Leo Trotzki

 

Mein Leben


Die Nacht, die entscheidet

Es nahte die zwölfte Stunde der Revolution. Der Smolny verwandelte sich in eine Festung. Auf seinem Dachboden befanden sich als Erbschaft des alten Exekutivkomitees etwa zwanzig Maschinengewehre. Der Kommandant des Smolny, Kapitän Grekow, war unser erklärter Feind. Dagegen suchte mich der Chef des Maschinengewehrkommandos auf, um mir zu sagen: die Mannschaft stehe zu den Bolschewiki. Ich beauftragte jemanden – vielleicht war es Markin? –, die Maschinengewehre nachzuprüfen. Das Ergebnis lautete: sie seien in schlechtem Zustand, vernachlässigt. Die Soldaten faulenzten ja gerade deshalb, weil sie nicht die Absicht hatten, Kerenski zu verteidigen. Ich ließ eine frische, zuverlässige Maschinengewehrabteilung nach dem Smolny kommen. Es war der frühe, graue Morgen des 24. Oktober. [1] Ich ging von Stockwerk zu Stockwerk, teils um nicht auf einem Platze zu sitzen, teils um mich zu überzeugen, ob alles in Ordnung sei, und um jene zu ermuntern, die Ermunterung bedurften. Über die Steinfliesen der endlosen und noch halbdunklen Korridore des Smolny rollten die Soldaten mit munterem Gepolter und Stampfen ihre Maschinengewehre. Das war die neue Abteilung, die ich hergerufen hatte. Aus den Türen steckten die wenigen Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die noch im Smolny verblieben waren, erschrockene Gesichter heraus. Diese Musik versprach nichts Gutes. Sie verließen einer nach dem anderen eiligst den Smolny. Wir blieben die absoluten Herren des Gebäudes, das sich darauf vorbereitete, seinen bolschewistischen Kopf über die Stadt und das Land zu erheben.

Früh am Morgen begegnete ich auf der Treppe einem Arbeiter und einer Arbeiterin, die außer Atem aus der Parteidruckerei hergerannt kamen. Die Regierung habe das Zentralorgan der Partei und die Zeitung des Petrograder Sowjets verboten. Die Druckerei sei von irgendwelchen Regierungsagenten, die in Begleitung von Fahnenjunkern gekommen waren, versiegelt worden. Im ersten Moment machte diese Nachricht Eindruck: das ist die Macht des Formalen über den Verstand. „Darf man denn das Siegel nicht abreißen?“ fragte die Arbeiterin. „Reißt ruhig ab, und damit euch nichts passiert, geben wir euch einen zuverlässigen Schutz“, antwortete ich. „Neben uns liegt ein Sappeurbataillon, die Soldaten werden uns unterstützen“, sagte die Arbeiterin zuversichtlich. Das revolutionäre Kriegskomitee nahm sofort eine Verfügung an: „1. Die Druckereien der revolutionären Zeitungen sind sofort zu öffnen. 2. Die Redaktionen und die Drucker haben die Arbeit zur Herausgabe der Zeitungen fortzusetzen. 3. Die Ehrenpflicht, die revolutionären Druckereien gegen konterrevolutionäre Anschläge zu schützen, wird den ruhmreichen Soldaten des Litauischen Regiments und dem 6. Reserve-Sappeurbataillon übertragen.“ Die Druckerei arbeitete nun ohne Unterbrechung, und beide Zeitungen erschienen.

Auf dem Telephonamt entstanden am 24. Schwierigkeiten: dort hatten sich die Fahnenjunker festgesetzt, und unter ihrer Deckung waren die Telephonistinnen in Opposition zum Sowjet getreten. Sie hörten überhaupt auf, uns zu verbinden. Das war die erste, noch episodische Äußerung von Sabotage. Das militärische Revolutionskomitee schickte eine Abteilung Matrosen zum Telephonamt, die beim Eingang zwei kleine Geschütze aufstellten. Die Telephone arbeiteten wieder. So begann die Eroberung der Verwaltungsorgane.

Im dritten Stockwerk des Smolny, in einem kleinen Eckzimmer, tagte ununterbrochen das Komitee. Dort konzentrierten sich alle Berichte über die Truppenbewegungen, über die Stimmung der Soldaten und Arbeiter, über Agitation in den Kasernen, über die Pläne der Schwarzen Hundert, über die Ränke der bürgerlichen Politiker und der ausländischen Gesandtschaften, über das Leben des Winterpalais, über die Beratungen der früheren Sowjetparteien. Informationen traten aus allen Richtungen ein. Es kamen Arbeiter, Soldaten, Offiziere, Portiers, sozialistische Fahnenjunker, Dienstboten, Frauen kleiner Beamten. Viele teilten den reinsten Unsinn mit, andere gaben ernste und wertvolle Hinweise. Während der letzten Woche hatte ich den Smolny fast überhaupt nicht verlassen, ich übernachtete unausgekleidet auf einem Ledersofa, schlief in den knappen Pausen, fortwährend geweckt durch Kuriere, Auskundschafter, Motorradler, Telegraphisten, ununterbrochene Telephonanrufe. Es rückte die entscheidende Minute heran. Es war klar, daß es kein Zurück mehr gab.

In der Nacht zum 25. Oktober begaben sich die Mitglieder des Revolutionären Komitees in die Bezirke. Ich blieb allein. Später kam Kamenjew. Er war ein Gegner des Aufstandes. Aber in dieser entscheidenden Nacht kam er, um sie bei mir zu verbringen. Wir blieben beide in dem kleinen Eckzimmer des dritten Stocks, das in dieser entscheidenden Nacht der Revolution der Kommandobrücke eines Kapitäns glich. In dem großen, leeren Nebenzimmer war eine Telephonzelle. Es klingelte ununterbrochen, in wichtigen und in nichtigen Angelegenheiten. Das Läuten unterstrich die lauernde Stille. Man konnte sich das verlassene, nächtliche, schlecht beleuchtete, von herbstlichen Winden durchschauerte Petersburg leicht vorstellen. Die Bürger und das Beamtentum, zusammengekauert in ihren Betten, versuchen zu erraten, was wohl in den geheimnisvollen und gefährlichen Straßen jetzt vor sich gehe. Den wachsamen Schlaf eines Kriegslagers schlafen die Arbeiterviertel. Kommissionen und Beratungen der Regierungsparteien tagen, vor Ohnmacht erschöpft, in den Zarenpalästen, wo die lebenden Gespenster der Demokratie auf die noch nicht zerstobenen Gespenster der Monarchie stoßen. Zeitweise sinken Seide und Vergoldung der Säle in Dunkelheit: es fehlt Kohle. In den Stadtbezirken wachen Abteilungen Arbeiter, Matrosen und Soldaten. Die jungen Proletarier haben Gewehre und Maschinengewehrgürtel um die Schultern. An den Scheiterhaufen wärmen sich die Straßenpatrouillen. An zwei Dutzend Telephonen konzentriert sich das geistige Leben der Hauptstadt, die in dieser Herbstnacht den Kopf aus der einen Epoche in die andere zwängt.

Im Zimmer des dritten Stocks laufen die Berichte von allen Bezirken, Vororten und Stadtzugängen zusammen. Es scheint, alles ist vorgesehen, die Führer an ihren Plätzen, die Verbindungen gesichert, nichts ist vergessen. Noch einmal in Gedanken nachprüfen. Diese Nacht entscheidet. Am Vorabend sagte ich in meinem Bericht an die Delegierten des zweiten Sowjetkongresses aus vollster Überzeugung: „Wenn ihr nicht weichen werdet – wird es keinen Bürgerkrieg geben. Unsere Feinde werden sofort kapitulieren, und ihr werdet den Platz einnehmen, der euch von Rechts wegen gehört.“ An dem Sieg ist nicht zu zweifeln. Er ist so weit gesichert, wie man den Sieg eines Aufstandes überhaupt zu sichern vermag. Und doch sind diese Stunden voll tiefer, gespannter Sorge, denn diese Nacht entscheidet.

Die Regierung mobilisierte die Fahnenjunker und gab gestern dem Kreuzer Aurora Befehl, sich aus der Newa zu entfernen. Es handelt sich um die gleichen bolschewistischen Matrosen, zu denen Zeretelli im August mit dem Hut in der Hand gekommen war, sie zu bitten, das Winterpalais gegen Kornilow zu schützen. Die Matrosen fragten beim Militärischen Revolutionskomitee an, was zu tun sei. Und die Aurora steht in dieser Nacht dort, wo sie gestern stand. Man telephoniert mir aus Pawlowsk: Die Regierung fordert von dort Artillerie, von Zarskoje Selo ein Sturmbataillon, von Peterhof die Fähnrichsschule an. Im Winterpalais hat Kerenski die Fahnenjunker, Offiziere und die Frauenstoßbataillone zusammengezogen. Ich erteile den Kommissaren den Befehl, auf den Wegen nach Petrograd zuverlässige Sperrposten aufzustellen und den von der Regierung angeforderten Truppen Agitatoren entgegenzuschicken. Alle Gespräche werden telephonisch geführt und sind den Agent en der Regierung vollständig zugänglich. Sind sie überhaupt noch imstande, unsere Gespräche zu kontrollieren? „Gelingt es euch nicht die Truppen durch Überredung aufzuhalten, – dann greift zu den Waffen. Ihr bürgt mit eurem Kopfe dafür.“ Ich wiederhole diesen Satz mehrere Male. Doch ich bin mir der Macht meines Befehls selbst noch nicht ganz sicher. Die Revolution ist noch immer zu vertrauensselig, gutmütig, optimistisch und leichtsinnig. Sie droht mit den Waffen mehr, als daß sie sie anwendet Sie hofft noch immer, man könne alles mit dem Wort erreichen. Vorläufig gelingt es ihn Ansammlungen feindlicher Elemente verflüchtigen sich allein vor ihrem heißen Atem. Schon am Tage des 24. wurde ein Befehl erlassen, bei dem ersten Versuch der Schwarzen Hundert, Straßenpogrome zu veranstalten, zu den Waffen zu greifen und erbarmungslos vorzugehen. Aber die Feinde wagen es gar nicht, auf den Straßen zu erscheinen. Sie verkriechen sich. Die Straße gehört uns. Auf allen Wegen nach Petrograd wachen unsere Kommissare. Die Fähnrichsschule und die Artilleristen sind dem Ruf der Regierung nicht gefolgt. Nur ein Teil der Oranienbaumer Fahnenjunker stahl sich nachts durch unsere Sperre hindurch, und ich verfolgte telephonisch ihr weiteres Vorrücken. Sie beendeten ihr Unternehmen damit, daß sie Parlamentäre in den Smolny sandten. Vergeblich suchte die Provisorische Regierung eine Stütze. Der Boden schwand unter ihren Füßen.

Die Außenwache des Smolny ist durch ein neues Maschinengewehrkommando verstärkt worden. Die Verbindung mit allen Teilen der Garnison ist permanent. Wachkompanien sind bei allen Regimentern auf den Beinen. Die Kommissare sind in Bereitschaft. Delegierte von allen Truppenteilen befinden sich im Smolny und stehen dem Militärischen Revolutionskomitee zur Verfügung, für den FalL daß eine Verbindung unterbrochen werden sollte. Aus allen Stadtbezirken bewegen sich bewaffnete Abteilungen durch die Straßen, klingeln an den Portalen oder öffnen sie, ohne erst zu klingeln, und besetzen ein Amt nach dem anderen. Diese Abteilungen stoßen fast überall auf Freunde, die sie ungeduldig erwartet hatten. Auf den Bahnhöfen überwachen besonders dafür ernannte Kommissare die ankommenden und abgehenden Züge, hauptsächlich die Soldatentransporte. Nichts Beunruhigendes. Alle wichtigsten Punkte der Stadt gehen in unsere Hände über; fast ohne Widerstand, ohne Kampf, ohne Opfer. Das Telephon klingelt: „Wir sind hier.“

Alles ist gut. Kann nicht besser sein. Man darf sich vom Telephon entfernen. Ich setze mich aufs Sofa. Die nervöse Spannung nimmt ab. Und gerade deshalb schlägt eine dumpfe Welle der Müdigkeit gegen den Kopf. „Geben Sie eine Zigarette!“ sage ich zu Kamenjew. In jenen Jahren rauchte ich noch, wenn auch nicht regelmäßig. Ich mache zwei tiefe Züge und habe kaum Zeit, mir im Gedanken zu sagen: „Das hätte noch gefehlt“, als ich das Bewußtsein verliere. Die Neigung zu Ohnmachtsanfällen bei physischem Schmerz oder Unwohlsein habe ich von meiner Mutter geerbt. Das gab einem amerikanischen Arzt Anlaß, mir Epilepsie nachzusagen. Als ich das Bewußtsein wiedererlange, erblicke ich über mir das erschrockene Gesicht Kamenjews. „Soll man vielleicht irgendeine Medizin verschaffen?“ fragt er mich. „Es wäre besser“, sage ich nach kurzem Nachdenken, „etwas zum Essen zu verschaffen.“ Ich versuche, mich zu erinnern, wann ich zuletzt gegessen habe, ich kann es nicht, jedenfalls war es nicht gestern.

Am Morgen stürze ich mich auf die bürgerliche und die versöhnlerische Presse. Über den begonnenen Aufstand kein Wort. Die Zeitungen hatten von dem bevorstehenden Aufstand der bewaffneten Soldaten, von Plünderungen, von unvermeidlichen Blutströmen, Umstürzen so viel und so besessen geschrien, daß sie den Aufstand, der wirklich gekommen ist, einfach nicht bemerkt haben. Die Presse nahm unsere Verhandlungen mit dem Stab als bare Münze und unsere diplomatischen Erklärungen – als Unentschlossenheit Unterdessen eroberten Abteilungen von Soldaten, Matrosen und Rotarmisten auf Befehle hin, die aus dem Smolny kamen, ohne Chaos, ohne Straßenzusammenstöße, fast ohne Schießereien, ohne Blutvergießen ein Amt nach dem anderen.

Der Bürger rieb sich erschrocken die Augen unter dem neuen Regime. Haben die Bolschewiki wirklich die Macht erobert, wirklich? Es erschien bei mir eine Delegation der Stadtduma und stellte mir einige unnachahmliche Fragen: ob wir Demonstrationen planten, welche und wann; die Stadtduma müsse es „nicht weniger als vierundzwanzig Stunden vorher wissen“. Welche Maßnahmen der Sowjet zum Schutze der Sicherheit und Ordnung getroffen habe? Und so weiter, und so weiter. Ich antwortete mit der Darstellung der dialektischen Ansicht über die Revolution und schlug der Stadtduma vor, durch einen Delegierten an den Arbeiten des Militärischen Revolutionskomitees teilzunehmen. Das erschreckte sie mehr als die Umwälzung selbst. Ich schloß, wie stets, im Geiste der bewaffneten Verteidigung: „Wird die Regierung Eisen anwenden, dann werden wir mit Stahl antworten.“ „Werden Sie uns auseinanderjagen, weil wir gegen die Übernahme der Macht durch die Sowjets sind?“ Ich antwortete: „Die heutige Stadtduma ist ein Ausdruck des gestrigen Tages; sollte ein Konflikt entstehen, dann werden wir der Bevölkerung vorschlagen, Neuwahlen vorzunehmen, die über die Frage der Macht entscheiden mögen.“ Die Delegation entfernte sich ebenso klug, wie sie gekommen war. Sie hinterließ aber ein sicheres Gefühl des Sieges.

Manches hat sich in dieser Nacht verändert. Vor drei Wochen haben wir die Mehrheit im Petrograder Sowjet erobert. Wir waren fast nur ein Banner – ohne Druckerei, ohne Kasse, ohne Abteilungen. Noch in der vorigen Nacht hat die Regierung beschlossen, das Militärische Revolutionskomitee zu verhaften, und sammelte unsere Adressen. Und jetzt kommt eine Deputation der Stadtduma zum „verhafteten“ Revolutionären Kriegskomitee, sich nach ihrem Schicksal zu erkundigen.

Die Regierung tagte wie früher im Winterpalais, sie verwandelte sich aber nunmehr in ihren eigenen Schatten. Politisch existierte sie bereits nicht mehr. Das Winterpalais wurde während des 25. Oktober allmählich von Truppen umstellt. Um ein Uhr mittags referierte ich vor dem Petrograder Sowjet über die Lage. Der Zeitungsbericht schildert dieses Referat folgendermaßen: „Im Namen des Revolutionären Kriegskomitees erkläre ich, daß die Provisorische Regierung nicht mehr existiert (Beifall). Einzelne Minister sind verhaftet worden (Beifall). Andere werden in den nächsten Tagen oder Stunden verhaftet werden (Beifall). Die revolutionäre Garnison, die sich zur Verfügung des Revolutionären Kriegskomitees hält, hat das Vorparlament aufgelöst (Stürmischer Beifall). Wir haben die Nacht hier durchwacht und telephonisch beobachtet, wie die Abteilungen der revolutionären Soldaten und der Arbeitergarde lautlos ihre Sache durchführten. Der Bürger hatte friedlich geschlafen, ohne zu ahnen, daß inzwischen eine Macht durch die andere ersetzt worden war. Die Bahnhöfe, die Post- und Telegraphenämter, die Petrograder Telegraphenagentur, die Staatsbank sind besetzt (Stürmischer Beifall). Das Winterpalais ist noch nicht eingenommen, aber sein Schicksal wird sich in den nächsten Minuten entscheiden (Beifall).“

Dieser nackte Bericht läßt eine falsche Vorstellung von der Stimmung der Versammlung zu. Mein Gedächtnis gibt folgende Ergänzung: Als ich über den in der Nacht stattgefundenen Regierungswechsel berichtet hatte, trat für einige Sekunden ein gespanntes Schweigen ein. Dann begann ein Beifall, aber kein stürmischer, sondern ein nachdenklicher. Der Saal erlebte die Ereignisse abwartend. Als sich die Arbeiterklasse auf den Kampf vorbereitete, war sie von unbeschreiblichem Enthusiasmus erfaßt. Nun, da wir die Schwelle der Macht überschritten hatten, machte der elementare Enthusiasmus besorgtem Nachdenken Platz. Darin zeigte sich ein richtiger historischer Instinkt. Denn – noch lauerten vor uns die größten Widerstände der alten Welt, Kampf, Hunger, Kälte, Zerrüttung, Blut und Tod.. Werden wir das alles überwinden? fragten sich viele im stillen. Daher der Augenblick des besorgten Nachdenkens. Wir werden es überwinden – war die Antwort aller. Neue Gefahren schimmerten in fernen Perspektiven. Jetzt aber herrschte das Gefühl des großen Sieges, und dieses Gefühl sang im Blute. Es fand einen Ausweg in dem stürmischen Empfang, den man Lenin bereitete, der nach fast viermonatiger Abwesenheit in dieser Versammlung zum erstenmal erschien.

Spät am Abend, in Erwartung der Eröffnung des Sowjetkongresses, ruhten ich und Lenin uns aus in einem dem Sitzungssaal benachbarten Zimmer, in dem außer Stühlen nichts war. Jemand legte uns auf den Fußboden Decken, jemand – ich glaube, die Schwester Lenins – brachte uns Kissen. Wir lagen nebeneinander Körper und Seele lösten sich, wie eine überspannte Feder. Das war ein wohlverdientes Ausruhen. Schlafen aber konnten wir nicht. Halblaut unterhielten wir uns. Lenin hatte sich nun endgültig über die Verzögerung des Aufstandes beruhigt. Seine Befürchtungen zerstreuten sich. In seiner Stimme erklangen Töne von besonderer Herzlichkeit. Er erkundigte sich nach den aus Rotgardisten, Matrosen und Soldaten gebildeten, überall aufgestellten Wachen. „Welch ein großartiges Bild, der Arbeiter mit dem Gewehr neben dem Soldaten sich wärmend am Scheiterhaufen!“ wiederholte er tiefbewegt. „Endlich hat man den Soldaten mit dem Arbeiter zusammengebracht“ Plötzlich fuhr er auf: „Und das Winterpalais? Ist doch bis jetzt nicht eingenommen? Daß nur nichts passiert, wie?“ Ich wollte mich erheben, um mich telephonisch zu erkundigen, aber er hielt mich zurück. „Bleiben Sie liegen, ich werde jemand damit beauftragen.“ Aber zum lange Liegenbleiben war keine Zeit. Im Nebenzimmer wurde die Sitzung des Sowjetkongresses eröffnet. Die Schwester Lenins, Uljanowa, stürzte zu. mir. „Dan spricht, man ruft Sie.“ Mit versagender Stimme machte Dan den „Verschwörern“ Vorhaltungen und prophezeite den unvermeidlichen Zusammenbruch des Aufstandes. Er verlangte, daß wir mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki eine Koalition schließen sollten. Die Parteien, die, an der Macht stehend, noch gestern gegen uns gehetzt und uns in Gefängnisse gesteckt hatten, forderten heute, nachdem wir sie gestürzt, eine Verständigung mit uns. Ich antwortete Dan und in seiner Person dem gestrigen Tag der Revolution: „Was geschehen ist, ist ein Aufstand und nicht eine Verschwörung. Der Aufstand der Volksmassen bedarf keiner Rechtfertigung. Wir haben die revolutionäre Energie der Arbeiter und Soldaten gestählt. Wir haben den Willen der Massen offen für den Aufstand geschmiedet. Unser Aufstand hat gesiegt. Jetzt schlägt man uns vor: Verzichtet auf den Sieg und trefft ein Abkommen. Mit wem? Ihr seid klägliche Einzelerscheinungen, ihr seid Bankrotteure, eure Rolle ist ausgespielt, gehet hin wohin ihr von heute an gehött: auf den Kehrichthaufen der Geschichte.“ Das war die letzte Replik in jenem großen Dialog, der am 3. April begonnen hatte, an dem Tage und in der Stunde, als Lenin nach Petrograd gekommen war.


Fußnote

1. Nach dem alten Stil, der damals in Rußland noch der offizielle Stil war; nach dem westeuropäischen Kalender der 6. November. Dies erklärt die Tatsache, daß man bald von der Oktober-, bald von der Novemberrevolution spricht.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008