Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Kapitel 16:
Die nationale Frage

Die Sprache ist das wichtigste Instrument der Verbindung zwischen Mensch und Mensch, folglich auch – der Wirtschaft. Sie wird zur nationalen Sprache gleichzeitig mit dem Siege des Warenverkehrs, der eine Nation zusammenfaßt. Auf dieser Basis entsteht der nationale Staat als bequemste, vorteilhafteste und normalste Arena kapitalistischer Beziehungen in Westeuropa begann die Epoche der Formierung bürgerlicher Normen, läßt man den Unabhängigkeitskampf der Niederlande und das Schicksal des Insel-England außer acht, mit der Großen Französischen Revolution und wurde im wesentlichen abgeschlossen etwa im Verlaufe eines Jahrhunderts mit der Gründung des Deutschen Reiches.

Aber in jener Periode, wo der nationale Staat in Europa bereits aufgehört hatte, die Produktivkräfte aufzunehmen, und in den imperialistischen Staat hineinzuwachsen begann, hob im Osten – in Persien, auf dem Balkan, in China, Indien – erst die Ära der nationaldemokratischen Revolutionen an, zu denen die russische Revolution von 1905 Anstoß gab. Der Balkankrieg Von 1912 bildete den Abschluß der Formierung von Nationalstaaten im Südosten Europas. Der darauf folgende imperialistische Krieg vollendete beiläufig in Europa die nicht abgeschlossene Arbeit der nationalen Revolutionen, indem er zur Zergliederung Österreich-Ungarns führte, zur Schaffung eines unabhängigen Polen und der Randstaaten, die sich von dem Zarenreiche abgetrennt hatten.

Rußland entstand nicht als nationaler Staat, sondern als Staat von Nationalitäten. Das entsprach seinem verspäteten Charakter. Auf der Grundlage von extensiver Landwirtschaft und Heimindustrie entwickelte sich das Handelskapital nicht in die Tiefe, nicht vermittels einer Umbildung der Produktion, sondern in die Breite, durch Vergrößerung seines Operationsradius. Händler, Gutsbesitzer und Beamter rückten vom Zentrum zur Peripherie vor, hinter den siedelnden Bauern her, die auf der Suche nach neuem Land und Befreiung von Abgabenlasten in neue Territorien mit noch rückständigeren Stämmen vordrangen. Die Expansion des Staates war in ihrem Kern eine Expansion der Landwirtschaft, die bei all ihrer Primitivität den Nomaden des Südens und Ostens überlegen war. Der auf dieser unermeßlichen und sich dauernd verbreiternden Basis erwachsene ständisch-bürokratische Staat wurde stark genug, um sich im Westen einzelne Nationen von höherer Kultur zu unterwerfen, die infolge zahlenmäßiger Schwäche oder innerer Krisen unfähig waren, ihre Selbständigkeit zu verteidigen (Polen, Litauen, die Baltischen Provinzen, Finnland).

Zu den siebzig Millionen Großrussen, die den Grundstock des Landes bildeten, kamen allmählich noch neunzig Millionen „Fremdstämmiger“ hinzu, die sich scharf in zwei Gruppen teilten: die westlichen, durch ihre Kultur Großrußland überlegen, und die östlichen, auf einem tieferen Niveau stehend. So bildete sich das Reich heraus, dessen herrschende Nationalität nur 43 Prozent der Bevölkerung betrug, während 57 Prozent, darunter 17 Prozent Ukrainer, 6 Prozent Polen, 4½ Prozent Weißrussen, auf Nationalitäten von verschiedenen Stufen der Kultur und der Rechtlosigkeit entfielen.

Die habsüchtige Begehrlichkeit des Staates und die Dürftigkeit der bäuerlichen Basis der herrschenden Klassen schufen erbittertste Formen der Ausbeutung. Die nationale Unterdrückung war in Rußland viel größer als in den Nachbarstaaten, nicht nur jenseits der westlichen, sondern auch jenseits der östlichen Grenze. Die große Zahl der rechtlosen Nationen und die Schärfe der Rechtlosigkeit verliehen dem nationalen Problem im zaristischen Rußland gewaltige Explosivkraft.

Wenn in national-einheitlichen Staaten die bürgerliche Revolution erst mächtige zentripetale Tendenzen entwickelte, da sie im Zeichen der Überwindung des Partikularismus verlief, wie in Frankreich, oder der nationalen Zersplitterung, wie in Italien und Deutschland, so entfesselte in national heterogenen Staaten, wie der Türkei, Rußland, Österreich-Ungarn, umgekehrt die verspätete bürgerliche Revolution die zentrifugalen Kräfte. Trotz scheinbarer Gegensätzlichkeit dieser in den Termini ausgedrückten Prozesse ist ihre historische Funktion die gleiche, soweit es sich in beiden Fällen darum handelt, die nationale Einheit als das wichtigste Wirtschaftsreservoir auszunutzen: Deutschland mußte man zu diesem Zwecke vereinigen. Österreich-Ungarn dagegen – zergliedern.

Die Unvermeidlichkeit der Entwicklung zentrifugaler Nationalbewegungen in Rußland hatte Lenin rechtzeitig in Betracht gezogen und während einer Reihe von Jahren hartnäckig, im besonderen gegen Rosa Luxemburg, gekämpft um den berühmten Paragraphen 9 des alten Parteiprogramms, der das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, das heißt auf völlige staatliche Loslösung, formulierte. Damit nahm die bolschewistische Partei noch keinesfalls auf sich; Separatismus zu predigen. Sie übernahm nur die Verpflichtung, jeglicher Art von nationaler Unterdrückung, auch der gewaltsamen Festhaltung irgendeiner Nationalität in den Grenzen des Gesamtstaates, unversöhnlichen Widerstand zu leisten. Nur dadurch konnte das russische Proletariat allmählich das Vertrauen der unterdrückten Völker gewinnen.

Doch war dies nur die eine Seite der Sache. Die Politik des Bolschewismus auf nationalem Gebiet hatte noch eine andere, der ersten gleichsam widersprechende, in Wirklichkeit aber sie ergänzende Seite. Im Rahmen der Partei und der Arbeiterorganisationen überhaupt verfolgte der Bolschewismus strengsten Zentralismus, bei unversöhnlichem Kampf gegen jede Art nationalistischer Seuche, die fähig wäre, die Arbeiter zueinander in Gegensatz zu bringen oder sie zu trennen. Indem er dem bürgerlichen Staat entschieden das Recht absprach, einer nationalen Minderheit gewaltsames Zusammenleben oder auch nur die Staatssprache aufzuzwingen, betrachtete der Bolschewismus es gleichzeitig als seine wahrhaft heiligste Aufgabe, die Werktätigen verschiedenster Nationalitäten durch freiwillige Klassendisziplin so eng wie möglich zu einer Einheit zu verbinden. Deshalb lehnte er das national-föderative Prinzip des Parteiaufbaues rundweg ab. Die revolutionäre Organisation ist kein Prototyp des Zukunftsstaates, sondern nur das Instrument zu seiner Schaffung. Das Instrument muß zweckmäßig der Herstellung eines Erzeugnisses entsprechen, keinesfalls jedoch dieses in sich bergen. Nur die zentralistische Organisation kann den Erfolg des revolutionären Kampfes sichern, – auch dann, wenn es um die Vernichtung des zentralistischen Joches über Nationen geht.

Der Sturz der Monarchie mußte für Rußlands unterdrückte Nationen notwendigerweise auch deren nationale Revolution bedeuten. Doch zeigte sich hier das gleiche wie auf allen anderen Gebieten des Februarregimes: die offizielle Demokratie, gebunden durch ihre politische Abhängigkeit von der imperialistischen Bourgeoisie, war absolut unfähig, die alten Ketten zu zerreißen. Indem sie ihr Recht, über das Schicksal aller übrigen Nationen zu bestimmen, als unbestreitbar betrachtete, verteidigte sie eifersüchtig weiter jene Reichtums–, Macht- und Einflußquellen, die der großrussischen Bourgeoisie die Vorherrschaft gesichert hatten. Die Versöhnler-Demokratie übersetzte nur die Traditionen der nationalen Politik des Zarismus in die Sprache der Befreiungsrhetorik: jetzt handelte es sich um die Verteidigung der Einigkeit der Revolution. Doch die herrschende Koalition hatte ein anderes, schärferes Argument: Erwägungen der Kriegszeit. Das bedeutet: die Befreiungsbestrebungen einzelner Nationalitäten wurden hingestellt als Gebilde von der Hand des deutsch-österreichischen Stabes. Erste Geige spielten auch hier die Kadetten, die Versöhnler die Begleitung.

Die neue Macht konnte natürlicherweise den widerlichen Knäuel mittelalterlicher Verhöhnung der Fremdstämmigen nicht unangetastet lassen. Doch hoffte und versuchte sie, sich lediglich auf die Abschaffung von Ausnahmegesetzen gegen einzelne Nationen zu beschränken, das heißt auf die Herstellung der bloßen Gleichheit aller Teile der Bevölkerung vor der großrussischen Staatsbürokratie.

Die formelle Gleichberechtigung brachte am meisten den Juden ein: die Zahl der ihre Rechte einschränkenden Gesetze betrug sechshundertundfünfzig. Außerdem konnten die Juden, als eine rein städtische und verstreutere Nationalität, weder Anspruch erheben auf staatliche Selbständigkeit noch auf territoriale Autonomie. Was den Plan einer sogenannten „national-kulturellen Autonomie“ betrifft, die die Juden des ganzen Landes um Schulen und andere Institutionen vereinigen sollte, so zerrann diese von verschiedenen jüdischen Gruppen dem österreichischen Theoretiker Otto Bauer entlehnte reaktionäre Utopie mit dem ersten Tage der Freiheit wie Wachs unter Sonnenstrahlen.

Doch ist die Revolution gerade deshalb Revolution, weil sie sich nicht mit Almosen und Ratenzahlungen begnügt. Die Beseitigung der beschämendsten Beschränkungen brachte die formelle Gleichberechtigung der Bürger unabhängig von ihrer Nationalität; aber um so schärfer enthüllte sie die fehlende Gleichberechtigung der Nationen selbst, die sie zum größten Teil in der Lage von Stief- und Pflegekindern des großrussischen Staates beließ.

Die bürgerliche Gleichberechtigung brachte vor allem nichts den Finnen, die nicht Gleichstellung mit den Russen anstrebten, sondern Unabhängigkeit von Rußland. Sie brachte nichts Neues den Ukrainern ein, die auch früher keine Einschränkungen gekannt hatten, weil man sie zwangsweise für Russen erklärte. Sie änderte nichts an der Lage der von deutschem Gutshof und deutsch-russischer Stadt bedrückten Letten und Esten. Sie erleichterte nicht das Schicksal der rückständigen Völker und Stämme Asiens, die nicht durch juristische Beschränkungen, sondern durch die Ketten des ökonomischen und kulturellen Joches am Boden der Rechtlosigkeit gehalten wurden. Alle diese Fragen wollte die liberal-versöhnlerische Koalition nicht einmal anschneiden. Der demokratische Staat blieb der gleiche Staat des großrussischen Beamten, der keinerlei Anstalten trat, seinen Platz an jemand abzutreten.

Je tiefere Massen die Revolution in den Randgebieten erfaßte, um so krasser zeigte sich, daß die Staatssprache dort die Sprache der besitzenden Klassen war. Das Regime der formalen Demokratie, mit Presse- und Versammlungsfreiheit, ließ die rückständigen und unterdrückten Nationalitäten noch schmerzlicher empfinden, wie sehr sie der elementarsten Mittel kultureller Entwicklung beraubt waren: eigener Schulen, eigener Gerichte, eigenen Beamtentums. Die Hinweise auf die künftige Konstituierende Versammlung reizten nur: in dieser Versammlung würden ja doch die gleichen Parteien herrschen, die die Provisorische Regierung geschaffen haben, und fortfahren, die Traditionen der Russifizierung zu verteidigen, mit eifriger Gier jene Grenze offenbarend, über die die regierenden Klassen nicht hinausgehen wollen.

Finnland ward sogleich ein Splitter im Körper des Februarregimes. Dank der Schärfe der Agrarfrage, die in Finnland eine Frage der kleinen, in leibeigener Hörigkeit stehenden Pächter war (der Torpars), führten die Industriearbeiter, die insgesamt 14 Prozent der Bevölkerung ausmachten, das Dorf hinter sich. Der finnländische Sejm war das einzige Parlament der Welt, wo die Sozialdemokratie die Mehrheit erlangt hatte: 103 von 200 Sitzen. Nachdem sie durch das Gesetz vom 5. Juni den Sejm für souverän erklärt hatte, ausgenommen in Fragen der Armee und der Außenpolitik, wandte sich die finnländische Sozialdemokratie „an die Bruderparteien Rußlands“ um Beistand. Der Appell aber war an eine ganz falsche Adresse gerichtet. Die Provisorische Regierung trat anfangs beiseite und überließ es den „Bruderparteien“, zu handeln. Eine Ermahnungsdelegation mit Tschcheidse an der Spitze kehrte aus Helsingfors unverrichteter Dinge zurück. Nun beschlossen die sozialistischen Minister Petrograds Kerenski, Tschernow, Skobeljew, Zeretelli, die sozialistische Regierung in Helsingfors gewaltsam zu liquidieren. Der Generalstabschef des Hauptquartiers, Monarchist Lukomski, warnte die Zivilbehörden und die Bevölkerung Finnlands, daß „ihre Städte und in erster Reihe Helsingfors vernichtet werden würden im Falle irgendeines Vorgehens gegen die russische Armee“. Nach solcher Einleitung löste die Regierung durch ein feierliches Manifest, das sogar in stilistischer Hinsicht ein Plagiat an der Monarchie war, den Sejm auf und stellte am Tage des Beginns der Offensive an der Front vor die Tore des finnländischen Parlaments aus der Front herausgezogene russische Soldaten. So bekamen die revolutionären Massen Rußlands auf dem Wege zum Oktober keine üble Lektion hinsichtlich dessen, welch bedingten Platz die Prinzipien der Demokratie im Kampfe der Klassenkräfte einnehmen.

Angesichts der nationalistischen Zügellosigkeit der Regierenden nahmen die revolutionären Truppen in Finnland eine würdige Position ein. Der in der ersten Septemberhälfte in Helsingfors tagende Distriktkongreß der Sowjets erklärte: „Sollte es die finnländische Demokratie als notwendig erachten, die Tagung des Sejm wieder aufzunehmen, wird der Kongreß jeden Versuch, dies zu verhindern, als konterrevolutionären Akt betrachten.“ Das bedeutete ein direktes Angebot militärischer Hilfe. Aber den Weg des Aufstandes zu betreten, dazu war die finnländische Sozialdemokratie, in der versöhnlerische Tendenzen überwogen, nicht geneigt. Neuwahlen, die unter Androhung einer abermaligen Auflösung erfolgten, sicherten den bürgerlichen Parteien, mit deren Zustimmung die Regierung den Sejm aufgelöst hatte, eine kleine Mehrheit: 108 von 200.

Nun aber rücken auf den ersten Platz innere Fragen, die in dieser Schweiz des Nordens, dem Lande der Granitberge und habgierigen Besitzer, unabwendbar zum Bürgerkrieg führen. Die finnländische Bourgeoisie bereitet halboffen ihre Militärkader vor. Gleichzeitig werden geheime Zellen der Roten Armee geschaffen. Die Bourgeoisie wendet sich um Waffen und Instrukteure an Schweden und Deutschland. Die Arbeiterschaft findet Unterstützung bei den russischen Truppen. Zugleich verstärkt sich in den bürgerlichen Kreisen, gestern noch zu Verständigung mit Petrograd geneigt, die Bewegung für vollständige Lostrennung von Rußland. Die führende Zeitung Huvudstatsbladet schrieb: „Das russische Volk ist von anarchistischer Zügellosigkeit besessen ... Müssen wir nicht unter diesen Umständen ... uns gegen dieses Chaos möglichst abgrenzen?“ Die Provisorische Regierung sah sich gezwungen, auf Konzessionen einzugehen, ohne die Konstituierende Versammlung abzuwarten: Am 23. Oktober wurden „im Prinzip“ die Leitsätze über die Unabhängigkeit Finnlands, ausgenommen in militärischen und außenpolitischen Angelegenheiten, beschlossen. Doch die „Unabhängigkeit“ aus Kerenskis Händen war nicht mehr viel wert: bis zu seinem Sturze blieben zwei Tage.

Ein zweiter, unvergleichlich gewaltigerer Splitter wurde die Ukraine. Anfang Juni verbot Kerenski den von der Rada einberufenen ukrainischen Armeekongreß. Die Ukrainer unterwarfen sich nicht. Um das Ansehen der Regierung zu retten, legalisierte Kerenski nachträglich den Kongreß und schickte ein vielverheißendes Telegramm, das von den Versammelten mit unehrerbietigem Lachen aufgenommen wurde. Die bittere Erfahrung hinderte Kerenski nicht, drei Wochen später den muselmanischen Militärkongreß in Moskau zu verbieten. Die demokratische Regierung hatte es anscheinend eilig, den unzufriedenen Nationen zu suggerieren: Ihr bekommt nur, was ihr entreißt.

In ihrem am 10. Juni erschienenen ersten Universal klagte die Rada Petrograd des Widerstandes gegen die nationale Selbständigkeit an und verkündete: „Von nun an werden wir uns unser Leben selbst gestalten.“ Die ukrainischen Führer wurden von den Kadetten wie deutsche Agenten behandelt. Die Versöhnler wandten sich an die Ukrainer mit sentimentalen Ermahnungen. Die Provisorische Regierung entsandte nach Kiew eine Delegation. In der erhitzten ukrainischen Atmosphäre waren Kerenski, Zeretelli und Tereschtschenko gezwungen, der Rada einige Schritte entgegenzukommen. Aber nach der Juliniederschlagung der Arbeiter und Soldaten drehte die Regierung auch in der ukrainischen Frage das Steuer nach rechts. Am 5. August beschuldigte die Rada mit erdrückender Stimmenmehrheit die Regierung, sie habe, „durchdrungen von imperialistischen Tendenzen der russischen Bourgeoisie“, das Abkommen vom 3. Juli verletzt. „Als die Regierung ihren Wechsel einlösen sollte“, erklärte das Haupt der ukrainischen Regierung, Winnitschenko, „stellte sich heraus, daß die Provisorische Regierung ein kleiner Mogler ist, der durch einen Gaunertrick ein großes historisches Problem beseitigen wollte.“ Diese unzweideutige Sprache charakterisiert zur Genüge die Autorität der Regierung sogar in jenen Kreisen, die ihr politisch nahestehen mußten: Letzten Endes unterschied sich der ukrainische Versöhnler Winnitschenko von Kerenski nur so, wie sich ein mittelmäßiger Romancier von einem mittelmäßigen Advokaten unterscheidet.

Allerdings veröffentlichte die Regierung schließlich im September eine Urkunde, die den Nationalitäten Rußlands das Recht auf „Selbstbestimmung“ – in den von der Konstituierenden Versammlung festzulegenden Grenzen – zuerkannte. Aber dieser durch nichts garantierte und innerlich widerspruchsvolle, in allem, außer in seinen Einschränkungen, höchst unbestimmte Wechsel auf die Zukunft flößte niemand Vertrauen ein: Die Taten der Provisorischen Regierung schrien schon zu laut gegen sie.

Am 2. September beschloß der Senat, der gleiche, der zu seinen Sitzungen neue Mitglieder nicht ohne die alte Uniform zulassen wollte, die Veröffentlichung der von der Regierung bestätigten Instruktion an das ukrainische Generalsekretariat, das heißt an das Kiewer Ministerkabinett, zu verweigern. Begründung: über ein Sekretariat existiere kein Gesetz, einer illegalen Institution aber dürfe man keine Instruktionen erteilen. Die hervorragenden Juristen verheimlichten nicht, daß das ganze Abkommen der Regierung mit der Rada eine Usurpation der Rechte der Konstituierenden Versammlung sei: unbeugsamste Anhänger der reinen Demokratie waren inzwischen die zaristischen Senatoren geworden. Indem sie so viel Mut an den Tag legten, riskierten die Oppositionellen von rechts durchaus nichts: sie wußten; daß ihre Opposition den Regierern aus der Seele gesprochen war. Wenn sich die russische Bourgeoisie abzufinden vermochte mit einer gewissen Selbständigkeit Finnlands, das mit Rußland nur durch schwache ökonomische Bande verknüpft war, so konnte sie sich jedoch niemals einverstanden erklären mit der „Autonomie“ des ukrainischen Getreides, der Donezkohle und des Kriworoger Eisenerzes.

Am 19. Oktober befahl Kerenski telegraphisch den Generalsekretären der Ukraine, „unverzüglich nach Petrograd abzureisen zur persönlichen Aussprache“ über die von ihnen eingeleitete verbrecherische Agitation für eine Ukrainische Konstituierende Versammlung. Gleichzeitig wurde der Kiewer Staatsanwaltschaft nahegelegt, ein Verfahren gegen die Rada zu eröffnen. Doch die Donner an die Adresse der Ukraine schreckten genau so wenig, wie die Gnadenerweisungen an die Adresse Finnlands erfreuten.

Die ukrainischen Versöhnler fühlten sich zu dieser Zeit noch viel sicherer als ihre älteren Vettern in Petrograd. Außer der günstigen Atmosphäre, mit der sie der Kampf für nationale Rechte umgab, hatte die verhältnismäßige Stabilität der kleinbürgerlichen Parteien der Ukraine wie einer Reihe anderer unterdrückten Nationalitäten ökonomische und soziale Wurzeln, die man mit einem Worte bezeichnen kann: Rückständigkeit. Trotz der schnellen industriellen Entwicklung der Donez- und Kriworoger Becken stand die Ukraine im allgemeinen noch hinter Großrußland zurück, das ukrainische Proletariat war uneinheitlicher und ungestählter, die bolschewistische Partei blieb dort quantitativ und qualitativ schwach, trennte sich nur langsam von den Menschewiki, fand sich schwer zurecht in der politischen und besonders der nationalen Situation. Sogar in der industriellen Ost-Ukraine ergab die Distriktkonferenz der Sowjets Mitte Oktober noch immer eine kleine Versöhnlermehrheit!

Verhältnismäßig noch schwächer war die ukrainische Bourgeoisie. Einer der Gründe für die mangelnde soziale Stabilität der russischen Bourgeoisie als Ganzes bestand, wie wir uns erinnern, darin, daß ihren mächtigsten Teil Ausländer bildeten, die nicht einmal in Rußland lebten. In den Randgebieten wurde diese Tatsache durch eine andere, nicht weniger wichtige ergänzt: die eigene, die einheimische Bourgeoisie gehörte nicht der gleichen Nationalität an wie die Hauptmasse des Volkes.

Die Stadtbevölkerung in den Randgebieten unterschied sich in nationaler Hinsicht überall von der Landbevölkerung. In der Ukraine und in Weißrußland waren Gutsbesitzer, Kapitalist, Advokat, Journalist – Großrusse, Pole, Jude, Ausländer; die Landbevölkerung hingegen bestand durchweg aus Ukrainern und Weißrussen. In den Ostseeprovinzen waren die Städte Herde der deutschen, russischen und jüdischen Bourgeoisie; das Land war durchweg lettisch oder estnisch. In den Städten Georgiens überwog die russische und armenische Bevölkerung, ebenfalls im turkmenischen Aserbeidjan. Von der Kernmasse des Volkes nicht nur durch Lebensniveau und Sitten getrennt, sondern auch durch die Sprache, etwa wie die Engländer in Indien; den Schutz ihrer Güter und Einkünfte dem bürokratischen Apparat verdankend; unzertrennlich verbunden mit den herrschenden Klassen des gesamten Landes, gruppierten Gutsbesitzer, Industrielle und Kaufleute in den Randgebieten um sich einen kleinen Kreis aus russischen Beamten, Angestellten, Lehrern, Ärzten, Advokaten, Journalisten, teils auch Arbeitern und verwandelten die Städte in Herde der Russifizierung und Kolonisierung.

Man konnte das Dorf übergehen, solange es schwieg. Aber auch nachdem es immer ungeduldiger seine Stimme zu erheben begann, fuhr die Stadt fort, beharrlich Widerstand zu leisten und ihre privilegierte Lage zu verteidigen. Beamter, Kaufmann, Advokat lernten bald, ihren Kampf um die Kommandohöhen der Wirtschaft und Kultur hinter der hochmütigen Verurteilung des erwachenden „Chauvinismus“ zu verbergen. Das Bestreben einer herrschenden Nation, den Status quo aufrechtzuerhalten, wird nicht selten in die Farbe des Übernationalismus getaucht, wie das Bestreben eines siegreichen Landes, das Geraubte festzuhalten, leicht die Form Von Pazifismus annimmt. So fühlt sich Macdonald vor Gandhi als Internationalist. So erscheint Poincaré das Streben der Österreicher zu Deutschland als Verletzung des französischen Pazifismus.

„Die in den Städten der Ukraine lebenden Menschen“, schrieb im Mai eine Delegation der Kiewer Rada an die Provisorische Regierung, „vor sich sehend die russifizierten Straßen dieser Städte ..., vergessen völlig, daß diese Städte nur kleine Inselchen im Meere des gesamten ukrainischen Volkes sind.“ Wenn Rosa Luxemburg, in ihrer posthumen Polemik gegen das Programm der Oktoberumwälzung, behauptet, der ukrainische Nationalismus, früher nur „Schrulle“ eines Dutzend kleinbürgerlicher Intellektueller, sei künstlich aufgegangen auf der Hefe der bolschewistischen Formel vom Selbstbestimmungsrecht, so war sie trotz ihrem hellen Kopfe schwerstem historischem Irrtum verfallen: die ukrainische Bauernschaft hatte in der Vergangenheit aus dem Grunde nationale Forderungen nicht erhoben, aus dem sie sich überhaupt nicht bis zur Politik erhoben hatte. Das Hauptverdienst der Februarumwälzung, vielleicht das einzige, aber völlig hinreichende, bestand gerade darin, daß es den unterdrücktesten Klassen und Nationalitäten Rußlands endlich die Möglichkeit gegeben hatte, laut ihre Stimme zu erheben. Das politische Erwachen der Bauernschaft konnte aber, nicht anders vor sich gehen als vermittels der eigenen Sprache mit allen sich daraus ergebenden Folgerungen in bezug auf Schule, Gericht, Selbstverwaltung. Sich dem zu widersetzen, hätte den Versuch bedeutet, die Bauernschaft in das Nichtsein zurückzustoßen.

Die nationale Verschiedenheit von Stadt und Land äußerte sich empfindlich auch durch die Sowjets als vorwiegend städtische Organisationen. Unter Führung der Versöhnlerparteien ignorierten die Sowjets in der Regel die nationalen Interessen der Stammbevölkerung. Das war einer der Gründe für die Schwäche der ukrainischen Sowjets. Die Sowjets in Riga und Reval dachten nicht an die Interessen der Letten und Esten. Der Versöhnlersowjet in Baku vernachlässigte die Interessen der turkmenischen Stammbevölkerung. Unter falscher Flagge des Internationalismus führten die Sowjets nicht selten einen Kampf gegen den defensiven ukrainischen oder muselmanischen Nationalismus und deckten die unterdrückenden Russifizierungsmethoden der Städte. Es wird nicht wenig Zeit vergehen, auch unter der Herrschaft der Bolschewiki, bis die Sowjets der Randgebiete gelernt haben, die Sprache des Dorfes zu sprechen.

Die durch Natur und Ausbeutung niedergehaltenen Fremdstämmigen Sibiriens verhinderte ihre ökonomische und kulturelle Primitivität überhaupt, sich auf jene Stufe zu erheben, wo nationale Ansprüche beginnen. Wodka, Fiskus und aufgezwungene Orthodoxie waren hier von altersher Haupthebel des Staatsprinzips. Jene Krankheit, die die Italiener die französische und die Franzosen die neapolitanische nennen, hieß bei den sibirischen Völkern die russische: das zeigt, aus welchen Quellen die Samen der Zivilisation flossen. Die Februarrevolution war nicht bis hierher vorgedrungen. Noch lange werden die Jäger und Renntierzüchter der Polarebene auf einen Lichtschimmer warten müssen.

Die Völker und Stämme an der Wolga, im Nordkaukasus und in Zentralasien, durch die Februarumwälzung zum ersten Male aus ihrem prähistorischen Dasein erwacht, hatten weder eine nationale Bourgeoisie noch ein Proletariat gekannt. Über den Bauern- oder Hirtenmassen lagerte sich aus deren obersten Schichten eine dünne Zwischenschicht Intellektueller ab. Bevor man zum Programm der nationalen Selbstverwaltung aufsteigen konnte, wurde hier der Kampf geführt um die Fragen des eigenen Alphabets, eigenen Lehrers, mitunter – des eigenen Geistlichen. Diese – am meisten Unterdrückten mußten sich durch bittere Erfahrung überzeugen, daß die aufgeklärten Herren des Staates ihnen nicht freiwillig erlauben würden, sich hochzurichten. Die Rückständigsten der Rückständigen waren gezwungen, die revolutionärste Klasse als Verbündeten zu suchen. So bahnten sich mittels der linken Elemente ihrer jungen Intelligenz die Wotjaken, Tschuwaschen, Syrjanen, die Völker Dagestans und Turkestans Wege zum Bolschewismus.

Die Bestimmung der Kolonialbesitzungen, besonders in Zentralasien, veränderte sich zusammen mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Zentrums, das von direktem und offenem Raub, auch auf dem Handelsgebiete, zu verschleierteren Methoden überging, indem die asiatischen Bauern in Lieferanten industriellen Rohstoffs, hauptsächlich der Baumwolle, verwandelt wurden. Die hierarchisch organisierte Ausbeutung, die die Barbarei des Kapitalismus mit der Barbarei des patriarchalischen Gemeinwesens verband, hielt erfolgreich die asiatischen Völker in äußerster nationaler Demütigung. Das Februarregime hatte hier alles beim alten gelassen.

Die unter dem Zarismus den Baschkiren, Burjaten, Kirgisen und anderen Nomaden weggenommenen besseren Landstriche blieben in den Händen der Gutsbesitzer und reichen russischen Bauern, angesiedelt als kolonisatorische Oasen unter der einheimischen Bevölkerung. Das Erwachen des Geistes nationaler Unabhängigkeit bedeutete hier vor allem Kampf gegen die Kolonisatoren, die ein künstliches System von Streuländern geschaffen und die Nomaden zu Hunger und Aussterben verurteilt hatten. ihrerseits verteidigten die Eingewanderten wütend die Einheit Rußlands gegen den „Separatismus“ der Asiaten, das heißt: die Unantastbarkeit ihres Raubes. Der Haß der Kolonisatoren gegen die Bewegung der Eingeborenen nahm zoologische Formen an. In Transbaikalien gingen unter Volldampf Vorbereitungen zu Burjatenpogromen unter Leitung von März-Sozialrevolutionären, die sich aus Gemeindeschreibern und von der Front zurückgekehrten Unteroffizieren rekrutierten.

In ihrem Bestreben, solange wie möglich die alte Ordnung aufrechtzuerhalten, appellierten alle Ausbeuter und Unterdrücker in den kolonisierten Gebieten von nun an an die souveränen Rechte der Konstituierenden Versammlung: mit dieser Phraseologie rüstete sie die Provisorische Regierung aus, die in ihnen die beste Stütze fand. Andererseits riefen auch die privilegierten Spitzen der unterdrückten Völker immer häufiger den Namen der Konstituierenden Versammlung an. Sogar die muselmanische Geistlichkeit, die über die erwachten Bergvölker und -stämme des Nordkaukasus das grüne Banner Mohammeds erhoben hatte, bestand in allen Fällen, wo der Druck von unten sie in schwierige Lage brachte, auf Vertagung der Frage „bis zur Konstituierenden Versammlung“. Das wurde die Losung von Konservativismus, Reaktion, eigennützigen Interessen und Privilegien in allen Teilen des Landes. Die Appellation an die Konstituierende Versammlung bedeutete: hinziehen und Zeit gewinnen. Das Hinziehen bedeutete: Kräfte sammeln und die Revolution erdrosseln.

In die Hände der Geistlichkeit oder der feudalen Aristokratie geriet jedoch die Führung nur in der ersten Zeit, nur bei den rückständigen Völkern, fast nur bei den Muselmanen. Im allgemeinen vertraten die nationale Bewegung auf dem Lande begreiflicherweise Dorflehrer, Gemeindeschreiber, untere Beamte und Offiziere, zum Teil Kaufleute. Neben der russischen oder russifizierten Intelligenz aus den solideren und gesicherten Elementen entstand in den Randstädten bereits eine andere Schicht, eine jüngere, durch Abstammung mit dem Dorfe eng verbunden, die keinen Zutritt zum Tische des Kapitals hatte und naturgemäß die politische Vertretung der nationalen, teils auch der sozialen Interessen der bäuerlichen Kernmasse übernahm.

Den russischen Versöhnlern auf der Linie nationaler Ansprüche feindlich gegenüberstehend, gehörten die Versöhnler der Randgebiete zum gleichen Grundtypus und trugen in den meisten Fällen sogar die gleichen Bezeichnungen. Ukrainische Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten, georgische und lettische Menschewiki, litauische „Trudowiki“ waren, gleich ihren großrussischen Namensvettern, bestrebt, die Revolution im Rahmen des bürgerlichen Regimes festzuhalten. Aber die äußerste Schwäche der einheimischen Bourgeoisie zwang Menschewiki und Sozialrevolutionäre, hier nicht in eine Koalition zu gehen, sondern die Staatsmacht in die eigenen Hände zu nehmen. Genötigt, auf dem Gebiete der Agrar- und Arbeiterfrage weiterzugehen als die Zentralmacht, waren die Versöhnler der Randgebiete im Vorteil, da sie in Armee und Land als Gegner der Provisorischen Koalitionsregierung auftraten. Das alles genügte, wenn nicht, um im Schicksal der russischen Versöhnler und der der Randgebiete einen Unterschied zu schaffen, so doch, um den Unterschied im Tempo ihres Aufstiegs und Niedergangs zu bestimmen.

Die georgische Sozialdemokratie führte hinter sich nicht nur die bettelarme Bauernschaft des kleinen Georgiens, sondern sie erhob auch, nicht ohne gewissen Erfolg, Anspruch auf Führung der „revolutionären Demokratie“ ganz Rußlands. In den ersten Revolutionsmonaten betrachteten die Spitzen der georgischen Intelligenz Georgien nicht als nationales Vaterland, sondern als die Gironde, die gesegnete Südprovinz, berufen, das ganze Land mit Führern zu versorgen. In der Moskauer Staatsberatung rühmte sich einer der angesehenen georgischen Menschewiki, Tschchenkeli, damit, daß die Georgier sogar unter dem Zarismus im Glück und Unglück zu sagen pflegten: „das einige Vaterland – Rußland“.

„Was ist von der georgischen Nation zu sagen?“ fragte der gleiche Tschchenkeli einen Monat später in der Demokratischen Beratung. „Sie steht völlig zu Diensten der großen russischen Revolution.“ Und in der Tat: die georgischen Versöhnler, wie auch die jüdischen, waren stets der großrussischen Bürokratie „zu Diensten“, wenn es hieß, die nationalen Ansprüche einzelner Gebiete zu mäßigen oder zu bremsen.

Das ging jedoch nur so lange, wie die georgischen Sozialdemokraten die Hoffnung nicht aufgegeben hatten, die Revolution im Rahmen der bürgerlichen Demokratie festzuhalten. Je mehr aber die Gefahr des Sieges der vom Bolschewismus geführten Massen in Erscheinung trat, um so mehr lockerte die georgische Sozialdemokratie ihre Beziehungen zu den russischen Versöhnlern und verband sich um so enger mit den reaktionären Elementen Georgiens. Im Augenblick des Sieges der Sowjets werden die georgischen Anhänger des einigen Rußland Verkünder des Separatismus und zeigen den übrigen Völkern Transkaukasiens die gelben Stoßzähne des Chauvinismus.

Die unvermeidliche nationale Maskierung der sozialen Gegensätze, nach der allgemeinen Regel in den Randgebieten ohnehin nicht so stark entwickelt, erklärt zur Genüge, weshalb die Oktoberumwälzung bei den meisten unterdrückten Nationalitäten auf größeren Widerstand stoßen mußte als in Zentralrußland. Dafür aber erschütterte der nationale Kampf an sich grausam das Februarregime und schuf für die Umwälzung im Zentrum eine hinlänglich günstige politische Peripherie.

In jenen Fällen, wo sie sich mit den Klassengegensätzen deckten, erhielten die nationalen Antagonismen besondere Schärfe. Die alte Feindschaft zwischen der lettischen Bauernschaft und den deutschen Baronen stieß zu Beginn des Krieges viele Tausende werktätiger Letten auf den Weg der Kriegsfreiwilligen. Die Schützenregimenter aus lettischen Landarbeitern und Bauern gehörten zu den besten an der Front. Doch traten sie bereits im Mai für die Macht der Sowjets auf. Der Nationalismus erwies sich nur als Hülle eines unreifen Bolschewismus. Ein gleichartiger Prozeß vollzog sich auch in Estland.

In Weißrußland mit seinen polnischen oder polonisierten Gutsbesitzern, seiner jüdischen Stadt- und Kleinstadtbevölkerung und der russischen Beamtenschaft lenkte die doppelt und dreifach unterdrückte Bauernschaft unter Einfluß der nahen Front bereits vor dem Oktober ihre nationale und soziale Empörung in das Flußbett des Bolschewismus. Bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung wird die erdrückende Masse der weißrussischen Bauern für die Bolschewiki stimmen.

Alle diese Prozesse, in denen sich erwachte nationale Würde mit sozialer Empörung verband, diese bald zurückdrängend, bald in den Vordergrund schiebend, fanden schärfsten Ausdruck in der Armee, wo fieberhaft nationale Regimenter gebildet wurden, die je nach ihrem Verhalten zu Krieg und Bolschewiki von der Zentralmacht begünstigt, geduldet oder verfolgt waren, sich aber im allgemeinen immer feindlicher gegen Petrograd wandten.

Lenin hielt unbeirrt die Hand am „nationalen“ Puls der Revolution. In dem berühmten Artikel „Die Krise ist reif“ verwies er Ende September beharrlich darauf, daß die nationale Kurie der Demokratischen Beratung „in bezug auf Radikalismus auf den zweiten Platz rückt, nur den Gewerkschaften nachsteht und hinsichtlich des Prozentsatzes der gegen die Koalition abgegebenen Stimmen (vierzig von fünfundfünfzig) die Kurie der Sowjets übertrifft“. Das bedeutete: von der großrussischen Bourgeoisie erwarteten die unterdrückten Nationalitäten nichts Gutes mehr. Immer häufiger gingen sie daran, ihre Rechte eigenmächtig zu verwirklichen, stückweise, auf dem Wege revolutionärer Enteignungen.

Auf dem Oktoberkongreß der Burjaten im fernen Werchneudinsk erklärte der Berichterstatter: an der Lage der Fremdvölker „hat die Februarrevolution nichts geändert“. Ein solches Fazit zwang, wenn nicht sogleich auf die Seite der Bolschewiki zu treten, so doch mindestens ihnen gegenüber immer freundschaftlichere Neutralität zu wahren.

Der allukrainische Armeekongreß, der während des Petrograder Aufstandes tagte, beschloß, gegen die Forderung der Machtübergabe an die Sowjets in der Ukraine zu kämpfen, lehnte aber gleichzeitig ab, den Aufstand der großrussischen Bolschewiki „als antidemokratische Handlungsweise“ zu betrachten, und versprach, alle Mittel anzuwenden, damit Truppen zur Unterdrückung des Aufstandes nicht entsandt werden. Diese Zwiespältigkeit, die am besten das kleinbürgerliche Stadium des nationalen Kampfes charakterisiert, erleichterte die Revolution des Proletariats, die daran war, aller Zwiespältigkeit ein Ende zu machen.

Andererseits verfielen in den Randgebieten jetzt die bürgerlichen Kreise, die stets und unablässig zur Zentralmacht geneigt hatten, in Separatismus, hinter dem in vielen Fällen nicht einmal mehr der Schatten einer nationalen Basis war. Die gestern noch hurrapatriotische Bourgeoisie der Ostseeprovinzen, nach den deutschen Baronen Romanows beste Stütze, trat im Kampf gegen das bolschewistische Rußland und die eigenen Massen unter das Banner des Separatismus. Auf diesem Gebiete entstanden noch wunderlichere Erscheinungen. Am 20. Oktober wurde der Grund gelegt zu einem neuen Staatsgebilde, dem „Südöstlichen Verband der Kosakenheere, der Bergbewohner des Kaukasus und der freien Völkerschaften der Steppen“. Die Spitzen des Doner, Kubaner, Tereker und Astrachaner Kosakentums, einst wichtigste Stütze des zaristischen Zentralismus, verwandelten sich innerhalb weniger Monate in eifrige Verfechter der Föderation und vereinigten sich auf diesem Boden mit den Führern der muselmanischen Berg- und Steppenbewohner. Die Scheidewände des föderativen Regimes sollten die Barriere bilden gegen die vom Norden kommende bolschewistische Gefahr. Bevor er jedoch die wichtigen Sammelpunkte des Bürgerkrieges gegen die Bolschewiki schuf, richtete sich der konterrevolutionäre Separatismus unmittelbar gegen die regierende Koalition, die er demoralisierte und schwächte. So zeigte neben den anderen Problemen auch das nationale der Provisorischen Regierung das Medusenhaupt, auf dem sich jedes Haar der März- und Aprilhoffnungen in eine Schlange von Haß und Empörung verwandelt hatte.

Die bolschewistische Partei hat durchaus nicht sogleich nach der Umwälzung in der nationalen Frage jene Position eingenommen, die ihr letzten Endes den Sieg sicherte. Das bezieht sich nicht nur auf die Randgebiete mit schwachen und unerfahrenen Parteiorganisationen, sondern auch auf das Petrograder Zentrum. In den Kriegsjahren war die Partei derart geschwächt, das theoretische und politische Niveau der Kader derart gesunken, daß die offizielle Leitung in der nationalen Frage vor Lenins Ankunft eine äußerst wirre und durch Halbheit gekennzeichnete Position einnahm.

Allerdings vertraten die Bolschewiki der Tradition entsprechend in alter Weise das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung. Doch diese Formel wurde in Worten auch von den Menschewiki anerkannt: der Text des Programms war noch immer gemeinsam. Entscheidende Bedeutung hatte aber die Frage der Macht. Indes waren die zeitweiligen Parteiführer völlig unfähig, den unversöhnlichen Antagonismus zu begreifen zwischen den bolschewistischen Parolen in der nationalen wie in der Agrarfrage und der Aufrechterhaltung des bürgerlich-imperialistischen, wenn auch von demokratischen Formen verdeckten Regimes.

Den vulgärsten Ausdruck fand die demokratische Position unter Stalins Feder. Am 25. März versucht Stalin in einem dem Regierungsdekret über Abschaffung nationaler Beschränkungen gewidmeten Artikel, die nationale Frage im historischen Ausmaße zu stellen. „Die soziale Basis der nationalen Unterdrückung“, schreibt er, „die sie beseelende Kraft, ist die absterbende Landaristokratie.“ Darauf, daß die nationale Unterdrückung eine unerhörte Entwicklung in der Epoche des Kapitalismus erreicht und ihren barbarischsten Ausdruck in der Kolonialpolitik gefunden hat, verfällt der demokratische Autor scheinbar überhaupt nicht. „In England“, fährt er fort, „wo die Landaristokratie die Macht mit der Bourgeoisie teilt, wo die unbegrenzte Herrschaft dieser Aristokratie längst nicht mehr existiert, – ist der nationale Druck milder, weniger unmenschlich, wenn man natürlich die Tatsache außer acht läßt [?], daß im Verlauf des Krieges, wo die Macht in die Hände der Landlords [!] überging, die nationale Unterdrückung sich verstärkte (Verfolgung der Irländer, Inder).“ An der Unterdrückung der Irländer und Inder, stellt sich heraus, sind die Landlords schuld, die wohl in der Person Lloyds Georges dank dem Kriege sich die Macht angeeignet hatten. „... In der Schweiz und Nordamerika“, fährt Stalin fort, „wo es einen Landlordismus nicht gibt und nicht gegeben hat [?], wo die Macht sich ungeteilt in den Händen der Bourgeoisie befindet, entwickeln sich die Nationalitäten frei, eine nationale Unterdrückung hat hier, allgemein gesprochen, keinen Platz ...“ Der Autor vergißt ganz die Neger- und die Kolonialfrage in den Vereinigten Staaten.

Aus dieser hoffnungslos provinziellen Analyse, die sich in wirrer Gegenüberstellung von Feudalismus und Demokratie erschöpft, ergeben sich rein liberale politische Schlußfolgerungen. „Von der politischen Bühne die feudale Aristokratie absetzen, ihr die Macht entreißen, – das gerade heißt, die nationale Unterdrückung liquidieren, faktische, für die nationale Freiheit erforderliche Bedingungen schaffen. – Insoweit die russische Revolution gesiegt hat“, schreibt Stalin, „hat sie diese faktischen Bedingungen bereits geschaffen.“ Wir haben hier vor uns vielleicht eine noch prinzipiellere Verteidigung der imperialistischen „Demokratie“ als alles, was zu diesem Thema in jenen Tagen von den Menschewiki geschrieben wurde. Wie Stalin nach Kamenjew in der Außenpolitik hoffte, durch Arbeitsteilung mit der Provisorischen Regierung zu einem demokratischen Frieden zu gelangen, so fand er in der Innenpolitik der Demokratie des Fürsten Lwow die „faktischen Bedingungen“ der nationalen Freiheit.

In Wirklichkeit offenbarte der Sturz der Monarchie zum ersten Male vollständig, daß nicht nur die reaktionären Gutsbesitzer, sondern die gesamte liberale Bourgeoisie und nach ihr die gesamte kleinbürgerliche Demokratie, zusammen mit der patriotischen Spitze der Arbeiterklasse, unversöhnliche Gegner der wirklichen nationalen Gleichberechtigung waren, das heißt der Abschaffung der Privilegien der herrschenden Nation: ihr gesamtes Programm lief auf Milderung, kulturelle Politur und demokratische Verhüllung der großrussischen Vorherrschaft hinaus.

Auf der Aprilkonferenz ging Stalin, die Leninsche Resolution über die Nationalfrage verteidigend, formell bereits davon aus, daß „die nationale Unterdrückung jenes Systems ...,jene Maßnahmen sind ..., die von den imperialistischen Kreisen durchgeführt werden“, doch unvermeidlich verirrt er sich sogleich wieder in seine Märzposition. „Je demokratischer ein Land ist, um so schwächer die nationale Unterdrückung, und umgekehrt“, das ist die eigene, nicht Lenin entnommene Abstraktion des Redners. Die Tatsache, daß das demokratische England das feudale Kasten-Indien unterdrückt, verschwindet wieder aus seinem beschränkten Gesichtsfeld. „Zum Unterschiede von Rußland, wo die „alte Landaristokratie“ herrschte“, fährt Stalin fort, „hat in England und Österreich-Ungarn die nationale Unterdrückung niemals Pogromformen angenommen.“ Als habe in England „niemals“ die Landaristokratie geherrscht, oder als herrsche sie in Ungarn nicht bis auf den heutigen Tag! Der kombinierte Charakter der geschichtlichen Entwicklung, die „Demokratie“ mit Erdrosselung schwacher Nationen vereinigt, blieb für Stalin ein Buch mit sieben Siegeln.

Daß Rußland sich als Nationalitätenstaat herausbildete, ist die Folge seiner historischen Verspätung. Aber diese Verspätung ist ein komplizierter und unentrinnbar widerspruchsvoller Begriff. Ein rückständiges Land folgt keinesfalls dem fortgeschrittenen Lande auf den Fersen, dabei stets die gleiche Distanz zu diesem wahrend. In der Epoche der Weltwirtschaft überspringen rückständige Nationen, während sie unter dem Druck der fortgeschrittenen sich der Kette der Gesamtentwicklung eingliedern, eine Reihe Zwischenstufen. Mehr noch, das Fehlen von fest herausgebildeten gesellschaftlichen Formen und Traditionen macht ein rückständiges Land – mindestens bis zu einem gewissen Grade – sehr empfänglich für die letzten Worte von Welttechnik und Weltgedanken. Die Rückständigkeit hört jedoch dadurch nicht auf, Rückständigkeit zu sein. Die Entwicklung insgesamt erhält einen widerspruchsvollen und kombinierten Charakter. Die soziale Struktur einer verspäteten Nation ist gekennzeichnet durch das Vorherrschen äußerster historischer Pole – rückständiger Bauern und fortgeschrittener Proletarier – vor Mittelformation, vor Bourgeoisie. Aufgaben der einen Klasse werden auf die Schultern einer anderen abgewälzt. Das Ausroden mittelalterlicher Überbleibsel fällt auch auf nationalem Gebiet dem Proletariat zu.

Nichts charakterisiert die historische Verspätung Rußlands, betrachtet man es in der Eigenschaft eines europäischen Landes, so grell wie die Tatsache, daß es im zwanzigsten Jahrhundert die Hörigenpacht und das jüdische Ansiedlungsrayon liquidieren mußte, das heißt die Barbarei der Leibeigenschaft und des Getto. Jedoch besaß Rußland gerade infolge seiner verspäteten Entwicklung für die Lösung dieser Aufgaben neue, im höchsten Grade moderne Klassen, Parteien, Programme. Um mit Rasputins Ideen und Methoden ein Ende zu machen, waren für Rußland die Ideen und Methoden von Marx erforderlich.

Die politische Praxis blieb allerdings viel primitiver als die Theorie, weil Dinge sich schwerer verändern als Ideen. Dennoch hatte die Theorie lediglich die Bedürfnisse der Praxis zu Ende entwickelt. Um die Befreiung und einen kulturellen Aufstieg zu erreichen, waren die unterdrückten Nationalitäten gezwungen, ihr Schicksal mit dem Schicksal der Arbeiterklasse zu verbinden. Dazu aber mußten sie sich von der Führung ihrer bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien befreien, das heißt weit vorauseilen auf dem Weg der historischen Entwicklung.

Die Eingliederung der nationalen Bewegung in den Grundprozeß der Revolution, in den Kampf des Proletariats um die Macht, vollzieht sich nicht mit einem Male, sondern in mehreren Etappen, und zwar in den verschiedenen Landesgebieten verschieden. Ukrainische, weißrussische oder tatarische Arbeiter, Bauern und Soldaten, Kerenski, dem Krieg und der Russifizierung friedlich, wurden damit allein schon, trotz ihrer Versöhnler-Führung, Verbündete des proletarischen Aufstandes. Von objektiver Unterstützung der Bolschewiki werden sie auf einer weiteren Etappe gezwungen, auch subjektiv den Weg des Bolschewismus zu betreten. In Finnland, Lettland, Estland, schwächer auch in der Ukraine, nimmt die in Schichten zerfallende Nationalbewegung um den Oktober herum derartige Verschärfung an, daß nur die Einmischung ausländischer Truppen hier den Sieg der proletarischen Umwälzung verhindern kann. Im asiatischen Osten, wo das nationale Erwachen in den primitivsten Formen vor sich ging, sollte es erst allmählich und mit größerer Verspätung unter die Führung des Proletariats geraten, bereits nach dessen Machteroberung. Überblickt man den komplizierten und widerspruchsvollen Prozeß in seiner Gesamtheit, ist die Schlußfolgerung klar: der nationale wie der agrarische Strom ergossen sich in das Bett der Oktoberumwälzung.

Der unabwendbare und unaufhaltsame Übergang der Massen von elementarsten Aufgaben der politischen, agrarischen und nationalen Entsklavung zur Herrschaft des Proletariats ergab sich nicht aus „demagogischer“ Agitation, nicht aus vorgefaßten Schemen, nicht aus der Theorie der permanenten Revolution, wie die Liberalen und die Versöhnler wähnten, sondern aus Rußlands sozialer Struktur und den Bedingungen der internationalen Lage. Die Theorie der permanenten Revolution formulierte diesen kombinierten Entwicklungsprozeß nur.

Es handelt sich hier nicht allein um Rußland. Die Eingliederung der verspäteten nationalen Revolutionen in die proletarische Revolution hat ihre internationale Gesetzmäßigkeit. Während im neunzehnten Jahrhundert die Hauptaufgabe der Kriege und Revolutionen noch immer darin bestand, den Produktivkräften den nationalen Markt zu sichern, besteht die Aufgabe unseres Jahrhunderts darin, die Produktivkräfte aus den nationalen Grenzen, die für sie eiserne Fesseln geworden sind, zu befreien. Im breiten historischen Sinne bilden die nationalen Revolutionen des Ostens Stufen der Weltrevolution des Proletariats, wie die nationalen Bewegungen in Rußland Stufen der Sowjetdiktatur wurden.

Lenin hatte mit bemerkenswerter Tiefe die revolutionäre Kraft eingeschätzt, die im Schicksal der unterdrückten Nationalitäten sowohl des zaristischen Rußland wie der ganzen Welt enthalten ist. Nichts außer Verachtung fand in seinen Augen jener heuchlerische „Pazifismus“, der den Krieg Japans gegen China, zum Zwecke seiner Versklavung, wie Chinas Krieg gegen Japan im Namen der eigenen Befreiung in gleicher Weise „verurteilt“. Für Lenin war der nationale Befreiungskrieg im Gegensatz zum imperialistischen Unterjochungskrieg nur eine andere Form der nationalen Revolution, die wiederum ein notwendiges Glied im Befreiungskampfe des Weltproletariats bedeutet.

Aus dieser Einschätzung nationaler Revolutionen und Kriege folgt jedoch keinesfalls die Anerkennung irgendeiner revolutionären Mission der Bourgeoisie kolonialer oder halbkolonialer Nationen. Im Gegenteil, gerade die Bourgeoisie der rückständigen Länder entwickelt sich von den Milchzähnen an als Agentur des ausländischen Kapitals und befindet sich trotz neidischer Feindschaft in allen entscheidenden Fällen mit diesem im gleichen Lager. Das chinesische Kompradorentum ist die klassische Form einer kolonialen Bourgeoisie, wie die Kuomintang die klassische Partei des Kompradorentums. Die Spitzen der Kleinbourgeoisie, darunter auch die Intelligenz, können sich aktiv, mitunter geräuschvoll, am nationalen Kampfe beteiligen, sind aber völlig unfähig für eine selbständige Rolle. Nur die Arbeiterklasse, an die Spitze der Nation gestellt, ist imstande, die nationale wie die agrarische Revolution zu Ende zu führen.

Der verhängnisvolle Irrtum der Epigonen, vor allem Stalins, besteht darin, daß sie aus Lenins Lehre von der fortschrittlichen historischen Bedeutung des Kampfes der unterdrückten Nationen die Schlußfolgerung zogen von einer revolutionären Mission der Bourgeoisie der Kolonialländer. Unverständnis für den permanenten Charakter der Revolution in der imperialistischen Epoche; pedantische Schematisierung der Entwicklung; Zergliederung des lebendigen kombinierten Prozesses in tote, angeblich zeitlich voneinander unbedingt getrennte Stadien brachten Stalin zu vulgärer Idealisierung der Demokratie oder der „demokratischen Diktatur“, die in Wirklichkeit nur entweder imperialistische Diktatur oder Diktatur des Proletariats sein kann. Von Stufe zu Stufe hinab gelangte die Gruppe Stalins auf dieser Bahn bis zum völligen Bruch mit Lenins Position in der nationalen Frage und bis zur katastrophalen Politik in China.

Im August 1927, im Kampfe gegen die Opposition (Trotzki, Rakowski und andere), sagte Stalin im Plenum des Zentralkomitees der Bolschewiki: „Eine Revolution in imperialistischen Ländern ist eines: dort ist die Bourgeoisie konterrevolutionär in allen Stadien der Revolution ... Eine Revolution in den kolonialen und abhängigen Ländern ist ein anderes ... dort kann die nationale Bourgeoisie in einem gewissen Stadium und für eine gewisse Frist die revolutionäre Bewegung ihres Landes gegen den Imperialismus unterstützen.“ Mit Vorbehalten und Milderungen, die nur seine innere Unsicherheit kennzeichnen, überträgt hier Stalin auf die koloniale Bourgeoisie die gleichen Eigenschaften, mit denen er im März die russische Bourgeoisie ausgestattet hatte. Seinem tief organischen Charakter gehorchend, bahnt sich der stalinsche Opportunismus, wie unter dem Druck des Gesetzes der Schwere, einen Weg durch verschiedene Kanäle. Die Auswahl theoretischer Argumente ist dabei Sache des reinsten Zufalls.

Aus der Übertragung der Märzeinschätzung der Provisorischen Regierung auf die „nationale“ Regierung in China ergab sich die dreijährige Zusammenarbeit Stalins mit der Kuomintang, die eine der erschütterndsten Tatsachen der neuesten Geschichte darstellt: als treuer Knappe begleitete der Epigonenbolschewismus die chinesische Bourgeoisie bis zum 11. April 1927, das heißt bis zu ihrer blutigen Abrechnung mit dem Schanghaier Proletariat. „Der Grundfehler der Opposition“, so rechtfertigte Stalin seine Waffenbrüderschaft mit Tschiankaischek, „besteht darin, daß sie die Revolution von 1905 in Rußland, einem imperialistischen, andere Völker unterdrückenden Lande, mit der Revolution in China, einem unterdrückten Lande, identifiziert ...“ Erstaunlich, daß Stalin selbst nicht auf den Gedanken gekommen war, die Revolution in Rußland nicht vom Standpunkte einer „andere Völker unterdrückenden“ Nation zu betrachten, sondern unter dem Gesichtspunkt der Erfahrung „anderer Völker“ desselben Rußland, die keine geringere Unterdrückung zu erdulden hatten als die Chinesen.

Auf jenem grandiosen Experimentierfelde, das Rußland während dreier Revolutionen darstellte, kann man alle Varianten des nationalen und des Klassenkampfes finden außer einer: daß die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation die Befreierrolle in bezug auf ihr eigenes Volk gespielt hätte. Auf allen Etappen ihrer Entwicklung hing die Bourgeoisie der Randgebiete, in welchen Farben sie auch schillern mochte, stets von den Zentralbanken, Trusts und Handelsfirmen ab, war eigentlich nur eine Agentur des gesamtrussischen Kapitals, unterordnete sieh dessen Russifizierungstendenzen und unterwarf ihm breite Kreise der liberalen und demokratischen Intelligenz. Je „reifer“ die Randbourgeoisie wurde, um so enger verband sie sich mit dem gesamten Staatsapparat. Als Ganzes spielte die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen die gleiche Kompradorenrolle im Verhältnis zur regierenden Bourgeoisie wie diese im Verhältnis zum Weltfinanzkapital. Die komplizierte Hierarchie von Abhängigkeiten und Antagonismen hatte nicht für einen Tag die grundlegende Solidarität im Kampfe gegen die aufständischen Massen aufgehoben.

In der Periode der Konterrevolution (1907 bis 1917), als die Führung der nationalen Bewegung in den Händen einheimischer Bourgeoisien lag, hatten diese noch offener als die russischen Liberalen eine Verständigung mit der Monarchie gesucht. Polnische, baltische, tatarische, ukrainische und jüdische Bourgeois wetteiferten auf dem Felde des imperialistischen Patriotismus. Nach der Februarumwälzung versteckten sie sich hinter dem Rücken der Kadetten oder, nach dem Beispiel der Kadetten, hinter dem Rücken ihrer nationalen Versöhnler. Den Weg des Separatismus beschreitet die Bourgeoisie der Randstaaten um den Herbst 1917 nicht im Kampfe gegen nationale Unterdrückung, sondern im Kampfe gegen die heranrückende proletarische Revolution. Im großen und ganzen hat die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen keinesfalls eine geringere Feindschaft gegen die Revolution offenbart als die großrussische Bourgeoisie.

Die gigantische historische Lehre der drei Revolutionen ist jedoch an vielen Teilnehmern der Ereignisse spurlos vorübergegangen, vor allem – an Stalin. Die versöhnlerische, das heißt kleinbürgerliche Auffassung von den Wechselbeziehungen zwischen den Klassen innerhalb der Kolonialnationen, die die chinesische Revolution von 1925 bis 1927 zugrunde richtete, haben die Epigonen sogar in das Programm der Kommunistischen Internationale hineingebracht und es in diesem seinem Teil in eine direkte Falle für die unterdrückten Völker des Ostens verwandelt.

 

 

Um den wahren Charakter der nationalen Politik Lenins zu verstehen, ist es am besten – nach der Methode der Kontraste –, sie der Politik der österreichischen Sozialdemokratie gegenüberzustellen. Während der Bolschewismus sich jahrzehntelang auf den Ausbruch nationaler Revolutionen einstellte und die fortgeschrittenen Arbeiter im Geiste dieser Perspektive erzog, paßte sich die österreichische Sozialdemokratie gehorsam der Politik der herrschenden Klassen an, betätigte sich als Anwalt des zwangsweisen Zusammenlebens von zehn Nationen innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie; aber gleichzeitig absolut unfähig, die revolutionäre Einheit der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten herzustellen, trennte sie diese durch vertikale Scheidewände in Parteien und Gewerkschaften. Karl Renner, aufgeklärter Habsburger Bürokrat, suchte unermüdlich im Tintenfaß des Austromarxismus nach Verjüngungsmitteln für den Habsburger Staat bis zu der Stunde, wo er sich als verwitweten Theoretiker der österreichisch-ungarischen Monarchie erblickte. Als die Zentralmächte zerschlagen wurden, versuchte die Habsburger Dynastie noch immer, unter ihrem Zepter das Banner der Föderation autonomer Nationen zu erheben: das offizielle Programm der österreichischen Sozialdemokratie, auf eine friedliche Entwicklung im Rahmen der Monarchie berechnet, ward für einen Augenblick Programm der von Blut und Schmutz der vier Kriegsjahre besudelten Monarchie.

Der verrostete Reifen, der zehn Nationen zusammengehalten hatte, zerbarst in Stücke. Österreich-Ungarn zerfiel kraft seiner inneren zentrifugalen Tendenzen, verstärkt durch die Versailler Chirurgie. Neue Staaten wurden gebildet, die alten umgebaut. Die österreichischen Deutschen blieben über einem Abgrund hängen. Für sie ging nun die Frage nicht um die Erhaltung der Herrschaft über andere Nationen, sondern um die Gefahr, selbst unter Fremdherrschaft zu geraten. Otto Bauer, Vertreter des „linken“ Flügels der österreichischen Sozialdemokratie, hielt den Augenblick für geeignet, die Formel der nationalen Selbstbestimmung aufzunehmen. Das Programm, das während der vergangenen Jahrzehnte den Kampf des Proletariats gegen die Habsburger und die herrschende Bourgeoisie hätte beseelen sollen, wurde in ein Werkzeug zur Selbsterhaltung der gestern herrschenden Nation verwandelt, der heute Gefahr drohte seitens der frei gewordenen slawischen Völker. Wie das reformistische Programm der österreichischen Sozialdemokratie für einen Augenblick jener Strohhalm wurde, an den sich die ertrinkende Monarchie zu klammem versuchte, so mußte die kastrierte austromarxistische Formel des Selbstbestimmungsrechts Rettungsanker der deutschen Bourgeoisie werden.

Am 3. Oktober 1918, als die Frage nicht mehr im geringsten von ihnen abhing, „anerkannten“ die sozialdemokratischen Abgeordneten des Reichsrates großmütig das Recht der Völker des ehemaligen Kaiserreiches auf Selbstbestimmung. Am 4. Oktober nahmen auch die bürgerlichen Parteien das Programm der Selbstbestimmung an. Den deutsch-österreichischen Imperialisten somit um einen ganzen Tag voraus, verhielt sich die Sozialdemokratie noch immer abwartend: man kann ja nicht wissen, welche Wendung die Dinge nehmen werden und was Wilson sagen wird. Erst am 13. Oktober, als durch den endgültigen Zusammenbruch der Armee und der Monarchie eine „revolutionäre Situation eintrat, für die“, nach Bauers Worten, „unser nationales Programm gedacht war“, stellten die Austromarxisten praktisch die Frage der Selbstbestimmung: wahrlich, sie hatten nichts mehr zu verlieren. „Mit dem Zusammenbruch seiner Herrschaft über die anderen Nationen“, erklärt Otto Bauer ganz offenherzig, „sah das deutschnationale Bürgertum seine geschichtliche Mission beendet, um deretwillen es bisher die Trennung vom deutschen Mutterlande willig ertragen hatte.“ Das neue Programm wurde in Umlauf gebracht, nicht weil es die Unterdrückten notwendig hatten, sondern weil es aufgehört hatte, eine Gefahr für die Unterdrücker zu sein. Die besitzenden Klassen, hineingetrieben in eine historische Klemme, waren gezwungen, die nationale Revolution juristisch anzuerkennen; der Austromarxismus hielt es nun an der Zeit, sie theoretisch zu legalisieren. Dies ist eine reife Revolution, eine rechtzeitige, historisch vorbereitete: sie hat sich ja doch schon vollzogen. Die Seele der Sozialdemokratie liegt vor uns, wie auf der flachen Hand!

Ganz anders verhielt es sich mit der sozialen Revolution, die keinesfalls auf Anerkennung der besitzenden Klassen hoffen konnte. Sie hieß es zu verschieben, zu entthronen, zu kompromittieren. Da das Kaiserreich naturgemäß nach den schwächsten, das heißt nach den nationalen Fugen auseinanderfiel, zieht Otto Bauer daraus die Schlußfolgerung über den Charakter der Revolution: „Noch war sie durchaus nicht soziale, sondern nationale Revolution.“ In Wirklichkeit hatte die Bewegung von Anfang an tiefen, sozialrevolutionären Inhalt. Der „nur“ nationale Charakter der Revolution wird nicht schlecht dadurch illustriert, daß die besitzenden Klassen Österreichs die Entente offen aufforderten, die gesamte Armee gefangenzunehmen. Die deutsche Bourgeoisie flehte den italienischen General an, Wien mit italienischen Truppen zu besetzen!

Die pedantisch vulgäre Trennung zwischen nationaler Form und sozialem Inhalt eines revolutionären Prozesses, angeblich als zwei selbständigen historischen Stadien – wir sehen, wie sehr sich Otto Bauer hier Stalin nähert! –, war von höchst utilitaristischer Bedeutung: sie sollte die Zusammenarbeit der Sozialdemokratie mit der Bourgeoisie im Kampfe gegen die Gefahren der sozialen Revolution rechtfertigen.

Nimmt man nach Marx an, die Revolution sei Lokomotive der Geschichte, dann muß man dem Austromarxismus dabei die Rolle der Bremse zuweisen. Bereits nach dem faktischen Zusammenbruch der Monarchie konnte sich die Sozialdemokratie, zur Teilnahme an der Macht berufen, noch immer nicht entschließen, von den alten Habsburgischen Ministern Abschied zu nehmen: die „nationale“ Revolution beschränkte sich darauf, sie durch Staatssekretäre zu unterstützen. Erst nach dem 9. November, als die deutsche Revolution die Hohenzollern gestürzt hatte, schlug die österreichische Sozialdemokratie dem Staatsrat vor, die Republik auszurufen, die bürgerlichen Partner mit der Bewegung der Massen schreckend, durch die sie selbst bis auf Mark und Bein eingeschüchtert war. „Die Christlichsozialen“, ironisiert unvorsichtigerweise Otto Bauer, „die noch am 9. und 10. November zur Monarchie standen, entschlossen sich am 11. November, ihren Widerstand aufzugeben ...“ Um ganze zwei Tage hatte die Sozialdemokratie die Partei der Schwarzhundert-Monarchisten überholt! Alle heroischen Legenden der Menschheit verblassen vor diesem revolutionären Schwung.

Gegen ihren Willen gelangte die Sozialdemokratie zu Beginn der Revolution automatisch an die Spitze der Nation, wie die russischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Gleich diesen hatte auch sie die größte Angst vor der eigenen Kraft. In der Koalitionsregierung war sie bestrebt, das kleinste Eckchen einzunehmen. Otto Bauer erläutert: „Aber es entsprach dem vorerst noch nur nationalen Charakter der Revolution, daß die Sozialdemokraten zunächst nur einen bescheidenen Anteil an der Regierung beanspruchten.“ Die Frage der Macht entscheidet für diese Menschen nicht das reale Kräfteverhältnis, nicht die Gewalt der revolutionären Bewegung, nicht der Bankrott der herrschenden Klassen, nicht der politische Einfluß der Partei, sondern das pedantische Schildchen „nur nationale Revolution“, das die weisen Klassifikatoren den Ereignissen angeklebt hatten.

Karl Renner wartete das Gewitter als Kanzleichef des Staatsrates ab. Die übrigen sozialdemokratischen Führer verwandelten sich in Gehilfen der bürgerlichen Minister. Mit anderen Worten: die Sozialdemokraten versteckten sich unter den Kanzleitischen. Die Massen jedoch waren nicht gewillt, sich mit der nationalen Schale der Nuß abspeisen zu lassen, deren sozialen Kern die Austromarxisten für die Bourgeoisie aufbewahrten. Die Arbeiter und Soldaten schoben die bürgerlichen Minister beiseite und zwangen die Sozialdemokraten, ihren Unterschlupf zu verlassen. Der unersetzliche Theoretiker Otto Bauer erläutert: „Erst die Ereignisse der folgenden Tage, die die nationale Revolution zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in der Regierung.“ In eine allgemeinverständliche Sprache übersetzt: durch den Druck der Massen wurden die Sozialdemokraten gezwungen, unter den Tischen hervorzukriechen.

Aber ohne auch nur für eine Minute ihrer Bestimmung untreu zu werden, nahmen sie die Macht allein zu dem Behufe, einen Krieg gegen Romantik und Abenteurertum zu beginnen: unter diesem Namen figuriert bei den Sykophanten jene soziale Revolution, die ihr „Gewicht in der Regierung“ verstärkt hatte. Wenn die Austromarxisten nicht ohne Erfolg im Jahre 1918 ihre historische Mission als Schutzengel der Wiener Kreditanstalt vor der revolutionären Romantik des Proletariats erfüllen konnten, so nur darum, weil sie nicht durch eine wirklich revolutionäre Partei behindert wurden.

Zwei Nationalitätenstaaten, Rußland und Österreich-Ungarn, haben durch ihr jüngstes Schicksal den Gegensatz zwischen Bolschewismus und Austromarxismus besiegelt. Anderthalb Jahrzehnte predigte Lenin in unversöhnlichem Kampfe gegen alle Schattierungen des großrussischen Chauvinismus das Recht aller unterdrückten Nationen, sich vom Zarenreiche loszulösen. Man beschuldigte die Bolschewiki, sie strebten Rußlands Zerstückelung an. Indes hat die kühnrevolutionäre Position in der nationalen Frage unerschütterliches Vertrauen der unterdrückten kleinen und rückständigen Völker des zaristischen Rußland zur bolschewistischen Partei geschaffen. Im April 1917 sagte Lenin: „Wenn die Ukrainer sehen werden, daß bei uns die Sowjetrepublik ist, werden sie sich nicht lostrennen, wenn aber bei uns Miljukows Republik sein wird, dann werden sie sich lostrennen.“ Auch darin hatte er recht. Die Geschichte hat eine unvergleichliche Nachprüfung zweier Arten von Politik in der nationalen Frage geliefert. Während Österreich-Ungarn, dessen Proletariat im Geiste ängstlicher Halbheit erzogen ward, bei der ersten ernsten Erschütterung in Stücke zerfiel, wobei die Initiative des Zerfalls hauptsächlich die nationalen Teile der Sozialdemokratie auf sich genommen hatten – entstand auf den Ruinen des Zaren-Rußland ein neuer Nationalitätenstaat, ökonomisch und politisch durch die bolschewistische Partei innig verschmolzen.

Wie sich auch die weiteren Schicksale der Sowjetunion gestalten mögen – und sie ist noch sehr weit vom ruhigen Hafen entfernt –, Lenins Politik in der nationalen Frage wird für immer in das eherne Inventar der Menschheit eingehen.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003