Leo Trotzki

 

Mein Leben


Der Beginn des Krieges

Auf den Wiener Zäunen erschienen Aufschriften: „Alle Serben müssen sterben.“ Das wurde der Ruf der Straßenjungen. Unser jüngster Knabe, Serjoscha, wie immer vom Geiste des Widerspruchs erfüllt, proklamierte auf der Sieveringer Wiese: „Hoch Serbien“ Er kehrte heim mit blauen Flecken und einer Lehre der internationalen Politik.

Buchanan, der frühere englische Gesandte in Petersburg, erzählt in seinen Memoiren mit Begeisterung von den „ersten wundervollen Augusttagen“, als „Rußland wie völlig verwandelt erschien“. Ähnliche Aussprüche der Begeisterung kann man auch in den Memoiren anderer Staatsmänner finden, wenn sie auch nicht so vollkommen die selbstzufriedene Beschränktheit der regierenden Klassen personifizieren wie Buchanan. In alten europäischen Hauptstädten waren die ersten Augusttage in gleicher Weise „wundervoll“, alle Länder gingen wie „verwandelt“ an die Arbeit ihrer gegenseitigen Vernichtung.

Besonders unerwartet kam die patriotische Erhebung der Massen in Österreich-Ungarn. Was trieb den Wiener Schuhmachergesellen, den Halbdeutschen-Halbtschechen Pospischil, oder unsere Grünkramhändlerin Frau Maresch oder den Droschkenkutscher Frankl auf den Platz vor dem Kriegsministerium? Der nationale Gedanke? Welcher? Österreich-Ungarn war die Verneinung der nationalen Idee. Nein, die bewegende Kraft war eine andere.

Solcher Menschen, deren ganzes Leben, tagaus, tagein, in monotoner Hoffnungslosigkeit verläuft, gibt es viele auf der Welt. Auf ihnen beruht die heutige Gesellschaft. Die Alarmglocke der Mobilisierung dringt in ihr Leben ein wie eine Verheißung. Alles Gewohnte, das man tausendmal zum Teufel gewünscht hat, wird umgeworfen, es tritt etwas Neues, Ungewöhnliches auf. Und in der Ferne müssen noch unübersehbarere Veränderungen geschehen. Zum Besseren? Oder zum Schlimmeren? Selbstverständlich zum Besseren: kann es den Pospischil schlimmer ergehen als zu „normalen“ Zeiten?

Ich wanderte durch die Hauptstraßen des mir so gut bekannten Wien und beobachtete die für den prunkvollen Ring so ungewöhnliche Menschenmenge, in der Hoffnungen lebendig wurden. Und hatte sich ein Teilchen dieser Hoffnungen nicht schon heute verwirklicht? Hätten sich zu einer anderen Zeit die Gepäckträger, Waschfrauen, Schuhmacher, Gehilfen und die Halbwüchsigen der Vorstadt auf der Ringstraße als Herren der Lage fühlen können? Der Krieg erfaßt alle, und folglich fühlen sich die Unterdrückten, vom Leben Betrogenen mit den Reichen und Mächtigen auf gleichem Fuße. Das soll nicht paradox genommen sein, daß ich in der Stimmung der Wiener Menschenmenge, die zum Ruhme der habsburgischen Waffen demonstrierte, jene Merkmale wiederfand, die ich von den Petersburger Oktobertagen 1905 her kannte. Ist doch der Krieg in der Geschichte der Vater der Revolution gewesen.

Aber wie verschieden, oder richtiger gesagt, entgegengesetzt ist das Benehmen der herrschenden Klassen in dem einen und in dem anderen Falle. Buchanan erschienen jene Tage wundervoll und Rußland erwacht. Dagegen schrieb Graf Witte über die pathetischsten Tage der Revolution von 1905: „Die ungeheure Mehrheit Rußlands hat gleichsam den Verstand verloren.“

Wie die Revolution wirft auch der Krieg das ganze Leben, von oben bis unten, aus dem Geleise. Aber die Revolution richtet ihre Schläge gegen die bestehende Macht. Der Krieg dagegen festigt in der ersten Zeit die Staatsmacht, die in dem durch den Krieg entstandenen Chaos als die einzige sichere Stütze erscheint ... bis derselbe Krieg sie untergräbt Die Hoffnungen auf stürmische soziale und internationale Bewegungen sind in Prag wie in Triest, in Warschau wie in Tiflis zu Beginn eines Krieges völlig unbegründet. Im September 1914 schrieb ich nach Rußland: „Mobilisierung und Kriegserklärung haben alle nationalen und sozialen Gegensätze im Lande gleichsam ausgewischt. Aber das ist nur eine histonsche Vertagung, sozusagen ein politisches Moratorium. Die Wechsel sind auf eine neue Frist umgeschrieben worden, aber man wird sie einlösen müssen.“ Mit diesen Zeilen, die der Zensur unterlagen, habe ich nicht nur Österreich-Ungarn gemeint, sondern auch Rußland, Rußland vor allem.

Die Ereignisse häuften sich. Es kam das Telegramm von der Ermordung Jaurès’. In den Zeitungen gab es so viel böswillige Lügen, daß, mindestens für einige Stunden, Zweifel und Hoffnung möglich blieben. Bald war diese Möglichkeit verschwunden. Jaurès war von den Feinden ermordet und von der eigenen Partei verraten worden.

Welche Stellung zum Kriege fand ich bei den leitenden Kreisen der österreichischen Sozialdemokratie? Die einen frohlockten offen, besudelten die Serben und Russen, ohne viel Unterschied zwischen Regierung und Volk zu machen: das waren die organischen Nationalisten, vom Lack der sozialistischen Kultur nur wenig bedeckt, und auch der bröckelte jetzt stündlich mehr und mehr von ihnen ab. Ich erinnere mich, wie Hans Deutsch, später so etwas wie ein Kriegsminister, offenherzig von der Unvermeidlichkeit und Heilsamkeit dieses Krieges sprach, der Österreich endlich vom serbischen „Alpdruck“ befreien würde. Die anderen – an deren Spitze Victor Adler stand – verhielten sich zum Krieg wie zu einer Naturkatastrophe, die man überstehen müsse. Diese abwartende Passivität diente dem aktiv nationalistischen Flügel als Deckung. Der eine oder der andere erinnerte tiefsinnig an den deutschen Sieg von 1871, der der deutschen Industrie einen mächtigen Stoß vorwärts gegeben hatte und damit auch der Sozialdemokratie.

Am 2. August erklärte Deutschland Rußland den Krieg. Schon vorher hatte die Abreise der Russen aus Wien begonnen. Am 3. August, morgens, begab ich mich in die Wienzeile, um mit den sozialistischen Deputierten zu beraten, was wir russischen Emigranten tun sollten. Friedrich Adler kramte in seinem Arbeitszimmer mechanisch weiter in Büchern, Papieren und Marken für den internationalen sozialistischen Kongreß, der demnächst in Wien stattfinden sollte. Aber der Kongreß war bereits in die Vergangenheit gesunken. In die Arena waren andere Kräfte getreten ... Der alte Adler schlug mir vor, mit ihm zusammen direkt an die Urquelle, das heißt zu dem Chef der politischen Polizei, Geyer, zugehen. Im Auto, unterwegs zur Präfektur, machte ich Adler darauf aufmerksam, daß der Krieg äußerlich eine festliche Stimmung hervorgerufen habe. „Es freuen sich alle jene, die nicht in den Krieg zu gehen brauchen“, antwortete er mir „Außerdem strömen jetzt alle überspannten, alle Verrückten auf die Straße: das ist ihre Zeit. Die Ermordung Jaurès ist nur der Anfang. Der Krieg entfesselt alle Instinkte, alle Arten des Wahnsinns ...“

Psychiater seinem alten medizinischen Fach nach, ging Adler an politische Ereignisse, „besonders an österreichische“ – wie er ironisch zu bemerken pflegte –, oft vom psychopathologischen Standpunkt aus heran. Wie weit war er in jenem Augenblick von dem Gedanken entfernt, daß sein eigener Sohn einen politischen Mord begehen würde. In der Zeitschrift Kampf, die vom Adler-Sohn redigiert wurde, hatte ich gerade am Vorabend des Krieges einen Artikel über die Unhaltbarkeit des individuellen Terrors veröffentlicht. Es ist bemerkenswert, daß der Redakteur diesen Artikel sehr gelobt hatte. Der terroristische Akt Friedrich Adlers war ein Aufbäumen des verzweifelten Opportunismus, nichts weiter. Nachdem er seiner Verzweiflung einen Ausweg gegeben hatte, kehrte Adler auf sein altes Geleise zurück.

Geyer sprach vorsichtig die Vermutung aus, daß schon am andern Morgen früh ein Befehl zur Verhaftung der Russen und Serben herausgegeben werden würde.

„Also Sie empfehlen abzureisen?“

„Je schneller, um so besser.“

„Schön, ich fahre morgen mit der Familie in die Schweiz.“

„Hm ... ich würde es vorziehen, Sie täten es heute.“

Dieses Gespräch fand um 3 Uhr mittags statt, und um 6.10 saß ich schon mit meiner Familie im Zug, der nach Zürich fuhr. Hinter mir blieben siebenjährige Verbindungen, Bücher, Archive, angefangene Arbeiten, darunter eine Polemik gegen Professor Masaryks Buch über die Schicksale der russischen Kultur.

Das Telegramm von der Kapitulation der deutschen Sozialdemokratie erschütterte mich mehr als die Kriegserklärung, obwohl ich von einer naiven Idealisierung des deutschen Sozialismus weit entfernt war. Im Jahre 1905 und auch später schrieb ich wiederholt: „Die europäischen sozialistischen Parteien haben einen eigenen Konservativismus ausgearbeitet, der um so stärker ist, je größere Massen der Sozialismus erfaßt ... Infolgedessen kann die Sozialdemokratie im gegebenen Augenblick ein unmittelbares Hindernis werden auf dem Wege des offenen Zusammenstoßes der Arbeiter mit der bürgerlichen Reaktion. Mit anderen Worten, der propagandistisch-sozialistische Konservativismus der proletarischen Partei kann in einem bestimmten Augenblick den direkten Kampf des Proletariats um die Macht verhindern.“ Ich hatte nicht erwartet, daß die offiziellen Führer der Internationale im Falle eines Krieges sich als fähig erweisen würden zur revolutionären Initiative. Aber gleichzeitig ließ ich den Glauben nicht zu, daß die Sozialdemokratie einfach auf dem Bauche kriechen werde vor dem nationalen Militarismus.

Als die Nummer des Vorwärts mit dem Bericht über die Reichstagssitzung vom 4. August in die Schweiz kam, war Lenin der festen Überzeugung, es sei eine gefälschte Nummer, die der deutsche Generalstab zum Betruge und zur Einschüchterung der Feinde herausgebracht habe. So groß war noch, trotz allem Kritizismus, Lenins Vertrauen zur deutschen Sozialdemokratie. Zur gleichen Zeit hatte die Wiener Arbeiter-Zeitung den Tag der Kapitulation des deutschen Sozialismus als „den großen Tag der deutschen Nation“ proklamiert. Das war der Höhepunkt des Austerlitz! – Sein „Austerlitz“, ... Ich glaubte nicht, daß der Vorwärts gefälscht war: die ersten unmittelbaren Eindrücke in Wien hatten mich bereits auf das Schlimmste vorbereitet. Und doch blieb die Abstimmung vom 4. August eines meiner tragischsten Erlebnisse. Was würde Engels sagen? fragte ich mich. Die Antwort war mir klar. Aber wie hätte Bebel gehandelt? Da konnte ich keine volle Klarheit finden. Doch Bebel gab es nicht mehr. Es gab nur Haase, den ehrlichen kleinstädtischen Demokraten, ohne theoretischen Horizont und ohne revolutionäres Temperament In jeder kritischen Lage neigte er dazu, sich vor unabänderlichen Entschlüssen zurückzuhalten und Zuflucht zu nehmen zu halben Maßnahmen und zum Abwarten. Die Ereignisse waren für ihn zu groß. Und dann folgten die Scheidemann, Ebert, Wels ...

Die Schweiz war eine Widerspiegelung von Deutschland und Frankreich, nur in neutralem, das heißt gemildertem und auch kleinerem Maßstab. Zur vollständigen Anschaulichkeit saßen. im Schweizer Parlament zwei sozialistische Deputierte mit gleichem Namen und Vornamen: Johann Sigg aus Zürich und Jean Sigg aus Genf. Johann, ein wütender Germanophile, und Jean, ein noch wütenderer Frankophile. Das war der Schweizer Spiegel der Internationale.

Ungefähr im zweiten Kriegsmonat traf ich in Zürich auf der Straße den alten Molkenbuhr, der zur Bearbeitung der öffentlichen Meinung hierher gekommen war. Auf meine Frage, wie sich seine Partei den Verlauf des Weltkrieges denke, antwortete mir das alte Vorstandsmitglied: „Im Laufe der nächsten zwei Monate werden wir mit Frankreich fertig sein, dann werden wir uns dem Osten zuwenden, um mit den Zarentruppen fertig zu werden, und in drei, höchstens vier Monaten werden wir Europa einen dauerhaften Frieden geben.“ Diese Antwort ist in meinem Tagebuch wörtlich notiert. Molkenbuhr sprach selbstverständlich nicht seine persönliche Meinung aus. Das war einfach die offizielle Ansicht der Sozialdemokratie. Zur gleichen Zeit ging der französische Gesandte in Petersburg mit Buchanan eine Wette um fünf Pfund Sterling ein, daß der Krieg bis zu Weihnachten beendet sein würde. Da haben wir „Utopisten“ doch so manches besser vorausgesehen als diese „realpolitischen“ Herrschaften – von der Sozialdemokratie und von der Diplomatie.

Die Schweiz, wo ich gezwungen war, den Krieg abzuwarten, erinnerte mich an die finnische Pension Rauha, wo mich im Herbst 1905 die Nachricht von der revolutionären Erhebung erreichte. Gewiß, auch in der Schweiz war die Armee mobilisiert, und in Basel konnte man sogar den Kanonendonner hören. Und doch erinnerte die helvetische Pension, deren Hauptsorge in dem Überfluß an Käse und dem Mangel an Kartoffeln bestand, an eine ruhige Oase, die von einem Feuerring des Krieges umgeben war. Vielleicht ist die Stunde doch nicht gar so fern, fragte ich mich, wo man die Schweizer Oase Rauha (Ruhe) wird verlassen können, um wieder im Saal des Technologischen Instituts mit den Petersburger Arbeitern zusammenzukommen? Doch diese Stunde schlug erst nach dreiunddreißig Monaten.

Das Bedürfnis, mir selbst Rechenschaft abzulegen über das, was geschah, zwang mich, zu einem Tagebuch zu greifen. Bereits am 9. August schrieb ich darin: „Es ist ganz klar: es handelt sich nicht um Irrtümer, nicht um einzelne opportunistische Schritte, nicht um ungeschickte Erklärungen von der Parlamentstribüne herab, nicht um die Abstimmung den großherzoglich badischen Sozialdemokraten für das Budget, nicht um das Experiment des französischen Ministerialismus, nicht um das Renegatentum einiger Führer, – es handelt sich um den Zusammenbruch der Internationale in der verantwortlichsten Periode, für die die gesamte vergangene Arbeit nur eine Vorbereitung gewesen war.“

Am 11. August schrieb ich in mein Tagebuch: „Nur die Entfachung einer revolutionären sozialistischen Bewegung, die gleich einen stürmischen Charakter wird annehmen müssen, kann das Fundament für die neue Internationale legen. Die kommenden Jahre werden eine Epoche sozialer Revolutionen sein.“

Ich trat aktiv in das Leben der sozialistischen Partei der Schweiz ein. Bei den unteren Arbeiterschichten fand der Internationalismus fast ungeteilte Sympathie. Aus jeder Parteiversammlung nahm ich einen doppelten Vorrat an Überzeugung von der Richtigkeit meiner Position mit. Den ersten Stützpunkt fand ich bei dem seiner Zusammensetzung nach internationalen Arbeiterverein „Eintracht“. Nach Verständigung mit der Leitung arbeitete ich Anfang September ein Manifest aus gegen den Krieg und den Sozialpatriotismus. Die Leitung der „Eintracht“ lud die Parteiführer zu einer Versammlung ein, in der ich ein deutsches Referat zur Verteidigung des Manifestes hielt. Die Führer jedoch waren nicht erschienen. Sie betrachteten es als zu riskant, zu dieser akuten Frage Stellung zu nehmen, und zogen es vor, abzuwarten und sich vorläufig auf die Zimmerkritik an den „Exzessen“ des französischen und des deutschen Chauvinismus zu beschränken. Die von der „Eintracht“ einberufene Versammlung nahm fast einstimmig das Manifest an, das trotz all seiner Zurückhaltung ein ernster Antrieb für die öffentliche Meinung in der Partei wurde. Das war seit Beginn des Krieges vielleicht das erste internationalistische Dokument im Namen einer Arbeiterorganisation.

In jenen Tagen kam ich zum erstenmal mit Radek näher zusammen, der zu Kriegsbeginn aus Deutschland in die Schweiz gekommen war. Er stand in der deutschen Partei auf der äußersten Linken, und ich hoffte, in ihm einen Gesinnungsgenossen zu treffen. In der Tat, Radek äußerte sich in schärfster Weise über die regierende Schicht der deutschen Sozialdemokratie. Darin waren wir einig. Aber mit Staunen gewahrte ich bei einem Gespräch mit ihm, daß er an die Möglichkeit einer proletarischen Revolution im Zusammenhang mit dem Krieg wie überhaupt in der nächsten Epoche gar nicht dachte. Nein, sagte er, dazu sind die Produktivkräfte der Menschheit im ganzen betrachtet noch nicht entwickelt genug. Ich war zu sehr daran gewöhnt, zu hören, daß die Produktivkräfte Rußlands für die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse nicht genügend entwickelt wären. Aber ich hatte mir bis dahin eine solche Antwort von einem revolutionären Polkiker eines fortgeschrittenen kapitalistischen Landes nicht denken können. Kurz nach meiner Abreise aus Zürich hielt Radek in derselben „Eintracht“ ein großangelegtes Referat und wies ausführlich nach, daß die kapitalistische Welt für die sozialistische Revolution noch nicht reif sei.

Über Radeks Referat wie überhaupt über den Züricher sozialistischen Kreuzweg zu Beginn des Krieges berichtet der Schweizer Schriftsteller Fritz Brupbacher in seinen nicht uninteressanten Erinnerungen. Es ist bemerkenswert, daß Brupbacher meine damaligen Ansichten ... pazifistisch nennt. Was er damit meint, ist unverständlich. Seine eigene Entwicklung seit jener Zeit charakterisiert er in dem Titel eines seiner Bücher also: Vom Kleinbürger zum Bolschewik. Ich habe eine hinreichend klare Vorstellung von den damaligen Ansichten Brupbachers bekommen, um mich völlig der ersten Hälfte dieses Titels anzuschließen. Was die zweite Hälfte betrifft, so übernehme ich für sie keine Verantwortung.

Als die deutschen und französischen sozialistischen Zeitungen ein klares Bild der politischen und moralischen Katastrophe des offiziellen Sozialismus boten, legte ich das Tagebuch beiseite zugunsten einer politischen Broschüre über Krieg und Internationale, Unter dem Eindruck meiner ersten Unterhaltung mit Radek schrieb ich zu der Broschüre ein Vorwort, in dem ich besonders energisch betonte, daß der gegenwärtige Krieg nichts anderes sei als eine Rebellion der Produktivkräfte des Kapitalismus, im Weltmaßstabe gesehen, – gegen den Privatbesitz einerseits und die Staatsgrenzen andererseits. Das Buch Krieg und Internationale, wie auch alle anderen Bücher, hatte sein eigenes Schicksal, zuerst in der Schweiz, dann in Deutschland und Frankreich, später in Amerika und schließlich in der Sowjetrepublik. Darüber muß ich hier einige Worte sagen.

Meine Arbeit übersetzte ein Russe, der Deutsch nur sehr unvollkommen beherrschte, aus dem russischen Manuskript. Die Übersetzung durchzuredigieren übernahm der Züricher Professor Ragaz. Das gab mir die Möglichkeit, diese eigenartige Persönlichkeit kennenzulernen. Ein gläubiger Christ, mehr noch: Theologe seiner Bildung und Profession nach, stand Ragaz auf dem äußersten linken Flügel des schweizerischen Sozialismus, er vertrat die radikalsten Kampfmethoden gegen den Krieg und war für die proletarische Revolution. Sowohl er wie seine Frau erregten meine Sympathie durch den tiefen sittlichen Ernst, mit dem sie an politische Probleme herangingen, was sie von den österreichischen, deutschen, schweizerischen und anderen gedankenlosen Bürokraten der Sozialdemokratie so vorteilhaft unterschied. Soviel wie mir bekannt ist, war Ragaz später gezwungen, das Universitätskatheder seinen Überzeugungen zum Opfer zu bringen. für das Milieu, dem er angehörte, ist das nicht wenig. Bei den Unterhaltungen, die ich mit ihm hatte, empfand ich neben der Hochachtung für diesen hervorragenden Menschen beinah physisch einen dünnen, aber absolut undurchdringlichen Schleier zwischen uns. Er war Mystiker durch und durch, und obwohl er seinen Glauben keinem aufzudrängen suchte noch ihn überhaupt erwähnte, umgab er in seinen Reden sogar den bewaffneten Aufstand mit einem Hauch von Jenseitigkeit, der bei mir einen unangenehmen Schüttelfrost hervorrief. Seit ich zu denken begonnen hatte, war ich stets, zuerst intuitiver, dann bewußter Materialist; ich empfand nicht nur kein Bedürfnis nach anderen Welten, sondern ich konnte niemals eine psychologische Brücke zu jenen Menschen finden, denen es gelingt, gleichzeitig Darwin und die Heilige Dreieinigkeit anzuerkennen.

Dank Ragaz erschien mein Buch in einer guten deutschen Sprache. Schon im Dezember 1914 fand es aus der Schweiz den Weg nach Österreich und Deutschland. Dafür hatten vor allem die Schweizer Linken gesorgt; F. Platten und andere. Die für die deutschen Länder bestimmte Broschüre richtete sich in erster Linie gegen die deutsche Sozialdemokratie, die führende Partei der Zweiten Internationale. Ich glaube, es war der Journalist Heilmann, der die erste Geige im Orchester des Chauvinismus spielte, welcher mein Buch irrsinnig, aber in seinem Irrsinn konsequent nannte! Ein größeres Lob konnte ich mir nicht wünschen. Es fehlte natürlich auch nicht an Anspielungen, daß die Broschüre ein geschicktes Mittel ententistischer Propaganda sei.

Später, in Frankreich, las ich eines Tages zufällig in einer französischen Zeitung ein Telegramm aus der Schweiz, daß ein deutsches Gericht mich wegen meiner Züricher Broschüre in contumaciam zu Gefängnis verurteilt habe. Daraus schloß ich, daß die Broschüre ihr Ziel erreicht hatte. Die Richter des Hohenzollern erwiesen mir durch dieses Urteil, das zu begleichen ich mich nicht beeilte, einen sehr wertvollen Dienst. Für die Verleumder und Spitzel der Entente blieb das deutsche Gerichtsurteil stets ein Stein des Anstoßes bei ihren edlen Bemühungen, zu beweisen, daß ich eigentlich ein Agent des deutschen Generalstabs sei.

Das hat aber die französische Behörde nicht gehindert, mein Buch an der Grenze festzuhalten, wegen seines „germanischen Ursprunges“. Zur Verteidigung meiner Broschüre vor der französischen Zensur erschien eine zweideutige Notiz in der Zeitung des Hervé. Ich nehme an, daß die Notiz von dem hinreichend bekannten Ch. Rappaport stammte, der, selbst beinahe Marxist, jedenfalls der Autor der größten Anzahl von Wortspielen ist, die je ein Mensch, der ihnen sein langes Leben widmete, vollbracht hat.

Nach der Oktoberrevolution hat ein findiger New Yorker Verleger meine deutsche Broschüre in der Form eines soliden amerikanischen Buches herausgegeben. Nach seiner eigenen Erzählung hat Wilson ihn aus dem Weißen Hause telephonisch um die Zusendung der Korrekturabzüge gebeten: der Präsident fabrizierte zu jener Zeit seine 14 Punkte und konnte, wie unterrichtete Personen behaupten, es nicht verdauen, daß die Bolschewiki ihm seine besten Formeln vorweggenommen hatten. Im Laufe von zwei Monaten wurde das Buch in Amerika in 16.000 Exemplaren verbreitet Aber es kamen die Tage des Brest-Litowsker-Friedens, die amerikanische Presse begann gegen mich eine wüste Hetze, und das Buch verschwand vom Büchermarkt.

In der Sowjetrepublik erlebte meine Züricher Broschüre inzwischen nicht wenige Auflagen und diente als Material für das Studium marxistischer Kriegsbetrachtung. Vom „Markte“ der Komintern verschwand sie erst im Jahre 1924, nachdem der „Trotzkismus“ entdeckt worden war. Heute ist sie dort ein verbotenes Werk, wie vor der Revolution. Somit sehen wir, daß Bücher tatsächlich ihr Schicksal haben.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003