziehung der baltischen Seeleute zur Teilnahme am Hauptschlag gegen die Regierung ist ebenfalls in den später angenommenen Plan eingegangen. Doch nicht das ist die Hauptsache: durch die bis aufs äußerste zugespitzte Fragestellung erlaubte Lenin niemand auszuweichen oder zu lavieren. Was sich für einen direkten taktischen Vorschlag als unzeitgemäß erwies, gestaltete sich zweckmäßig als Nachprüfung der Stimmungen im Zentralkomitee, als Unterstützung der Entschlossenen gegen die Schwankenden, als ergänzender Stoß nach links.

Mit allen Mitteln, über die man in der Isolierung der Illegalität verfügen konnte, war Lenin bestrebt, die Parteikader die Schärfe der Situation und die Kraft des Massendrucks fühlen zu lassen. Er berief einzelne Bolschewiki in seinen Schlupfwinkel, veranstaltete peinlichste Verhöre, überprüfte Worte und Handlungen der Führer, ließ auf Umwegen seine Parolen in die Partei, nach unten, in die Tiefe, dringen, um das Zentralkomitee vor die Notwendigkeit zu stellen, zu handeln und bis ans Ende zu gehen.

Am Tage nach seinem Brief an Smilga schreibt Lenin das bereits oben zitierte Dokument „Die Krise ist reif“, das er mit einer Art Kriegserklärung an das Zentralkomitee abschließt. „Man muß ... die Wahrheit zugeben, daß bei uns im Zentralkomitee und in den Parteispitzen eine Strömung oder Meinung besteht, die für das Abwarten des Sowjetkongresses, gegen sofortige Machtübernahme, gegen sofortigen Aufstand ist.“ Diese Strömung müsse um jeden Preis überwunden werden. „Besiegt zuerst Kerenski, dann ruft den Kongreß ein.“ In Erwartung des Sowjetkongresses Zeit zu verlieren, ist „vollendete Idiotie oder vollendeter Verrat ...“ Bis zu dem auf den 20. angesetzten Kongreß bleiben mehr als zwanzig Tage: „Wochen und sogar Tage entscheiden jetzt alles.“ Die Lösung hinauszuziehen, heißt feige auf den Aufstand verzichten, denn während des Kongresses wird die Machtergreifung unmöglich werden: „Man wird für den Tag des einfältig „angesetzten“ Aufstandes Kosaken aufbieten.“

Schon allein der Ton des Briefes zeigt, wie verhängnisvoll Lenin das Zögern der Petrograder Führung schien. Doch beschränkt er sich diesmal nicht auf wütende Kritik, sondern kündet als Protest seinen Austritt aus dem Zentralkomitee an. Motive: das Zentralkomitee habe seit Beginn der Beratung auf Lenins Drängen bezüglich der Machtergreifung nicht reagiert; die Redaktion des Parteiorgans (Stalin) drucke seine Artikel mit absichtlichen Verschleppungen und streiche aus ihnen Hinweise auf solche „himmelschreienden Fehler der Bolschewiki wie der schändliche Beschluß, sich am Vorparlament zu beteiligen“, und so weiter. Diese Politik vor der Partei zu decken, hält Lenin nicht für möglich: „Ich bin gezwungen, um meinen Austritt aus dem Zentralkomitee zu ersuchen, was ich hiermit auch tue, und mir die Freiheit der Agitation in den unteren Parteischichten und auf dem Parteikongreß vorzubehalten.“

Die Dokumente lassen nicht erkennen, wie sich der formale Verlauf der Sache weiter entwickelte. Aus dem Zentralkomitee trat Lenin jedenfalls nicht aus. Durch die Austrittserklärung, die bei Lenin keineswegs Frucht momentaner Gereiztheit sein konnte, wollte Lenin sich offenbar die Möglichkeit lassen, im Notfalle an die innere Disziplin des Zentralkomitees nicht gebunden zu sein: er konnte nicht daran zweifeln, daß, wie im April, der unmittelbare Appell an die unteren Schichten ihm den Sieg sichern würde. Aber der Weg der offenen Rebellion gegen das Zentralkomitee setzte die Vorbereitung eines außerordentlichen Kongresses voraus, erforderte folglich Zeit; und gerade an Zeit fehlte es. Seine Austrittserklärung bereithaltend, ohne jedoch die Grenzen der Parteilegalität völlig zu verlassen, fährt Lenin fort, bereits mit größerer Freiheit den Angriff auf den inneren Operationslinien weiter zu entwickeln. Seine Briefe an das Zentralkomitee schickt er nicht nur an das Petrograder und das Moskauer Komitee, sondern sorgt auch dafür, daß Kopien in Hände der zuverlässigsten Genossen in den Bezirken geraten. Anfang Oktober schreibt Lenin, bereits unter Umgehung des Zentralkomitees, unmittelbar an das Petrograder und das Moskauer Komitee: „Die Bolschewiki haben nicht das Recht, auf den Sowjetkongreß zu warten, sie müssen die Macht sofort ergreifen ... Zögern – ist Verbrechen. Auf den Sowjetkongreß warten, ist Kinderspiel mit Formalitäten, schändliches Spiel mit Formalitäten, Verrat der Revolution.“ Vom Standpunkte hierarchischer Beziehungen war Lenins Vorgehen keinesfalls einwandfrei. Aber es ging um etwas Größeres als um Erwägungen formaler Disziplin.

Ein Mitglied des Wyborger Bezirkskomitees, Sweschnikow, erinnert sich: „Iljitsch schrieb und schrieb aus der Illegalität unermüdlich, und Nadeschda Konstantinowna (Krupskaja) las uns im Bezirkskomitee sehr häufig diese Manuskripte vor ... Die feurigen Worte des Führers steigerten unsere Kraft ... Ich erinnere mich wie heute der gebeugten Gestalt Nadeschda Konstantinownas, die in einem der Zimmer des Bezirksamtes, wo die Schreibmaschinisten arbeiteten, sorgfältig die Abschrift mit dem Original vergleicht, und daneben „Djadja“ und „Genja“, um Kopien bittend.“ Djadja und Genja sind alte konspirative Decknamen zweier Bezirksführer. „Unlängst“, erzählt der Bezirks-Parteiarbeiter Naumow, „erhielten wir von Iljitsch einen Brief zur Weitergabe an das Zentralkomitee ... Den Brief lasen wir und waren paff. Es stellte sich heraus, daß Lenin schon längst vor dem Zentralkomitee die Frage des Aufstandes erhob. Wir machten Lärm und begannen nachzudrücken.“ Das gerade war nötig.

Anfang Oktober fordert Lenin die Petrograder Parteikonferenz auf, ein machtvolles Wort zugunsten des Aufstandes zu sprechen. Auf seine Initiative hin „ersucht die Konferenz dringend das Zentralkomitee, alle Maßnahmen zu treffen für die Leitung des unvermeidlichen Aufstandes der Arbeiter, Soldaten und Bauern“. Dieser eine Satz enthält zwei Maskierungen, eine juristische und eine diplomatische: von der Leitung des „unvermeidlichen Aufstandes“ statt der direkten Vorbereitung des Aufstandes wird gesprochen, um dem Staatsanwalt keine zu guten Trümpfe in die Hand zu spielen; daß die Konferenz „das Zentralkomitee ersucht“, nicht aber fordert oder protestiert, ist offensichtlich ein Tribut an das Prestige der höchsten Parteiorganisation. Jedoch eine andere, ebenfalls von Lenin verfaßte Resolution sagt mit größerer Offenheit: „... in den Parteispitzen sind Schwankungen wahrnehmbar, gewissermaßen Angst vor dem Kampf um die Macht, Geneigtheit, diesen Kampf durch Resolutionen, Proteste und Kongresse zu ersetzen“. Das heißt schon beinahe die Partei offen zur Auflehnung gegen das Zentralkomitee rufen. Lenin entschloß sich nicht leicht zu solchen Schritten. Aber es ging um das Schicksal der Revolution, und alle anderen Erwägungen treten da in den Hintergrund.

Am 8. Oktober wendet sich Lenin an die bolschewistischen Delegierten des bevorstehenden Sowjetkongresses des Norddistrikts: „Man darf nicht den Allrussischen Sowjetkongreß abwarten, da ihn das Zentral-Exekutivkomitee auch bis November verschleppen kann. Man darf nicht hinziehen und Kerenski erlauben neue Kornilowtruppen heranzubringen.“ Der Distriktkongreß, auf dem Finnland, die Flotte und Reval vertreten sind, soll die Initiative ergreifen, „um sich unverzüglich gegen Petrograd in Bewegung zu setzen“. Der direkte Aufruf zum sofortigen Aufstande richtet sich diesmal an die Vertreter von Dutzenden Sowjets. Er geht persönlich von Lenin aus: ein Parteibeschluß liegt nicht vor, die oberste Parteiinstanz hat sich noch nicht geäußert.

Es war großes Vertrauen zum Proletariat und zur Partei notwendig, aber auch sehr ernstes Mißtrauen zum Zentralkomitee, um unter dessen Umgehung, auf persönliche Verantwortung, aus der Illegalität heraus mit Hilfe kleiner, mit winziger Schrift bedeckter Briefbogen eine Agitation für den bewaffneten Aufstand zu eröffnen. Wie aber konnte es geschehen, daß Lenin, den wir Anfang April an der Spitze seiner eigenen Partei isoliert sahen, in der gleichen Umgebung wieder allein stand im September und Anfang Oktober? Das läßt sich nicht begreifen, glaubt man der törichten Legende, die die Geschichte des Bolschewismus als Ausfluß der reinen revolutionären Idee schildert. In Wirklichkeit hatte sich der Bolschewismus in einem bestimmten sozialen Milieu entwickelt und war dessen verschiedenartigen Einwirkungen ausgesetzt, darunter auch dem Einfluß kleinbürgerlicher Umkreisung und kultureller Rückständigkeit. Jeder neuen Situation paßte sich die Partei nur auf dem Wege innerer Krisen an.

Damit der scharfe Voroktoberkampf in den bolschewistischen Spitzen vor uns im wahren Lichte erscheint, muß man wieder einen Blick zurückwerfen auf jene Prozesse in der Partei von denen bereits im ersten Band dieser Arbeit die Rede war. Das ist um so notwendiger, als gerade gegenwärtig die Stalin-Fraktion unerhörte Anstrengungen macht, und zwar im internationalen Maßstabe, um aus dem historischen Gedächtnis jegliche Erinnerung auszulöschen daran, wie sich in Wirklichkeit die Oktoberumwälzung vorbereitet und vollzogen hat.

In den Jahren vor dem Weltkriege nannten sich die Bolschewiki in der legalen Presse „konsequente Demokraten“ Dieses Pseudonym war nicht zufällig gewählt: Die Losungen der revolutionären Demokratie vertrat der Bolschewismus, und nur er allein, mutig bis zu Ende. Aber in der Prognose der Revolution ging er nicht weiter als die Demokraten. Der Krieg jedoch, der die bürgerliche Demokratie untrennbar mit dem Imperialismus verband, enthüllte endgültig, daß das Programm der „konsequenten Demokratie“ nicht anders gelöst werden kann als durch die proletarische Revolution. Wen von den Bolschewiki der Krieg dies nicht gelehrt hatte, den mußte die Revolution fraglos unvorbereitet finden und in einen linken Mitläufer der bürgerlichen Demokratie verwandeln.

Indes beweist das sorgfältige Studium der Materialien, die das Parteileben während des Krieges und zu Beginn der Revolution kennzeichnen, trotz ihrer äußersten und nicht zufälligen Unvollständigkeit und ihrem seit dem Jahre 1923 wachsenden tendenziösen Charakter immer mehr, welch gewaltiges geistiges Hinabgleiten die obere Schicht der Bolschewiki während des Krieges durchmachte, als das geregelte Parteileben faktisch aufgehört hatte. Die Ursache des Hinabgleitens ist eine zweifache: Loslösung von den Massen und Loslösung von der Emigration, das heißt vor allem von Lenin, und als Folge davon: Versinken in Isoliertheit und in Provinzialismus.

Nicht einer der alten Bolschewiki in Rußland formulierte, sich selbst überlassen, während des ganzen Krieges auch nur ein Dokument, das man wenigstens als einen kleinen Markstein auf dem Wege von der Zweiten zur Dritten Internationale betrachten könnte. „Die Fragen des Friedens, des Charakters der künftigen Revolution, der Rolle der Partei in der kommenden Provisorischen Regierung und so weiter“, schrieb vor einigen Jahren ein altes Parteimitglied, Antonow-Saratowski, „stellen sich uns entweder recht verschwommen dar oder fielen gar nicht in unseren Gedankenbereich.“ Bis auf den heutigen Tag ist überhaupt nicht eine Arbeit, nicht eine Tagebuchseite, nicht ein Brief veröffentlicht worden, worin Stalin, Molotow und die anderen der heutigen Führung auch nur nebenbei, auch nur flüchtig ihre Ansichten über die Perspektiven des Krieges und der Revolution formuliert hätten. Das heißt natürlich nicht, daß die „alten Bolschewiki“ über diese Fragen in den Jahren des Krieges, des Zusammenbruchs der Sozialdemokratie und der Vorbereitung der russischen Revolution nichts geschrieben hätten; die historischen Ereignisse verlangten allzu gebieterisch eine Antwort, und Gefängnis und Verbannung ließen Muße genug zum Nachdenken und Briefwechsel. Aber in all dem, was über dieses Thema geschrieben wurde, ist nirgendwo etwas zu finden, was man auch nur gezwungenermaßen als Annäherung an die Ideen der Oktoberrevolution deuten könnte. Es genügt, darauf zu verweisen, daß das Institut für Parteigeschichte nicht in der Lage ist, auch nur eine Zeile aus Stalins Feder aus den Jahren 1914-1917 zu veröffentlichen, und daß es gezwungen ist, sorgfältigst die wichtigsten Dokumente vom März 1917 zu verbergen. In den offiziellen politischen Biographien der Mehrheit der heute regierenden Schicht sind die Kriegsjahre gekennzeichnet als leere Stelle. Dies ist die ungeschminkte Wahrheit.

Einer der neueren jungen Geschichtsschreiber, Bajewski, dem die besondere Aufgabe anvertraut wurde, nachzuweisen, wie die Parteispitzen sich während des Krieges zur proletarischen Revolution hinentwickelt hätten, vermochte bei aller an den Tag gelegten Biegsamkeit seines wissenschaftlichen Gewissens den Materialien nichts als die magere Erklärung abzupressen: „Der Hergang dieses Prozesses läßt sich nicht verfolgen, doch beweisen manche Dokumente und Erinnerungen unzweifelhaft, daß ein unterirdisches Tasten des Parteidenkens in der Richtung der Leninschen Aprilthesen vorhanden war ...“ Als ginge es um unterirdisches Tasten und nicht um wissenschaftliche Einschätzungen und politische Prognosen.

A priori zu den Ideen der Oktoberrevolution kommen konnte man nicht in Sibirien, nicht in Moskau, auch nicht in Petrograd, sondern nur an der Kreuzung weltgeschichtlicher Wege. Die Aufgaben der verspäteten bürgerlichen Revolution mußten sich mit den Perspektiven der proletarischen Weltbewegung kreuzen, damit es möglich werde, das Programm der Diktatur des Proletariats für Rußland aufzustellen. Es war ein höherer Standpunkt, nicht ein nationaler, sondern ein internationaler Horizont erforderlich, gar nicht zu sprechen von einer ernsteren Ausrüstung als jener, über die die sogenannten russischen Praktiker der Partei verfügten.

Der Sturz der Monarchie eröffnete in ihren Augen die Ära eines „freien“ republikanischen Rußland, in dem sie sich anschickten; einen Kampf um den Sozialismus zu beginnen nach dem Beispiel der westlichen Länder. Drei alte Bolschewiki, Rykow, Skworzow und Wegmann, telegraphierten „im Auftrage der durch die Revolution befreiten Sozialdemokraten des Narymer Gebiets“ im März aus Tomsk: „Wir begrüßen die auferstandene Prawda, die so erfolgreich die revolutionären Kader für die Eroberung der politischen Freiheit vorbereitet hat. Wir sprechen unsere tiefe Überzeugung aus, daß es ihr gelingen wird, diese Kader für den weiteren Kampf im Namen der nationalen Revolution um ihr Banner zu vereinigen.“ Aus diesem Kollektivtelegramm spricht eine ganze Weltanschauung: sie ist durch einen Abgrund von Lenins Aprilthesen getrennt. Die Februarumwälzung verwandelte die führende Parteischicht, mit Kamenjew, Rykow und Stalin an der Spitze, sofort in demokratische Landesverteidiger, dabei mit einer Entwicklung nach rechts in die Richtung einer Annäherung an die Menschewiki. Der spätere Geschichtsschreiber Jaroslawski, das spätere Oberhaupt der Zentral-Kontrollkommission, Ordschonikidse, und der spätere Vorsitzende des ukrainischen Zentral-Exekutivkomitees, Petrowski, gaben im Monat März in engem Bündnis mit den Menschewiki in Jakutsk die Zeitschrift Der Sozialdemokrat heraus, die an der Grenze von patriotischem Reformismus und Liberalismus stand: in den späteren Jahren wurde diese Publikation eifrig gesammelt und vernichtet.

Die Petersburger Prawda versuchte zu Beginn der Revolution eine internationalistische Position einzunehmen, allerdings eine äußerst widerspruchsvolle, die nicht über den Rahmen der bürgerlichen Demokratie hinausging. Die aus der Verbannung eingetroffenen Bolschewiki von Autorität gaben dem Zentralorgan sogleich eine demokratisch-patriotische Richtung. Sich gegen den Vorwurf des Opportunismus verteidigend, brachte Kalinin am 30. Mai in Erinnerung: „Nehmen wir beispielsweise die Prawda. Anfangs hatte die Prawda eine bestimmte Politik verfolgt. Stalin, Muranow, Kamenjew trafen ein und drehten das Steuer der Prawda nach einer anderen Seite.“

„Man muß offen zugeben“, schrieb, als es noch erlaubt war, solche Dinge zu schreiben, Angarski, einer aus jener Schicht, „daß eine große Zahl alter Bolschewiki vor der Aprilkonferenz der Partei in der Frage nach dem Charakter der Revolution von 1917 an den alten bolschewistischen Ansichten von 1905 festhielt und daß die Preisgabe dieser Ansichten, ihre Liquidierung, nicht so leicht erfolgte.“ Es wäre noch hinzuzufügen, daß die überlebten Ideen von 1905 im Jahre 1917 aufgehört hatten, „alte bolschewistische Ansichten“ zu sein und Ideen des patriotischen Reformismus wurden.

„Lenins Aprilthesen“, lautet eine offizielle historische Version, „waren im Petrograder Komitee vom Mißgeschick geradezu verfolgt. Für diese Thesen, die eine Epoche bilden sollten, sprachen sich nur zwei, gegen sie dreizehn, bei einer Stimmenthaltung, aus.“

„Allzu kühn schienen Lenins Ansichten sogar seinen begeistertsten Anhängern“, schreibt Podwojski. Lenins Auftreten hatte – nach Meinung des Petrograder Komitees und der Militärischen Organisation – „... die Partei der Bolschewiki zur Einsamkeit verurteilt und damit selbstverständlich die Lage des Proletariats und der Partei aufs äußerste verschlechtert“.

„Man muß offen sagen“, schrieb vor einigen Jahren Molotow, „die Partei besaß weder die Klarheit noch die Entschlossenheit, die der revolutionäre Moment erforderte ... Der Agitation wie der revolutionären Parteiarbeit insgesamt fehlte die feste Basis, weil der Gedanke noch nicht bis zu den kühnen Schlußfolgerungen in bezug auf die Notwendigkeit des unmittelbaren Kampfes für den Sozialismus und die sozialistische Revolution vorgedrungen war.“ Der Umschwung begann erst im zweiten Monat der Revolution. „Seit dem Eintreffen Lenins in Rußland im April 1917“, bezeugt Molotow, „verspürte unsere Partei festen Boden unter den Füßen ... Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Partei nur schwach und unsicher ihren Weg abgetastet.“

Stalin trat Ende März ein für militärische Verteidigung, für bedingte Unterstützung der Provisorischen Regierung, für Suchanows pazifistisches Manifest, für Verschmelzung mit Zeretellis Partei. „Diese irrige Einstellung“, bekannte im Jahre 1924 Rückschau haltend Stalin selbst, „habe ich damals mit anderen Parteigenossen geteilt und mich von ihr erst Mitte April völlig losgesagt, als ich mich Lenins Thesen anschloß. Es war eine Neuorientierung nötig geworden. Diese Neuorientierung gab Lenin der Partei in seinen berühmten Aprilthesen.“

Kalinin war sogar noch Ende April für einen Wahlblock mit den Menschewiki. In der Petrograder Stadtkonferenz sagte Lenin: „Ich protestiere scharf gegen Kalinin, denn ein Block mit ... Chauvinisten ist undenkbar ... Das ist Verrat am Sozialismus.“ Kalinins Stimmungen bildeten sogar in Petrograd keine Ausnahme, In der Konferenz wurde gesagt: „Der Verschmelzungsrausch verflüchtigt sich unter Lenins Einfluß.“

In der Provinz hielt sich der Widerstand gegen Lenins Thesen bedeutend länger, in einer Reihe von Gouvernements – fast bis zum Oktober. Nach der Erzählung des Kiewer Arbeiters Siwzow „wurden die [von Lenin] aufgestellten Thesen nicht sogleich von der gesamten Kiewer bolschewistischen Organisation angenommen. Eine Reihe Genossen, darunter auch G. Pjatakow, waren mit den Thesen nicht einverstanden ...“ Der Charkower Eisenbahner Morgunow erzählt: „Die alten Bolschewiki genossen großen Einfluß unter der Eisenbahnermasse ... viele alte Bolschewiki waren nicht Mitglieder unserer Fraktion ... nach der Februarrevolution meldeten sich einige irrtümlich bei den Menschewiki an, worüber sie später selbst lachten: wie das nur passieren konnte.“ An solchen und ähnlichen Zeugnissen herrscht kein Mangel.

Trotz alledem gilt heute schon die einfache Erwähnung der von Lenin im April vollzogenen Umbewaffnung der Partei bei der offiziellen Historiographie als Gotteslästerung. Dem historischen Kriterium unterstellen die neuesten Geschichtsschreiber das Kriterium der Ehre der Parteiuniform. Sie besitzen in dieser Hinsicht nicht einmal das Recht, Stalin zu zitieren, der die ganze Tiefe der Aprilschwenkung anzuerkennen gezwungen war. „Es waren Lenins berühmte Aprilthesen notwendig, damit die Partei mit einem Schwung den neuen Weg betreten konnte.“ „Neuorientierung“ und „neuer Weg“, das eben ist die Umbewaffnung der Partei. Aber schon sechs Jahre später wurde Jaroslawski, der in seiner Eigenschaft als Historiker erwähnt hatte, Stalin habe zu Beginn der Revolution eine „irrige Position in den Kernfragen“ eingenommen, von allen Seiten einer wüsten Hetze ausgesetzt. Das Idol des Prestiges ist das gefräßigste aller Ungeheuer!

Die revolutionäre Tradition der Partei, der Druck der Arbeiter von unten, Lenins Kritik von oben zwangen die führende Parteischicht während der Monate April–Mai, um mit Stalins Worten zu sprechen, „den neuen Weg zu betreten“. Doch müßte man von politischer Psychologie gar keine Ahnung haben, um anzunehmen, die bloße Stimmabgabe für Lenins Thesen habe die tatsächliche und völlige Preisgabe der „irrigen Position in den Kernfragen“ bedeutet. In Wirklichkeit blieben jene vulgär-demokratischen Ansichten, die sich in den Kriegsjahren organisch gefestigt hatten, wenn sie sich auch dem neuen Programm anpaßten, zu ihm in dumpfer Opposition.

Am 6. August tritt Kamenjew, dem Beschluß der bolschewistischen Aprilkonferenz zuwider, im Exekutivkomitee für die Beteiligung an der bevorstehenden Stockholmer Konferenz der Sozialpatrioten ein. Im Zentralorgan der Partei findet Kamenjews Schritt keine Zurückweisung. Lenin schreibt einen wütenden Artikel, der aber erst zehn Tage nach Kamenjews Rede veröffentlicht wird. Es hatte des energischen Druckes seitens Lenins und anderer Zentralkomiteemitglieder bedurft, um bei der Redaktion, an deren Spitze Stalin stand, das Erscheinen des Protestartikels zu erreichen.

Eine Konvulsion von Schwankungen durchzitterte die Partei nach den Julitagen: die Isoliertheit der proletarischen Avantgarde erschreckte viele Führer, besonders in der Provinz. In den Kornilowtagen versuchten diese Erschreckten sich den Versöhnlern zu nähern, was wiederum eine warnende Zurechtweisung durch Lenin zur Folge hatte.

Am 20. August druckt Stalin in seiner Eigenschaft als Redakteur ohne Vorbehalt Sinowjews Artikel: „Was nicht tun“, gerichtet gegen die Vorbereitung des Aufstandes. „Man muß der Wahrheit ins Gesicht sehen: in Petrograd sind jetzt viele Bedingungen gegeben, die die Entstehung eines Aufstandes vom Typus der Pariser Kommune von 1871 begünstigen ...“ Am 3. September schreibt Lenin in einem anderen Zusammenhang und ohne Sinowjew zu nennen, den Prellhieb jedoch gegen diesen richtend: „Der Hinweis auf die Kommune ist höchst oberflächlich und sogar dumm. Denn erstens haben die Bolschewiki nach 1871 immerhin manches gelernt, sie würden nicht verfehlen, die Bank in ihre Hände zu nehmen, sie würden auf einen Angriff auf Versailles nicht verzichten; unter solchen Bedingungen aber hätte auch die Kommune siegen können. Außerdem konnte die Kommune dem Volke nicht sogleich all das bieten, was die Bolschewiki zu bieten imstande sein werden, wenn sie die Macht sind, nämlich: Land den Bauern, sofortiges Friedensangebot ...“ Das war eine anonyme, aber unzweideutige Warnung nicht nur an Sinowjew, sondern auch an den Redakteur der Prawda, Stalin.

Die Frage des Vorparlaments spaltete das Zentralkomitee in zwei Hälften. Der Beschluß der Beratungsfraktion zugunsten der Beteiligung am Vorparlament wurde von vielen Lokalkomitees, wenn nicht von den meisten, bestätigt. So war es zum Beispiel in Kiew. „In der Frage ... des Hineingehens ins Vorparlament“, sagt in ihren Erinnerungen E. Bosch, „sprach sieh die Mehrheit des Komitees für Beteiligung aus und wählte zu ihrem Vertreter Pjatakow.“ An vielen Fällen, wie am Beispiel Kamenjews, Rykows, Pjatakows und anderer, läßt sich die Nachfolgeschaft in den Schwankungen feststellen: gegen Lenins Thesen im April, gegen Boykott des Vorparlaments im September, gegen den Aufstand im Oktober. Hingegen: die nächste Schicht der bolschewistischen Kader, die den Massen näherstehende und politisch frischere, nahm die Parole des Boykottes leicht auf und zwang die Komitees, darunter auch das Zentralkomitee, zu einer schroffen Wendung. Unter dem Einfluß von Lenins Briefen sprach sich die Kiewer Stadtkonferenz zum Beispiel mit überwiegender Mehrheit gegen das eigene Komitee aus. So stützte sich Lenin fast an allen schroffen politischen Wendepunkten auf die unteren Schichten des Apparates gegen die höheren oder auf die Parteimasse gegen den Apparat insgesamt.

Die Voroktoberschwankungen konnten unter diesen Umständen am allerwenigsten Lenin überraschen. Er war von vornherein mit scharfem Mißtrauen gewappnet, lauerte den besorgniserregenden Symptomen auf, ging von den schlimmsten Vermutungen aus und hielt es für zweckmäßiger, ein überflüssiges Mal nachzudrücken, als Milde zu zeigen.

Zweifellos auf Lenins Eingebung hin nahm das Moskauer Distriktbüro Ende September eine harte Resolution gegen das Zentralkomitee an, beschuldigte es der Unentschlossenheit, der Schwankungen, des Hineintragens von Verwirrung in die Reihen der Partei und forderte, „eine klare und ausgesprochene Linie auf den Aufstand zu nehmen“. Im Namen des Moskauer Büros gab Lomow am 3. Oktober im Zentralkomitee diesen Beschluß bekannt. Das Protokoll vermerkt: „Es wird beschlossen, über den Bericht nicht zu diskutieren.“ Das Zentralkomitee fuhr weiter fort, einer Antwort auf die Frage „Was tun?“ auszuweichen. Doch Lenins Druck auf dem Wege über Moskau blieb nicht ergebnislos: nach zwei Tagen beschloß das Zentralkomitee, das Vorparlament zu verlassen.

Daß dieser Schritt das Betreten des Weges des Aufstandes bedeutete, war klar für Feinde und Gegner. „Indem Trotzki seine Armee aus dem Vorparlament hinausführte“, schreibt Suchanow, „nahm er klar Kurs auf gewaltsame Umwälzung.“ Der Bericht im Petrograder Sowjet über den Austritt aus dem Vorparlament schloß mit dem Ruf: „Es lebe der offene und direkte Kampf um die revolutionäre Macht im Lande!“ Das war am 9. Oktober.

Am nächsten Tage fand auf Lenins Verlangen die berühmte Sitzung des Zentralkomitees statt, wo die Frage des Aufstandes in aller Schärfe gestellt wurde. Vom Ausgang dieser Sitzung machte Lenin seine weitere Politik abhängig: mit dem Zentralkomitee oder gegen das Zentralkomitee. „Oh, neue Späße der lustigen Muße der Geschichte!“ schreibt Suchanow. „Diese allerhöchste und entscheidende Sitzung fand in meiner Wohnung statt, auf der gleichen Karpowka (32, Wohn. 31). Doch geschah alles das ohne mein Wissen.“ Die Frau des Menschewiken Suchanow war Bolschewikin. „Dieses Mal waren für mein Übernachten außerhalb des Hauses besondere Maßnahmen getroffen: wenigstens erkundigte sich meine Frau ganz genau nach meinen Absichten und gab mir den freundschaftlichen, uneigennützigen Rat, mich nach der Arbeit nicht durch die lange Fahrt abzumühen. Jedenfalls war die hohe Versammlung gegen mein Eindringen völlig gesichert.“ Sie erwies sich, was viel wichtiger war, auch gegen das Eindringen der Kerenskischen Polizei geschützt.

Von einundzwanzig Mitgliedern des Zentralkomitees waren zwölf anwesend. Lenin erschien in Perücke und Brille, ohne Bart. Die Sitzung dauerte etwa zehn Stunden hintereinander bis tief in die Nacht. In den Pausen trank man Tee und aß Brot mit Wurst zur Stärkung der Kräfte. Und Kräfte waren nötig: die Frage ging um die Machteroberung im ehemaligen Zarenreich. Wie immer begann die Sitzung mit einem Organisationsbericht von Swerdlow. Diesmal waren seine Informationen der Front gewidmet offenbar nach vorherigem Übereinkommen mit Lenin, um den notwendigen Schlußfolgerungen Rückhalt zu verleihen: das entsprach völlig Lenins Praktik. Vertreter der Nordfrontarmeen warnten durch Swerdlow, das konterrevolutionäre Kommando bereite irgendeine „dunkle Geschichte mit dem Rückzug der Truppen ins Innere vor“. Aus Minsk, dem Stab der Westfront, berichtete man, dort sei eine neue Kornilowiade im Entstehen; in Anbetracht des revolutionären Charakters der Organisation habe der Stab die Stadt durch Kosakentruppenteile eingekreist. „Es finden irgendwelche Verhandlungen verdächtiger Art statt zwischen den Stäben und dem Hauptquartier.“ Den Stab in Minsk gefangenzunehmen, sei durchaus möglich: die Organisation sei bereit, den Kosakenring zu entwaffnen. Man könne auch aus Minsk ein revolutionäres Korps nach Petrograd schicken. An der Front sei die Stimmung für die Bolschewiki, man werde gegen Kerenski gehen. So die Einleitung: sie ist nicht in allen ihren Teilen bestimmt genug, hat aber restlos ermutigenden Charakter.

Lenin geht sogleich zum Angriff über: „Seit Anfang September ist eine gewisse Gleichgültigkeit für die Frage des Aufstandes zu beobachten.“ Man verweist auf Abkühlung und Enttäuschung der Massen. Nicht verwunderlich: „Die Massen sind müde der Worte und Resolutionen.“ Man muß die Gesamtlage berücksichtigen. Die Ereignisse in der Stadt wickeln sich jetzt ab auf dem Hintergrunde einer gigantischen Bauernbewegung. Um den Agraraufstand zum Erlöschen zu bringen, hätte die Regierung Riesenkräfte nötig. „Die politische Situation ist somit reif. Es muß über die technische Seite gesprochen werden. Das ist der Kern der ganzen Sache. Indes sind wir gleich den Vaterlandsverteidigern geneigt, die systematische Vorbereitung des Aufstandes als eine Art politischer Sünde zu betrachten.“ Der Berichterstatter nimmt sich offensichtlich zusammen: allzu viel ist in seiner Seele angesammelt. „Der Sowjetkongreß des Norddistrikts und der Vorschlag aus Minsk müssen ausgenutzt werden für den Beginn entscheidender Handlungen.“

Der Nordkongreß war gerade am Tage der Sitzung des Zentralkomitees eröffnet worden und sollte in zwei bis drei Tagen geschlossen werden. „Den Beginn entscheidender Handlungen“ stellte Lenin als Aufgabe der nächsten Tage. Man darf nicht warten. Man darf nicht hinausschieben. An der Front – wir haben es von Swerdlow vernommen – bereitet man eine Umwälzung vor. Wird der Sowjetkongreß zustande kommen? Das ist unbekannt. Die Macht muß man sofort ergreifen, ohne irgendwelche Kongresse abzuwarten. „Unaussprechbar und nicht wiederzugeben“, schrieb einige Jahre später Trotzki, „ist der Gesamtgeist jener gespannten und leidenschaftlichen Improvisationen, durchdrungen von dem Bestreben, den Opponierenden, Schwankenden, Zweifelnden den eigenen Gedanken, den eigenen Willen, die eigene Sicherheit, den eigenen Mut einzuflößen ...“

Lenin hatte großen Widerstand erwartet. Doch seine Befürchtungen waren bald zerstreut. Die Einmütigkeit, mit der das Zentralkomitee im September den sofortigen Aufstand abgelehnt hatte, war von episodischem Charakter gewesen: der linke Flügel hatte sich gegen die „Einkreisung der Alexandrinka“ aus Konjunkturerwägungen ausgesprochen; der rechte aus Erwägungen allgemeiner, wenn auch in jenem Augenblick noch nicht restlos durchdachter Strategie. Während der vergangenen drei Wochen war im Zentralkomitee ein starker Ruck nach links erfolgt. Für den Aufstand stimmten zehn gegen zwei. Das war ein ernsthafter Sieg!

Bald nach der Umwälzung, auf einer neuen Etappe des innerparteilichen Kampfes, erwähnte Lenin während einer Debatte im Petrograder Komitee, wie er vor der Sitzung des Zentralkomitees „Opportunismus seitens der auf dem Boden der Vereinigung stehenden Internationalisten befürchtete, doch die Befürchtungen zerstreuten sich; in unserer Partei waren etliche Mitglieder [des Zentralkomitees] nicht einverstanden. Das hat mich aufs äußerste betrübt“. Von den „Internationalisten“ gehörten außer Trotzki, den Lenin wohl kaum meinen konnte, dem Zentralkomitee an: Joffe, späterer Gesandter in Berlin, Uritzki, späterer Leiter der Tscheka in Petrograd, und Sokolnikow, der spätere Schöpfer des Tscherwonez: alle drei waren auf Lenins Seite. Als Gegner traten zwei durch ihre frühere Arbeit Lenin nächststehende alte Bolschewiki auf: Sinowjew und Kamenjew. Auf sie beziehen sich auch seine Worte: „Das hat mich aufs äußerste betrübt.“ Die Sitzung vom 10. lief fast völlig auf eine leidenschaftliche Polemik mit Sinowjew und Kamenjew hinaus: den Angriff führte Lenin, die übrigen Teilnehmer wurden einer nach dem anderen hineingezogen.

Die von Lenin mit Bleistiftstummel auf einer karierten Kinderheftseite hastig niedergeschriebene Resolution war architektonisch nicht sehr vollendet, bot aber dafür eine feste Stütze für den Kurs auf den Aufstand. „Das Zentralkomitee stellt fest, daß sowohl die internationale Lage der russischen Revolution (Aufstand in der deutschen Flotte als höchster Ausdruck der in ganz Europa heranreifenden sozialistischen Weltrevolution, ferner die Drohung der imperialistischen Welt mit dem Ziele der Erdrosselung der Revolution in Rußland) als auch die militärische Lage (der unzweifelhafte Entschluß der russischen Bourgeoisie und der Kerenski und Konsorten, Petrograd den Deutschen zu übergeben) – all das in Verbindung mit dem Bauernaufstand und dem sich unserer Partei zuwendenden Vertrauen des Volkes (Wahlen in Moskau) und endlich die offenkundige Vorbereitung einer zweiten Kornilowiade (Abtransport von Truppen aus Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken vor Petrograd, Umzingelung von Minsk durch Kosaken und so weiter) – all das stellt auf die Tagesordnung den bewaffneten Aufstand. Indem es somit feststellt, daß der bewaffnete Aufstand unvermeidlich und völlig reif ist, fordert das Zentralkomitee alle Parteiorganisationen auf, sich danach zu richten und alle praktischen Fragen von diesem Gesichtspunkte aus zu erörtern und zu entscheiden (Sowjetkongreß des Norddistrikts, Abtransport von Truppen aus Petrograd, Auftreten der Moskauer und Minsker und so weiter).“

Bemerkenswert sowohl für die Einschätzung des Augenblicks wie für die Charakteristik des Autors ist allein schon die Anordnung der Reihenfolge der Bedingungen für den Aufstand: an erster Stelle das Heranreifen der Weltrevolution; der Aufstand in Rußland wird bloß als ein Glied einer Gesamtkette betrachtet. Das ist Lenins ständige Ausgangsposition, seine große Voraussetzung: anders konnte er nicht. Der Kurs auf den Aufstand wird unmittelbar, als Parteiaufgabe, gestellt: das schwierige Problem, die Vorbereitung der Umwälzung mit den Sowjets in Einklang zu bringen ist vorläufig gar nicht berührt. Der Allrussische Sowjetkongreß ist mit keinem Worte erwähnt. Zu den Stützpunkten des Aufstandes wird neben dem Kongreß des Norddistrikts und dem „Auftreten der Moskauer und Minsker“ auf Trotzkis Drängen hinzugefügt „der Abtransport von Truppen aus Petrograd“. Das war die einzige Anspielung auf jenen Aufstandsplan, der sich in der Hauptstadt durch den Gang der Ereignisse von selbst aufdrängte. Taktische Korrekturen an der Resolution, die die strategische Ausgangsposition der Umwälzung bestimmte, schlug niemand vor, ausgenommen Sinowjew und Kamenjew, die die Notwendigkeit des Aufstandes überhaupt verneinten.

Die späteren Versuche der offiziösen Historiographie, die Sache. so darzustellen, als wäre die gesamte führende Parteischicht, außer Sinowjew und Kamenjew, für den Aufstand gewesen, zerschellen an den Tatsachen und Dokumenten. Davon abgesehen, daß auch die für den Aufstand Stimmenden nicht selten dazu neigten, ihn in eine unbestimmte Zukunft zu verlegen, waren die offenen Gegner der Umwälzung, Sinowjew und Kamenjew, sogar im Zentralkomitee nicht isoliert: ihren Standpunkt teilten restlos Rykow und Nogin, die in der Sitzung vom 10. fehlten, ihnen nahe stand auch Miljutin. „In den Parteispitzen sind Schwankungen bemerkbar, gleichsam Angst vor dem Kampf um die Macht“, dies ist das Zeugnis von Lenin selbst. Nach den Worten Antonow-Saratowskis erzählte Miljutin, der nach dem 10. in Saratow eintraf, „von einem Brief Iljitschs mit der Forderung „anzufangen“, von Schwankungen im Zentralkomitee, von dem ursprünglichen „Durchfall“ des Leninschen Antrags, von Lenins Empörung und schließlich davon, daß der Kurs doch auf den Aufstand genommen sei“. Der Bolschewik Sadowski schrieb später von der „bekannten Unsicherheit und Unentschiedenheit, die zu dieser Zeit herrschten. Sogar in unserem Zentralkomitee gab es bekanntlich damals Reibungen und Zusammenstöße in der Frage, wie und ob zu beginnen ist“.

Sadowski selbst war in jener Periode einer der Führer der Militärischen Sektion des Sowjets und der Militärischen Organisation der Bolschewiki. Doch gerade die Mitglieder der Militärischen Organisation verhielten sich, wie aus einer Reihe von „Erinnerungen“ hervorgeht, im Oktober mit höchster Voreingenommenheit gegen die Idee des Aufstandes: der spezifische Charakter der Organisation machte die Führer geneigt zu Unterschätzungen der politischen und Überschätzung der technischen Bedingungen. Am i6. Oktober berichtete Krylenko: „Ein großer Teil des Büros (der Militärischen Organisation) meint, man dürfe die Frage praktisch nicht auf die Spitze treiben, die Minderheit jedoch glaubt, man könne die Initiative ergreifen.“ Am 18. sagte ein anderer angesehener Teilnehmer der Militärischen Organisation, Laschewitsch: „Soll man jetzt die Macht ergreifen? Ich denke, man darf die Ereignisse nicht forcieren ... Es bestehen keine Garantien, daß es uns gelingen wird, die Macht zu halten ... Der von Lenin vorgeschlagene strategische Plan hinkt auf allen vier Beinen.“ Antonow-Owssejenko berichtet über eine Zusammenkunft der wichtigsten militärischen Arbeiter mit Lenin: „Podwojski äußerte Zweifel, Newski stimmt bald ihm bei, bald verfiel er in Iljitschs sicheren Ton; ich berichtete ihm über die Lage in Finnland ... Iljitschs Sicherheit und Festigkeit wirkt stärkend auf mich und verleiht Newski Mut. Podwojski jedoch verharrt bei seinen Zweifeln.“ Man darf nicht außer acht lassen, daß in allen solchen Erinnerungen Zweifel in Aquarellfarben, Sicherheit mit dickem Öl aufgetragen wird.

Entschieden gegen den Aufstand trat Tschudnowski auf Der skeptische Manuilski wiederholte warnend, „die Front ist nicht mit uns“. Gegen den Aufstand war Tomski. Wolodarski unterstützte Sinowjew und Kamenjew. Bei weitem nicht alle Gegner der Umwälzung traten offen auf. In der Sitzung des Petrograder Komitees vom 15. sagte Kalinin: „Die Resolution des Zentralkomitees ist eine der besten Resolutionen, die das Zentralkomitee jemals angenommen hat ... Wir sind praktisch an den bewaffneten Aufstand herangegangen. Wann er aber möglich sein wird – vielleicht in einem Jahr –, ist unbekannt.“ Diese Art „Einverständnis“ mit dem Zentralkomitee, für Kalinin äußerst charakteristisch, war jedoch nicht allein für ihn bezeichnend. Viele schlossen sich der Resolution an, um auf diese Weise ihren Kampf gegen den Aufstand zu sichern.

Am wenigsten Einmütigkeit war bei den Spitzen in Moskau zu bemerken. Das Distriktbüro unterstützte Lenin. Im Moskauer Komitee waren die Schwankungen sehr stark, es überwogen die Stimmungen zugunsten des Hinausschiebens. Das Gouvernementskomitee nahm eine unbestimmte Position ein, wobei man im Distriktbüro, nach den Worten von Jakowlewa, glaubte, im entscheidenden Augenblick würde sich das Gouvernementskomitee den Gegnern des Aufstandes zuneigen.

Der Saratower Lebedjew erzählt, wie er während seines Besuches in Moskau kurz vor der Umwälzung mit Rykow spazierenging, der mit der Hand auf die Steinhäuser, reichen Läden, das geschäftige Treiben ringsherum wies und über die Schwierigkeiten der bevorstehenden, Aufgabe klagte. „Hier im Herzen des bürgerlichen Moskau kamen wir uns wirklich wie Pygmäen vor, die einen Berg zu verschieben planen.“

In jeder Parteiorganisation, in jedem Gouvernementskomitee waren Menschen von gleichen Stimmungen wie Sinowjew und Kamenjew, in vielen Komitees bildeten sie die Mehrheit. Sogar im proletarischen Iwanowo-Wosnessensk, wo die Bolschewiki ungeteilt herrschten, nahmen die Meinungsverschiedenheiten bei den führenden Spitzen außerordentliche Schärfe an. Im Jahre 1925, als Erinnerungen sich bereits den Bedürfnissen des neuen Kurses anpaßten, schrieb Kisseljew, ein alter Arbeiterbolschewik: „Der Arbeiterteil der Partei ging, einzelne Personen ausgenommen, mit Lenin, gegen Lenin traten auf eine kleine Gruppe Parteiintellektueller und vereinzelte Arbeiter.“ In öffentlichen Diskussionen wiederholten die Gegner des Aufstandes die gleichen Argumente wie Sinowjew und Kamenjew. „In Privatdiskussionen“, schreibt Kisseljew, „nahm die Polemik schärfere und unverhülltere Formen an, und dort verstieg man sich zu Äußerungen wie: Lenin ist ein Wahnsinniger, er stößt die Arbeiterklasse in sicheres Verderben, bei diesem bewaffneten Aufstande kann nichts herauskommen, man wird uns zerschmettern, die Partei und die Arbeiterklasse zerschlagen, das wird die Revolution für viele Jahre zurückwerfen, und so weiter“, dies war im besonderen auch Frunses Stimmung, eines persönlich sehr mutigen, aber nicht durch weiten Horizont sich auszeichnenden Menschen.

Sogar der Sieg des Aufstandes in Petrograd brach bei weitem noch nicht überall die Tätigkeit des Abwartens und den direkten Widerstand des rechten Flügels. Der Wankelmut der Leitung führte später beinah zum Zusammenbruch des Aufstandes in Moskau. In Kiew übergab das von Pjatakow geleitete Komitee, das eine reine Defensivpolitik führte, letzten Endes die Initiative und danach auch die Macht in die Hände der Rada. „Die Woronescher Organisation unserer Partei“, erzählt Wratschew, „machte recht beträchtliche Schwankungen durch. Die Umwälzung in Woronesch ... wurde nicht vom Parteikomitee vollzogen, sondern von dessen aktiver Minderheit, mit Moissejew an der Spitze.“ In einer ganzen Reihe von Gouvernementsstädten schlossen die Bolschewiki im Oktober einen Block mit den Versöhnlern „gegen die Konterrevolution“, als wären nicht die Versöhnler in diesem Moment eine der wichtigsten Stützen dieser Konterrevolution gewesen. Fast überall bedurfte es eines Anstoßes von oben und von unten zugleich, um die letzte Unentschlossenheit der Lokalkomitees zu brechen, sie zu zwingen, sich von den Versöhnlern zu trennen und an die Spitze der Bewegung zu treten. „Ende Oktober und Anfang November waren Tage wahrhaft „großer Wirren“ in unserer Partei. Viele ließen sich schnell von Stimmungen hinreißen“, schreibt Schljapnikow, der selbst den Schwankungen keinen geringeren Tribut gezollt hat.

Alle jene Elemente, die, wie die Charkower Bolschewiki, zu Beginn der Revolution sich im Lager der Menschewiki befanden und dann selbst darüber staunten, „wie das nur geschehen konnte“, fanden während der Oktobertage in der Regel keinen Platz für sich, schwankten, warteten. Um so sicherer meldeten sie ihre Rechte als „alte Bolschewiki an in der Periode geistiger Reaktion. Wie groß in den letzten Jahren die Arbeit zur Vertuschung dieser Tatsachen auch gewesen sein mag, so sind doch, außer den jetzt dem Forscher unzugänglichen Geheimarchiven, in Zeitungen aus jener Zeit, in Memoiren, historische Zeitschriften nicht wenig Zeugnisse dafür erhalten geblieben, daß der Apparat sogar der revolutionärsten Partei noch am Vorabend der Umwälzung großen Widerstand entwickelte. In der Bürokratie steckt unvermeidlich Konservativismus. Revolutionäre Funktionen kann ein Apparat erfüllen nur, solange er als dienende Waffe einer Partei, das heißt einer Idee unterstellt ist und von der Masse kontrolliert wird.

Die Resolution vom 10. Oktober gewann gewaltige Bedeutung. Sie sicherte sofort den wirklichen Anhängern des Aufstandes den festen Boden des Parteirechts. In allen Organisationen der Partei, in allen Zellen rückten die entschlossensten Elemente in den Vordergrund. Die Parteiorganisationen, beginnend mit Petrograd, strafften sich, musterten ihre Kräfte und Mittel, festigten die Verbindungen und verliehen der Kampagne für die Umwälzung konzentrierten Charakter.

Doch die Resolution erledigte nicht die Meinungsverschiedenheiten im Zentralkomitee. Im Gegenteil, sie verlieh ihnen nur Form und trug sie an die Oberfläche. Sinowjew und Kamenjew, die noch unlängst in einem gewissen Teil führender Kreise sich von einer Sympathieatmosphäre umgeben gefühlt hatten, entdeckten erschreckt, wie schnell die Verschiebung nach links vor sich ging. Sie beschlossen, keine Zeit mehr zu verlieren, und verbreiteten am nächsten Tage einen umfangreichen Aufruf an die Parteimitglieder. „Vor der Geschichte, vor dem internationalen Proletariat, vor der russischen Revolution und der russischen Arbeiterklasse“, schrieben sie, „besitzen wir nicht das Recht, auf die Karte des bewaffneten Aufstandes die ganze Zukunft zu setzen.“

Ihre Perspektive bestand darin, als starke Oppositionspartei in die Konstituierende Versammlung hineinzugehen, die „sich in ihrer revolutionären Arbeit nur auf die Sowjets wird stützen können“. Daher die Formel: „Konstituierende Versammlung und Sowjets – das ist jener kombinierte Typ der Staatsinstitution, dem wir entgegengehen.“ Die Konstituierende Versammlung, wo die Bolschewiki als Minderheit gedacht, und die Sowjets, wo die Bolschewiki die Mehrheit waren, das heißt das Organ der Bourgeoisie und das Organ des Proletariats, sollten zu einem friedlichen System der Doppelherrschaft „kombiniert“ werden. Dies war sogar unter der Herrschaft der Versöhnler nicht zustande gebracht worden. Wie konnte es unter bolschewistischen Sowjets gelingen?

„Tiefe historische Unwahrheit“, schlossen Sinowjew und Kamenjew, „ist eine solche Fragestellung über den Übergang der Macht in die Hände der proletarischen Partei wie: entweder sofort oder niemals. Nein. Die Partei des Proletariats wird wachsen, ihr Programm wird immer breiteren Massen klar werden.“ Die Hoffnung auf ein weiteres dauerndes Wachsen des Bolschewismus, unabhängig vom realen Gang der Zusammenstöße der Klassen, stand im unversöhnlichen Widerspruch zu dem Leninschen Leitgedanken jener Zeit: „Der Erfolg der russischen und der internationalen Revolution hängt von zwei – drei Kampftagen ab.“

Es ist wohl kaum nötig zu erläutern, daß das Recht in diesem dramatischen Dialog restlos auf seiten Lenins war. Eine revolutionäre Situation läßt sich nicht willkürlich konservieren. Hätten die Bolschewiki im Oktober–November die Macht nicht genommen, sie hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht genommen. Statt fester Führung hätten die Massen bei den Bolschewiki das gleiche, ihnen schon verhaßt gewordene Auseinandergehen von Wort und Tat gefunden und sich von der Partei, die ihre Hoffnungen betrogen, im Laufe von zwei-drei Monaten abgewandt, wie sie sich vorher von den Sozialrevolutionären und Menschewiki abgewandt hatten. Ein Teil der Werktätigen wäre in Indifferentismus verfallen, der andere würde seine Kräfte in konvulsiven Bewegungen, anarchischen Ausbrüchen, Partisanenkämpfen, im Terror der Rache und Verzweiflung verpufft haben. Die auf solche Weise entstandene Atempause hätte die Bourgeoisie ausgenutzt für den Separatfrieden mit Wilhelm II. und die Zerschmetterung der revolutionären Organisationen. Rußland hätte sich wieder dem Zyklus kapitalistischer Staaten als halbimperialistisches, halbkoloniales Land angegliedert. Die proletarische Umwälzung wäre in eine unbestimmte Ferne gerückt. Das klare Erkennen dieser Perspektive flößte Lenin seinen alarmierenden Ruf ein: „Der Erfolg der russischen und der internationalen Revolution hängt von zwei-drei Kampftagen ab.“

Jetzt jedoch, nach dem 10., hatte sich die Lage in der Partei radikal verändert. Lenin war nun nicht mehr ein isolierter „Oppositioneller“, dessen Vorschläge das Zentralkomitee ablehnte. Als isoliert erwies sich der rechte Flügel. Lenin hatte es nicht nötig, mit dein Preise des Rücktritts seine Agitationsfreiheit zu erkaufen. Die Legalität war auf seiner Seite. Im Gegenteil, indem Sinowjew und Kamenjew ihr gegen den Mehrheitsbeschluß des Zentralkomitees gerichtetes Dokument in Umlauf setzten, Waren sie es, die die Disziplin brachen. Und Lenin ließ im Kampfe selbst kleinere Fehlgriffe des Gegners nicht ungestraft!

In der Sitzung vom 10. wurde auf Dserschinskis Antrag ein politisches Büro aus sieben Mann gewählt: Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Stalin, Sokolnikow, Bubnow. Die neue Institution erwies sich jedoch als völlig lebensunfähig: Lenin und Sinowjew waren noch immer illegal; Sinowjew wie auch Kamenjew setzten außerdem ihren Kämpf gegen den Aufstand fort. Das politische Büro versammelte sich in der Oktober-Zusammensetzung nicht ein einziges Mal, und man hatte es bald einfach vergessen, wie so viele andere, im Strudel der Ereignisse ad hoc entstandene Organisationen.

Ein praktischer Aufstandsplan, auch nur ein ungefährer, wurde in der Sitzung vom 10. nicht entworfen. Ohne es in die Resolution aufzunehmen, wurde jedoch verabredet, daß der Aufstand dem Sowjetkongreß vorangehen und möglichst nicht später als am 15. beginnen müsse. Nicht alle gingen auf diesen Termin willig ein: er war offensichtlich zu kurz für den in Petrograd genommenen Anlauf Doch auf eine Verschiebung zu drängen, hätte bedeutet, die Rechten zu unterstützen und die Karten zu vermischen. Außerdem ist es für eine Vertagung niemals zu spät!

Die Tatsache der ursprünglichen Terminfestlegung auf den 15. wurde zum erstenmal veröffentlicht in Trotzkis Erinnerungen an Lenin im Jahre 1924, sieben Jahre nach den Ereignissen. Die Mitteilung wurde bald von Stalin bestritten, wobei die Frage in der russischen historischen Literatur besondere Schärfe erhielt. Bekanntlich vollzog sich der Aufstand in Wirklichkeit erst am 25., folglich war der ursprünglich bestimmte Termin nicht eingehalten worden. Die epigonenhafte Historiographie meint, in der Politik des Zentralkomitees konnten nicht nur keine Fehler, sondern auch keine Fristversäumnisse vorkommen. „Es stellt sich heraus“, schreibt diesbezüglich Stalin, „das Zentralkomitee hätte als Frist des Aufstandes den 15. Oktober bestimmt und dann diesen Beschluß selbst verletzt (!), indem es den Termin des Aufstandes auf den 25. Oktober verschob. Ist das wahr? Nein, das ist nicht wahr.“ Stalin kommt zu der Schlußfolgerung: „Das Gedächtnis hat Trotzki getäuscht.“ Zum Beweis beruft er sich auf die Resolution vom 10. Oktober, die keinen Termin nennt.

Die strittige Frage der Chronologie des Aufstandes ist sehr wichtig zum Verständnis für den Rhythmus der Ereignisse und verlangt nach Aufklärung. Daß die Resolution vom 10. kein Datum enthält, ist ganz richtig. Doch bezog sich diese allgemeine Resolution auf den Aufstand im ganzen Lande und war bestimmt für Hunderte und Tausende führender Parteiarbeiter. Darin das konspirative Datum des bereits für die nächsten Tage vorgesehenen Aufstandes in Petrograd aufzunehmen, wäre der Gipfel der Unvernunft gewesen: erinnern wir daran, daß Lenin aus Vorsicht in jener Zeit sogar seine Briefe nicht datierte. Ging es doch in diesem Falle um einen so wichtigen und gleichzeitig einfachen Beschluß, den alle Teilnehmer mühelos im Gedächtnis behalten konnten, überdies nur wenige Tage. Stalins Berufung auf den Text der Resolution bildet somit ein völliges Mißverständnis.

Wir sind jedoch bereit zuzugeben, daß die Berufung eines der Teilnehmer auf das eigene Gedächtnis, besonders wenn der Bericht von einem anderen Teilnehmer bestritten wird, für die historische Untersuchung nicht genügt. Zum Glück wird die Frage mit aller Bestimmtheit entschieden auf der Basis einer Analyse der Bedingungen und Dokumente.

Die Eröffnung des Sowjetkongresses stand für den 20. Oktober bevor. Zwischen dem Tag der Zentralkomiteesitzung und dem Datum des Kongresses blieb eine Zwischenzeit von zehn Tagen. Der Kongreß sollte nicht für die Macht der Sowjets agitieren, sondern sie übernehmen. An sich aber sind einige hundert Delegierte ohnmächtig, die Macht zu erobern; man mußte sie entreißen für den Kongreß und vor dem Kongreß. „Zuerst besiegt Kerenski, dann ruft den Kongreß ein“, dieser Gedanke stand im Mittelpunkt der gesamten Leninschen Agitation seit der zweiten Septemberhälfte. Im Prinzip stimmten damit alle überein, die überhaupt für die Machtergreifung waren. Das Zentralkomitee mußte folglich sich die Aufgabe stellen, die Durchführung des Aufstandes zwischen dem 10. und 20. Oktober zu versuchen. Da man aber nicht voraussehen konnte, wieviel Tage der Kampf dauern würde, so wurde der Aufstand für den 15. angesetzt. „Betreffs des Datums“, schreibt Trotzki in seinen Erinnerungen an Lenin, „gab es, soviel ich mich erinnere, fast keine Diskussionen. Alle begriffen, daß das Datum nur ungefähren, sozusagen orientierenden Charakter haben konnte und daß man es je nach den Ereignissen würde beschleunigen oder verschieben müssen. Doch konnte es sich nur um Tage handeln, um nicht mehr. Die Notwendigkeit des Datums selbst, und zwar eines allernächsten, war ganz offensichtlich.“

Eigentlich erschöpft schon das Zeugnis der politischen Logik die Frage. Doch fehlt es auch nicht an ergänzenden Beweisen. Lenin schlug eindringlich und unablässig vor, den Sowjetkongreß des Norddistrikts auszunutzen für den Beginn des militärischen Vorgehens. Die Resolution des Zentralkomitees eignete sich diesen Gedanken an. Doch der Distriktkongreß, der am 10. begann, sollte gerade vor dem 15. geschlossen werden.

In der Besprechung vom 16. verlangte Sinowjew, der auf Zurückziehung der sechs Tage zuvor angenommenen Resolution drängte: „Wir müssen uns offen sagen, daß wir in den nächsten fünf Tagen keinen Aufstand machen“: Die Rede war von jenen fünf Tagen, die bis zum Sowjetkongreß geblieben waren. Kamenjew, der in der gleichen Besprechung nachwies, „die Festsetzung des Aufstandes ist Abenteurertum“, erinnerte daran: „früher wurde gesagt, daß man vor dem 20. beginnen müsse“. Niemand widersprach ihm und konnte ihm widersprechen. Eben die Fristversäumnis des Aufstandes deutete Kamenjew als Durchfall der Leninschen Resolution. Für den Aufstand war, nach seinen Worten, „in dieser Woche nichts getan worden“. Das war offenbare Übertreibung: Die Festlegung eines Termins veranlaßte alle, energischer an die Pläne heranzugehen und das Arbeitstempo zu beschleunigen. Doch ist es zweifellos, daß die in der Sitzung vom 10. vorgesehene fünftägige Frist sich als zu kurz erwiesen hatte. Die Verspätung war Tatsache. Erst am 17. vertagte das Zentral-Exekutivkomitee die Eröffnung des Sowjetkongresses auf den 25. Oktober. Diese Vertagung kam höchst gelegen.

Durch die Verzögerung beunruhigt, bestand Lenin, dem in seiner Isoliertheit alle Hindernisse und Reibungen unvermeidlich vergrößert erscheinen mußten, auf Einberufung einer neuen Zentralkomiteesitzung unter Teilnahme von Vertretern der wichtigsten Gebiete der Parteiarbeit in der Hauptstadt. Gerade in dieser Besprechung, am 16., in Lessnoj, einem Petrograder Vorort, erhoben Sinowjew und Kamenjew die oben angeführten Argumente für Widerruf des alten Termins und gegen Ansetzung eines neuen.

Die Debatten wurden mit verdoppelter Kraft wieder aufgenommen. Miljutin meinte: „Wir sind nicht fertig, um zum ersten Schlag auszuholen ... Es ersteht eine andere Perspektive: der bewaffnete Zusammenstoß ... Er wächst, und seine Möglichkeit rückt immer näher. Für diesen Zusammenstoß müssen wir fertig sein. Doch diese Perspektive unterscheidet sich vom Aufstand.“ Miljutin bezog die Defensivposition, die noch eindeutiger Sinowjew und Kamenjew verteidigten. Schottman, ein alter Petrograder Arbeiter, der die ganze Geschichte der Partei mitgemacht hat, behauptete, in der Stadtkonferenz, im Parteikomitee und in der Militärischen Organisation sei die Stimmung viel kampfunlustiger als im Zentralkomitee. „Wir können nicht losschlagen, aber wir müssen uns darauf vorbereiten.“ Lenin attackierte Miljutin und Schottman für ihre pessimistische Einschätzung der Kräfte: „Es geht nicht um einen Kampf gegen das Heer, sondern um den Kampf eines Teiles des Heeres gegen den anderen ... Die Tatsachen beweisen, daß wir ein Übergewicht vor dem Feinde haben. Warum kann das Zentralkomitee nicht beginnen?“

Trotzki war in jener Sitzung nicht anwesend: er verfocht in den gleichen Stunden im Sowjet die Verordnung über das Militärische Revolutionskomitee. Aber jenen Standpunkt, der sich in den letzten Tagen im Smolny endgültig herausgebildet hatte, verteidigte Krylenko, der soeben Schulter an Schulter mit Trotzki und Antonow-Owssejenko den Sowjetkongreß des Norddistriktes geleitet hatte. Krylenko zweifelt nicht daran, daß „das Wasser genügend siedend ist“; die Resolution über den Aufstand zurückzunehmen, „wäre der größte Fehler“. Er geht jedoch mit Lenin auseinander „in der Frage, wer beginnt und wie beginnen“. Einen bestimmten Tag für den Aufstand festzusetzen sei zur Zeit noch unzweckmäßig. „Doch die Frage des Abtransports der Truppen bildet gerade jenes Moment, wo der Kampf einsetzen wird ... Die Tatsache, daß wir angegriffen sind, ist damit gegeben, und dies kann ausgenutzt werden ... Sich darum sorgen, wer beginnen soll, ist überflüssig, denn der Beginn ist bereits da.“ Krylenko legte dar und verteidigte die Politik, die das Fundament des Militärischen Revolutionskomitees und der Garnisonberatung bildete. Der Aufstand entwickelte sich in der Folge just auf diesem Wege.

Lenin reagierte auf Krylenkos Worte nicht: das lebendige Bild der letzten sechs Tage in Petrograd hatte sich nicht vor seinen Augen abgespielt. Lenin fürchtete Verzögerung. Seine Aufmerksamkeit war auf die direkten Gegner des Aufstandes gerichtet. Jegliche Vorbehalte, bedingte Formeln, nicht genügend kategorische Antworten war er geneigt zu deuten als indirekte Unterstützung Sinowjews und Kamenjews, die gegen ihn auftraten mit der Entschlossenheit von Menschen, die ihre Schiffe verbrannt haben. „Die Resultate einer Woche“, argumentierte Kamenjew, „sprechen dafür, daß im Augenblick keine Anhaltspunkte für den Aufstand gegeben sind. Einen Apparat für den Aufstand besitzen wir nicht; bei unseren Feinden ist dieser Apparat viel mächtiger und sicherlich während dieser Woche noch gewachsen ... Hier kämpfen zwei Taktiken: die Taktik der Verschwörung und die Taktik des Glaubens an die Triebkräfte der russischen Revolution.“ Opportunisten glauben stets an Triebkräfte dann, wenn man sich schlagen soll.

Lenin erwiderte: „Glaubt man, daß der Aufstand reif ist, dann kann von Verschwörung nicht die Rede sein. Ist der Aufstand politisch unvermeidlich, dann muß man sich zum Aufstand wie zu einer Kunst verhalten.“ Gerade auf dieser Linie ging in der Partei der grundlegende, wirklich prinzipielle Streit, von dessen Lösung in die eine oder die andere Richtung das Schicksal der Revolution abhing. Jedoch im Gesamtrahmen der Leninschen Fragestellung, um die sich die Mehrheit des Zentralkomitees vereinigte, erhoben sich zwar untergeordnete, aber äußerst wichtige Fragen: Wie auf der Basis der reifen politischen Situation an den Aufstand herangehen? Welche Brücke von der Politik zur Technik der Umwälzung wählen? Und wie die Massen über diese Brücke führen?

Joffe, der zum linken Flügel gehörte, unterstützte die Resolution vom 10. Doch widersprach er Lenin in einem Punkte: „Es ist nicht richtig, daß es jetzt um eine rein technische Frage geht; auch jetzt muß der Moment des Aufstandes vom politischen Standpunkte aus betrachtet werden.“ Gerade die letzte Woche hätte gezeigt, daß der Aufstand für Partei, Sowjet und Massen noch nicht zu einer reinen Frage der Technik geworden ist. Deshalb eben sei es auch nicht gelungen, die am 10. vorgesehene Frist einzuhalten.

Lenins neue Resolution, die „alle Organisationen und alle Arbeiter und Soldaten zur allseitigen und intensivsten Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes“ aufrief, wurde mit zwanzig gegen zwei Stimmen, Sinowjews und Kamenjews, bei drei Stimmenthaltungen angenommen. Die offiziellen Historiker berufen sich auf diese Zahlen am Beweis der völligen Belanglosigkeit der Opposition. Doch vereinfachen sie die Frage. Der Ruck nach links war in der Parteimasse bereits derart stark, daß die Gegner des Aufstandes, nicht mehr wagten, offen aufzutreten, Interesse verspürten, die prinzipielle Scheidelinie zwischen den zwei Lagern zu verwischen. Da sich die Umwälzung trotz dem im voraus festgelegten Termin bis zum 16. nicht verwirklicht hat, vielleicht ließe es sich erreichen, daß die Sache auch fernerhin auf einen platonischen „Kurs auf den Aufstand“ beschränkt bleibt? Daß Kalinin nicht gar so vereinsamt war, zeigte sich sehr kraß in der gleichen Sitzung. Sinowjews Resolution: „bewaffnete Demonstrationen sind bis zur Beratung mit dem bolschewistischen Teil des Sowjetkongresses nicht zulässig“, wurde mit fünfzehn gegen sechs Stimmen bei drei Stimmenthaltungen abgelehnt. Hier geschah die tatsächliche Nachprüfung der Ansichten: ein Teil der „Anhänger“ der Zentralkomiteeresolution wollte in Wirklichkeit den Beschluß bis zum Sowjetkongreß und bis zur netten Beratung mit den in ihrer Mehrheit gemäßigteren Bolschewiki aus der Provinz vertagen. Zusammen mit jenen, die sich der Stimme enthielten, waren es ihrer neun von vierundzwanzig Mann, das heißt mehr als ein Drittel. Das ist natürlich noch immer eine Minderheit, jedoch für einen Stab recht beträchtlich. Die hoffnungslose Schwäche dieses Stabes wurde dadurch bestimmt, daß er keine Stütze in den unteren Parteischichten und in der Arbeiterklasse besaß.

Am nächsten Tag gab Kamenjew im Einverständnis mit Sinowjew in Gorkis Zeitung eine gegen den am Vorabend angenommenen Beschluß gerichtete Erklärung ab. „Nicht nur ich und Sinowjew, sondern auch eine Reihe von Genossen, von Praktikern“, so schrieb Kamenjew, „meinen, die Ergreifung der Initiative zum bewaffneten Aufstande wäre in diesem Moment, unter dem gegebenen Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte, unabhängig vom Sowjetkongreß und einige Tage vor seiner Eröffnung ein unzulässiger und für das Proletariat und die Revolution katastrophaler Schritt ... – Alles zu setzen ... auf die Karte des bewaffneten Aufstandes für die nächsten Tage – würde heißen, einen Verzweiflungsschritt tun. Unsere Partei aber ist zu stark, vor ihr steht eine zu große Zukunft, um solche Schritte zu machen ...“ Opportunisten fühlen sich stets „zu stark“, um sich auf einen Kampf einzulassen.

Kamenjews Brief war eine direkte Kriegserklärung an das Zentralkomitee, und dabei in einer Frage, wo niemand zu spaßen beabsichtigte. Die Lage spitzte sich jäh aufs äußerste zu. Sie wurde noch verwickelter durch einige andere persönliche Episoden, die den gleichen politischen Ursprung hatten. In der Sitzung des Petrograder Sowjets vom 18. erklärte Trotzki auf eine ihm von den Gegnern gestellte Frage, daß der Sowjet für die nächsten Tage keinen Aufstand festgesetzt hätte; wäre er aber dazu gezwungen, die Arbeiter und Soldaten würden sich wie ein Mann erheben. Kamenjew, Trotzkis Nachbar im Präsidium, erhob sich sofort zu einer kurzen Erklärung: er unterschreibe jedes Wort Trotzkis. Das war ein listiger Schachzug: während Trotzki durch die äußerlich defensive Formel juristisch die Offensivpolitik deckte, versuchte Kamenjew die Formel Trotzkis; mit dem er radikal auseinanderging, zur Deckung einer direkt entgegengesetzten Politik auszunutzen.

Um die Wirkung des Kamenjewschen Manövers zu paralysieren, sagte Trotzki am selben Tage während eines Referats auf der Allrussischen Konferenz der Fabrikkomitees: „Der Bürgerkrieg ist unvermeidlich. Man muß ihn nur so unblutig und so schmerzlos wie möglich organisieren. Das ist nicht durch Schwanken und Unentschlossenheit zu erreichen, sondern nur durch den hartnäckigen und mutigen Kampf um die Macht.“ Die Worte vom Schwanken waren für alle offensichtlich gegen Sinowjew, Kamenjew und deren Gesinnungsgenossen gerichtet.

Die Frage betreffs Kamenjews Auftritt im Sowjet stellte Trotzki außerdem in der nächsten Sitzung des Zentralkomitees zur Debatte. In der Zwischenzeit meldete Kamenjew, um sich die Hände für die Agitation gegen den Aufstand frei zu machen, seine Demission als Mitglied des Zentralkomitees an. Die Frage wurde in seiner Abwesenheit behandelt. Trotzki betonte, daß „die entstandene Lage ganz unerträglich ist“, und schlug vor, Kamenjews Demission anzunehmen. [1]

Swerdlow, der Trotzkis Vorschlag (die Demission Kamenjews anzunehmen) unterstützte, verlas einen Brief Lenins, der Sinowjew und Kamenjew für ihr Auftreten in Gorkis Zeitung als Streikbrecher brandmarkte und ihren Ausschluß aus der Partei forderte. „Kamenjews Schlauheit in der Sitzung des Petrograder Sowjets“, schrieb Lenin, „ist direkt niederträchtig; er ist – man denke nur! – mit Trotzki ganz einverstanden. Aber ist es denn schwer zu begreifen, daß Trotzki vor dem Feinde, mehr als er gesagt hat, nicht sagen konnte, nicht das Recht hatte, nicht durfte. Ist es denn schwer zu begreifen, daß ... der Beschluß über die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes, über seine völlige Reife, seine allseitige Vorbereitung und so weiter ... verpflichtet, in öffentlichen Äußerungen nicht nur die Schuld, sondern auch die Initiative auf den Gegner abzuwälzen ... Kamenjews Schlauheit ist einfach Gaunerei.“

Als er seinen entrüsteten Protest durch Swerdlow abschickte, konnte Lenin noch nicht wissen, daß Sinowjew in einem Brief an die Redaktion des Zentralorgans eine Erklärung abgegeben hatte: seine, Sinowjews, Ansichten „sind weit entfernt von jenen, die Lenin anficht“, und er, Sinowjew, „schließt sich Trotzkis gestriger Erklärung im Petrograder Sowjet an“. Im gleichen Sinne trat in der Presse auch der dritte Gegner des Aufstandes, Lunatscharski, hervor. Um den böswilligen Wirrwarr voll zu machen, war Sinowjews Brief, abgedruckt im Zentralorgan gerade am Tage der Zentralkomiteesitzung, am 20., von sympathisierenden Anmerkungen der Redaktion begleitet: „Wir unsererseits drücken die Hoffnung aus, daß man mit der von Sinowjew abgegebenen Erklärung (wie auch mit Kamenjews Erklärung im Sowjet) die Frage als erschöpft betrachten kann. Der scharfe Ton in Lenins Artikel ändert an der Tatsache nichts, daß wir im wesentlichen Gesinnungsgenossen bleiben.“ Das war ein neuer Stoß in den Rücken, und zwar von einer Seite, von der ihn niemand erwartet hatte. Während Sinowjew und Kamenjew in der feindlichen Presse mit der offenen Agitation gegen den Beschluß des Zentralkomitees über den Aufstand hervortreten, rügt das Zentralorgan die „Schärfe“ des Leninschen Tones und konstatiert seine gleiche Gesinnung mit Sinowjew und Kamenjew im „wesentlichen“. Als hätte es in jenem Augenblick eine wesentlichere Frage als die Frage des Aufstandes gegeben! Laut einem kurzen Protokoll erklärte Trotzki in der Sitzung des Zentralkomitees: „Sinowjews und Lunatscharskis Briefe im Zentralorgan wie die Anmerkung der Redaktion können nicht geduldet werden.“ Swerdlow unterstützte den Protest.

Zur Redaktion gehörten damals Stalin und Sokolnikow. Das Protokoll lautet: „Sokolnikow teilt mit, daß er an der Redaktionserklärung zu Sinowjews Brief unbeteiligt war, und hält diese Erklärung für einen Fehler.“ Es stellt sich heraus, daß Stalin allein – gegen das andere Redaktionsmitglied und die Mehrheit des Zentralkomitees – Kamenjew und Sinowjew im kritischsten Moment, vier Tage vor dem Aufstand, durch eine Sympathieerklärung unterstützt hatte. Die Empörung war groß.

Stalin sprach gegen Kamenjews Demission und versuchte nachzuweisen, daß „unsere gesamte Lage widerspruchsvoll ist“, das heißt, er übernahm die Verteidigung jener Verwirrung, die von Mitgliedern des Zentralkomitees, die gegen den Aufstand auftraten, in die Köpfe getragen wurde. Mit fünf gegen drei Stimmen wird Kamenjews Rücktrittsgesuch angenommen. Mit sechs Stimmen, wiederum gegen Stalin, wird ein Beschluß gefaßt, der Kamenjew und Sinowjew verbietet, gegen die Politik des Zentralkomitees einen Kampf zu führen. Das Protokoll lautet: „Stalin erklärt seinen Austritt aus der Redaktion.“ Um die ohnehin nicht leichte Lage nicht zu verschärfen, lehnt das Zentralkomitee Stalins Demission ab.

Stalins Verhalten mag unerklärlich erscheinen im Licht der um ihn geschaffenen Legende; in Wirklichkeit entspricht es völlig seinem geistigen Wesen und seinen politischen Methoden. Vor großen Problemen zieht sich Stalin stets zurück – nicht infolge mangelnden Charakters wie Kamenjew, sondern infolge der Enge seines Horizonts und des Mangels an schöpferischer Phantasie. Lauernde Vorsicht zwingt ihn fast organisch, in Momenten großer Entschlüsse und tiefer Meinungsverschiedenheiten in den Schatten zu treten, abzuwarten und womöglich sich für zwei Fälle zu versichern. Stalin stimmte mit Lenin für den Aufstand. Sinowjew und Kamenjew kämpften offen gegen den Aufstand. Doch – läßt man die „Schärfe des Tones“ der Leninschen Kritik beiseite – „bleiben wir im wesentlichen Gesinnungsgenossen“. Seine Anmerkung hatte Stalin keinesfalls aus Leichtsinn gemacht: im Gegenteil, er hatte sorgfältig Umstände und Worte erwogen. Aber am 20. Oktober hielt er es nicht für möglich, unwiderruflich die Brücke zum Lager der Aufstandsgegner abzubrechen.

Die Angaben der Protokolle, die wir nicht nach dem Original, sondern nach dem offiziellen, in der Stalinschen Kanzlei bearbeiteten Text zu zitieren gezwungen sind, zeigen nicht nur die tatsächliche Verteilung der Figuren im bolschewistischen Zentralkomitee, sondern entrollen vor uns auch, trotz Kürze und Trockenheit, das wahre Panorama der Parteileitung, wie sie in der Wirklichkeit war: mit all ihren inneren Widersprüchen und unvermeidlichen persönlichen Schwankungen. Nicht nur die Geschichte in ihrer Gesamtheit, sondern auch deren kühnste Umwälzungen werden von Menschen vollzogen, denen nichts Menschliches fremd ist. Kann das die Bedeutung des Vollbrachten beeinträchtigen?

Würde man auf einer Leinwand den glänzendsten der Siege Napoleons abrollen, der Filmstreifen würde uns neben Genialität, Schwung, Scharfsinn, Heroismus – auch Unentschlossenheit einzelner Marschälle zeigen, Verwirrung der Generale, die Karten nicht lesen können, Stumpfsinn der Offiziere und Panik ganzer Abteilungen bis inklusive Darmerkrankungen aus Angst. Dieses realistische Dokument würde nur dafür Zeugnis ablegen, daß Napoleons Armee nicht aus Automaten einer Legende bestand, sondern aus lebendigen Franzosen, erzogen an der Wende zweier Jahrhunderte. Und das Bild menschlicher Schwächen würde nur das Grandiose des Ganzen greller unterstreichen.

Es ist leichter, über eine Umwälzung nachträglich zu theoretisieren, als sie in Fleisch und Blut in sich aufzunehmen, bevor sie sich vollzogen hat. Das Herannahen eines Aufstandes hat stets unvermeidlich Krisen in den Parteien des Aufstandes hervorgerufen und wird sie hervorrufen. Davon zeugt die Erfahrung der gestähltesten und revolutionärsten Partei, die die Geschichte je gekannt hat. Es genügt die Tatsache, daß Lenin wenige Tage vor der Schlacht sich gezwungen sah, den Ausschluß zweier seiner nächsten und angesehensten Schüler zu fordern. Spätere Versuche, den Konflikt durch „Zufälle“ persönlichen Charakters zu bagatellisieren, sind von rein kirchlicher Idealisierung der Parteivergangenheit suggeriert. Wie Lenin vollständiger und entschiedener als die anderen in den Herbstmonaten 1917 die objektive Notwendigkeit des Aufstandes und den Willen der Massen zur Umwälzung ausdrückte, so verkörperten Sinowjew und Kamenjew offenherziger als die anderen die bremsenden Tendenzen der Partei, Stimmungen der Unentschlossenheit. Einflüsse kleinbürgerlicher Bindungen und den Druck der herrschenden Klassen.

Wären alle Beratungen, Debatten, Privatstreitereien, die in der oberen Schicht der bolschewistischen Partei während des einen Monats Oktober stattfanden, stenographiert worden, die Nachkommen könnten sich überzeugen, durch welch gespannten inneren Kampf an der Spitze der Partei sich die für die Umwälzung nötige Entschlossenheit formte. Das Stenogramm würde gleichzeitig beweisen, wie sehr eine revolutionäre Partei der inneren Demokratie bedarf: der Wille zum Kampf wird nicht auf Vorrat angeschafft und nicht von oben diktiert – er muß jedesmal selbständig erneuert und gestählt werden.

Indem er sich auf die Behauptung des Autors dieses Buches berief, wonach „als wesentlichstes Instrument der proletarischen Umwälzung die Partei dient“, fragte Stalin im Jahre 1924: „Wie konnte unsere Revolution siegen, wenn ihr wesentlichstes Instrument sich als untauglich erwies?“ Die Ironie verschleiert nicht die primitive Unwahrhaftigkeit der Erwiderung. Zwischen den Heiligen, wie sie die Kirche schildert, und den Teufeln, wie sie von den Kandidaten für Heiligenposten geschildert werden, befinden sich die lebendigen Menschen: und sie machen die Geschichte. Die hohe Stählung der bolschewistischen Partei hatte sich nicht im Fehlen von Meinungsverschiedenheiten, Schwankungen und sogar Erschütterungen geäußert, sondern darin, daß sie in schwierigster Lage rechtzeitig mit inneren Krisen fertig wurde und sich die Möglichkeit sicherte, in die Ereignisse entscheidend einzugreifen. Und dies eben heißt, daß die Partei als Ganzes ein taugliches Instrument der Revolution war.

Eine reformistische Partei betrachtet in der Praxis als unerschütterlich die Grundlagen dessen, was zu reformieren sie sich anschickt. Damit allein schon unterwirft sie sich unausweichbar den Ideen und der Moral der herrschenden Klasse. Aufgestiegen auf der Schulter des Proletariats, wurde die Sozialdemokratie nur eine bürgerliche Partei zweiter Sorte. Der Bolschewismus hat den Typ des wahren Revolutionärs geschaffen, der den historischen, mit der bestehenden Gesellschaft nicht zu versöhnenden Zielen die Bedingungen seines persönlichen Daseins, seine Ideen, seine sittlichen Kriterien unterwirft. Die nötige Distanz zur bürgerlichen Ideologie wurde in der Partei durch die wachsame Unversöhnlichkeit, deren Inspirator Lenin war, aufrechterhalten. Er wurde nicht müde, mit der Lanzette zu arbeiten, um jene Bindungen zu zerschneiden, die die kleinbürgerliche Umgebung zwischen Partei und offizieller öffentlicher Meinung schuf Gleichzeitig lehrte Lenin die Partei, sich eine eigene öffentliche Meinung zu formen, die sich auf Gedanken und Gefühle der emporsteigenden Klasse stützt. So schuf sich die bolschewistische Partei durch Auslese und Erziehung in ständigem Kampfe nicht nur ihr politisches, sondern auch ihr moralisches, von der bürgerlichen öffentlichen Meinung unabhängiges und dieser unversöhnlich entgegengesetztes Milieu. Nur dies allein hat den Bolschewiki ermöglicht, die Schwankungen in den eigenen Reihen zu überwinden und durch die Tat jene kühne Entschlossenheit zu entwickeln, ohne die der Oktobersieg nicht möglich gewesen wäre.

 

Fußnote von Trotzki

1. In den im Jahre 1929 veröffentlichten Protokolle des Zentralkomitees aus dem Jahre 1917 ist gesagt, Trotzki habe seine Erklärung im sowjet damit begründet, daß sie „Kamenjew erzwungen worden war“. Hier liegt offenbar eine irrige Niederschrift oder eine falsche spätere Redaktion vor. Trotzkis Erklärung brauchte keine besonderen Bedingungen: sie ergab sich aus den Umständen. Durch einen merkwürdigen Zufall war das Moskauer Distriktkomitee, das restlos Lenin unterstützte, am gleichen Tag, am 18., gezwungen, in der Moskauer Parteizeitung eine Erklärung zu veröffentlichen, die Trotzkis formel fas wörtlich wiedergab: „... Wir sind keine Verschwörerpartei und bestimmen unsere Aktionen nicht im Geheimen. Wenn wir uns entscheiden werden, hervorzutreten, werden wir das in unseren Parteiorganen sagen ...“ Anders konnte man die direkten Fragen der Feinde auch nicht beantworten. Wenn aber Trotzkis Erklärung von Kamenjew nicht erzwungen war und nicht erzwungen sein konnte, so war sie durch dessen unwahrhaftige Solidaritätserklärung bewußt kompromittiert, und zwar unter Bedingungen , die es Trotzki unmöglich machten den erforderlichen punkt auf das i zu setzen.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.1.2005