Leo Trotzki

 

Mein Leben


„Trotzkismus“ im Jahre 1917

Seit dem Jahre 1904 stand ich außerhalb der beiden soiialdemokratischen Fraktionen. In der Revolution 1905-07 arbeitete ich Hand in Hand mit den Bolschewiki. In den Jahren der Reaktion verteidigte ich in der internationalen marxistischen Presse die Methoden der Revolution gegen die Menschewiki. Ich verlor jedoch die Hoffnung nicht, die Menschewiki würden eine Linkswendung machen, und unternahm eine Reihe von Vereinigungsversuchen. Erst im Kriege überzeugte ich mich völlig von ihrer Aussichtslosigkeit. In New York schrieb ich Anfang März eine Artikelserie, die den Klassenkräften und den Perspektiven der russischen Revolution gewidmet war. Zu gleicher Zeit schickte Lenin aus Genf nach Petrograd seine Briefe aus der Ferne. An zwei durch den Ozean getrennten Punkten geschrieben, geben unsere Artikel die gleiche Analyse und die gleiche Prognose. Alle grundlegenden Formulierungen – die Stellung zur Bauernschaft, zur Bourgeoisie, zur Provisorischen Regierung, zum Krieg, zur internationalen Revolution – sind ganz die gleichen. Auf dem Wetzstein der Geschichte war hiermit eine Kontrolle vorgenommen worden über das Verhältnis des „Trotzkismus“ zum Leninismus. Diese Kontrolle geschah unter chemisch reinen Bedingungen. Ich kannte die Leninsche Einstellung nicht. Ich ging von meinen eigenen Voraussetzungen und meiner eigenen revolutionären Erfahrung aus. Und ich gab dieselben Perspektiven, die gleiche strategische Linie, wie sie Lenin gab.

Aber vielleicht war die Frage zu jener Zeit bereits allen klar und ebenso allgemein die Schlußfolgerung? Nein, im Gegenteil. Die Leninsche Einstellung war in jener Periode – bis zum 4. April 1917, seinem Eintreffen in Petrograd – seine persönliche, seine alleinige Einstellung. Keinem der Parteiführer, die in Rußland waren – nicht einem einzigen! –, war vorher in den Sinn gekommen, den Kurs auf die Diktatur des Proletariats, auf die sozialistische Revolution zu halten. Die Parteikonferenz, die am Vorabend der Ankunft Lenins einige Dutzend Bolschewiki versammelte, bewies, daß niemand über die Demokratie hinausging. Nicht grundlos wird das Protokoll dieser Konferenz bis jetzt verheimlicht. Stalin hielt den Kurs auf die Unterstützung der Provisorischen Regierung Gutschkow-Miljukow und auf die Vereinigung der Bolschewiki mit den Menschewiki. Auf einer ähnlichen oder noch opportunistischeren Position standen: Rykow, Kamenjew, Molotow, Tomski, Kalinin und alle übrigen heutigen Führer und Halbführer. Jaroslawski, Ordschonikidse, der Vorsitzende des ukrainischen Zentralexekutivkomitees Petrowski und andere gaben während der Februarrevolution in Jakutsk zusammen mit den Menschewiki die Zeitung Sozialdemokrat heraus, in der sie die banalen Ansichten des provinziellen Opportunismus entwickelten. Jetzt die Artikel des Jakutsker Sozialdemokrat, den Jaroslawski redigierte, nachzudrucken würde bedeuten, diesen Menschen geistig zu töten, wenn für ihn überhaupt ein geistiger Tod möglich wäre. So sieht die heutige Garde des „Leninismus“ aus. Daß sie zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens hinter Lenin her dessen Worte und Gesten wiederholten, ist mir bekannt. Aber am Anfang des Jahres 1917 waren sie sich selbst überlassen. Die Verhältnisse waren schwierig. Da gerade hieß es, zu zeigen, was sie in der Schule Lenins gelernt hatten und wozu sie – ohne Lenin – befähigt waren. Sie mögen doch einen aus ihren Reihen nennen, einen einzigen, der sich selbständig jener Position genähert hatte, die von Lenin in Genf und von mir in New York in gleicher Weise formuliert wurde. Sie werden ihn nicht nennen. Die Petrograder Prawda, die bis zu Lenins Ankunft Stalin und Kamenjew redigierten, wird für immer ein Dokument der Beschränktheit, der Blindheit und des Opportunismus bleiben. Die Partei aber in ihrer Masse und die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit bewegten sich elementar in der Richtung zum Kampfe um die Macht. Einen anderen Weg gab es überhaupt nicht, weder für die Partei noch für das Land. Um in den Jahren der Reaktion die Perspektive der permanenten Revolution zu verteidigen, dafür war eine theoretische Voraussicht notwendig. Um im März des Jahres 1917 die Parole des Kampfes um die Macht aufzustellen, dafür hätte vielleicht ein politischer Instinkt ausgereicht. Aber weder die Begabung zur Voraussicht noch den Instinkt hat einer – nicht einer! – der heutigen Führer bewiesen. Kein einziger von ihnen ging im März 1917 über die Position der linken kleinbürgerlichen Demokratie hinaus; Kein einziger von ihnen hat das historische Examen bestanden.

Ich kam nach Petrograd einen Monat später als Lenin. Genau diese Frist hat mich Lloyd George in Kanada aufgehalten. Ich fand bereits eine wesentlich veränderte Situation in der Partei vor. Lenin appellierte an die Parteimasse gegen die kläglichen Führer. Er nahm einen systematischen Kampf auf gegen jene „alten Bolschewiki, die“, wie er in jenen Tagen schrieb, „in der Geschichte unserer Partei bereits nicht selten eine traurige Rolle gespielt haben, indem sie eine auswendig gelernte Formel sinnlos wiederholten, anstatt die Eigenarten der neuen lebendigen Wirklichkeit zu studieren“. Kamenjew und Rykow versuchten, Widerstand zu leisten. Stalin trat schweigend beiseite. Es existiert kein einziger Artikel aus jener Zeit, in dem Stalin auch nur den Versuch unternommen hätte, seine gestrige Politik zu analysieren und sich einen Weg zu der Leninschen Position zu bahnen. Er verstummte einfach. Er war durch seine unglückselige Führung im ersten Monat der Revolution zu stark kompromittiert und zog es vor, im Schatten zu verschwinden. Nirgendwo trat er auf zur Verteidigung der Leninschen Ansichten. Er wich aus und wartete ab. In den verantwortlichen Monaten der theoretischen und politischen Vorbereitung für den Umsturz existierte Stalin politisch einfach nicht.

Zu der Zeit meiner Ankunft gab es im Lande noch viele sozialdemokratische Organisationen, die Bolschewiki und Menschewiki vereinigten. Das war die natürliche Folge aus jener Position, die Stalin, Kamenjew und andere nicht zu Beginn der Revolution, sondern auch im Kriege eingenommen hatten. Obwohl man zugeben muß, daß Stalins Position aus der Kriegszeit niemand kennt: auch dieser nicht unwichtigen Frage hat er nicht eine Zeile gewidmet. Heute wiederholen die Lehrbücher der Komintern in der ganzen Welt – die kommunistische Jugend in Skandinavien und die Pioniere in Australien-, daß Trotzki im August 1912 den Versuch gemacht habe, die Bolschewiki und die Menschewiki zu vereinigen. Dagegen aber wird mit keinem Wort erwähnt, daß Stalin im März 1917 die Vereinigung der Bolschewiki mit der Partei Zeretellis propagierte und daß es faktisch bis zur Mitte des Jahre 1917 Lenin nicht gelungen war, die Partei aus jenem Sumpf völlig zu befreien, in den sie die damaligen provisorischen Führer, die heutigen Epigonen, hineingezogen hatten. Die Tatsache, daß keiner von ihnen zu Beginn der Revolution deren Sinn und deren Richtung begriffen hat, wird jetzt als besondere dialektische Tiefe gedeutet im Gegensatz zu der Irrlehre des Trotzkismus, der es gewagt hat, nicht nur den gestrigen Tag zu begreifen, sondern auch den morgigen vorauszusehen.

Als ich nach meiner Ankunft in Petersburg Kamenjew sagte, es trenne mich nichts von den berühmten Aprilthesen Lenins, die den neuen Kurs der Partei bestimmten, antwortete Kamenjew: „Natürlich!“ Bevor ich formell in die Partei hineinging, beteiligte ich mich an der Ausarbeitung der wichtigsten Dokumente des Bolschewismus. Niemand kam es in den Sinn, zu fragen, ob ich mich von dem „Trotzkismus“ losgesagt habe, wie es in der Periode des Niedergangs und des Epigonentums tausende Male die Cachins, Thälmanns und die übrigen Nutznießer der Oktoberrevolution gefragt haben. Wenn man in jener Zeit auf Gegenüberstellungen des Trotzkismus und Leninismus stoßen konnte, so nur in dem Sinne, daß die Spitzen der Partei während des Monats April Lenin des Trotzkismus beschuldigten. Kamenjew tat es offen und beharrlich. Die anderen – vorsichtiger und verschleierter. Dutzende „alter Bolschewiki“ sagten mir nach meiner Ankunft in Rußland: „Jetzt ist in Ihrer Straße Feiertag.“ Ich war gezwungen, nachzuweisen, daß Lenin nicht auf meine Position „übergegangen“ war, sondern seine eigene Position entwickelte und daß der Lauf der Entwicklung, die Algebra durch die Arithmetik ersetzend, die Einheit unserer Ansichten ergeben habe. So war es auch in der Tat.

Bei jenen unseren ersten Zusammenkünften, und noch mehr nach den Julitagen, machte Lenin den Eindruck höchster Konzentriertheit, stärkster innerer Sammlung – unter dem Schein der Ruhe und der „prosaischen“ Schlichtheit. Die Kerenskiade schien in jenen Tagen allmächtig. Der Bolschewismus war ein „verschwindender Haufe“. So wurde er offiziell verächtlich bezeichnet. Die Partei war sich selbst noch ihrer morgigen Macht nicht bewußt. Zu gleicher Zeit aber führte Lenin sie sicher ihren großen Aufgaben entgegen. Und ich spannte mich in die Arbeit ein und half ihm.

Zwei Monate vor dem Oktoberumsturz schrieb ich: „Der Internationalismus ist für uns keine abstrakte Idee, die nur dazu da ist, sie bei jeder Gelegenheit zu verraten (wie für Zeretelli oder Tschernow), sondern ein direktes, leitendes, tiefpraktisches Prinzip. Der sichere, entscheidende Sieg ist für uns ohne die europäische Revolution undenkbar.“ Neben die Namen Zeretelli und Tschernow konnte ich den Namen Stalin, des Philosophen des „Sozialismus in einem Lande“, damals noch nicht stellen! Ich schloß meinen Artikel mit den Worten: „Die permanente Revolution gegen die permanente Schlächterei! Das ist der Kampf, bei dem es um das Schicksal der Menschheit geht.“ Das war am 7. September im Zentralorgan unserer Partei gedruckt und wurde dann als Broschüre herausgegeben. Warum haben meine heutigen Kritiker damals zu meiner häretischen Parole der permanenten Revolution geschwiegen? Wo waren sie? Die einen, wie Stalin, warteten, sich vorsichtig nach allen Seiten umschauend, ab, die anderen, wie Sinowjew, hatten sich unter dem Tisch verkrochen. Wichtiger aber ist eine andere Frage: Wie konnte Lenin meine häretische Propaganda ruhig hinnehmen? In Fragen der Theorie kannte er weder Gnade noch Nachsicht. Warum duldete er die Predigt des „Trotzkismus“ im Zentralorgan der Partei?

Am 1. November 1917, in der Sitzung des Petrograder Komitees – das Protokoll dieser in jeder Hinsicht historischen Sitzung wird bis jetzt verborgen gehalten – sagte Lenin: nachdem Trotzki sich von der Unmöglichkeit der Vereinigung mit den Menschewiki überzeugt hatte, „gab es keinen besseren Bolschewiken“. Er hat damit klar gezeigt, und nicht zum erstenmal, daß nicht die Theorie der permanenten Revolution uns getrennt hatte, sondern die engere, wenn auch sehr wichtige Frage über die Stellung zum Menschewismus.

Zwei Jahre nach dem Umsturz schrieb Lenin, Rückschau haltend: „Im Augenblick der Machteroberung und der Schaffung der Sowjetrepublik hat der Bolschewismus aus den ihm nächsten Strömungen des sozialistischen Gedankens die besten zu sich herangezogen.“ Kann der leiseste Schatten eines Zweifels daran bestehen, daß Lenin, als er so stark betont von den besten Vertretern der dem Bolschewismus nächsten Strömungen sprach, in erster Linie gerade das gemeint hatte, was man jetzt „historischen Trotzkismus“ nennt? Welche andere Strömung war denn dem Bolschewismus näher als die, die ich vertrat? Und wen sonst hat Lenin gemeint? Vielleicht Marcel Cachin oder Thälmann? Für Lenin war, als er die vergangene Entwicklung der Partei zurückschauend betrachtete, der Trotzkismus weder eine feindliche noch eine fremde, sondern im Gegenteil die dem Bolschewismus nächste Strömung des sozialistischen Gedankens.

Der wahre Verlauf der ideologischen Entwicklung hat, wie wir sehen, nichts gemein mit der verlogenen Karikatur, welche die Epigonen geschaffen haben, den Tod Lenins und die Welle der Reaktion ausnutzend.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003