Leo Trotzki

 

Mein Leben


Rückkehr nach Rußland

Meine Verbindung mit der Minderheit des zweiten Kongresses war von kurzer Dauer. Schon im Laufe der nächsten Monate begannen sich bei dieser Minderheit zwei Linien herauszubilden. Ich war für die Vorbereitung einer möglichst schnellen Wiedervereinigung mit der Mehrheit, denn ich betrachtete die Spaltung nur als eine wichtigere Episode, – und nichts mehr. Für die anderen war die Spaltung, die der zweite Kongreß gebracht hatte, ein Ausgangspunkt für die Entwicklung in die Richtung zum Opportunismus hin. Das ganze Jahr 1904 stand ich in politischen und organisatorischen Konflikten mit der führenden Gruppe der Menschewiki. Die Konflikte drehten sich um zwei Punkte: um die Stellung zum Liberalismus und die Stellung zu den Bolschewiki. Ich war für unversöhnliche Abwehr aller Versuche der Liberalen, sich auf die Massen zu stützen, und gleichzeitig und gerade deshalb forderte ich immer energischer die Vereinigung der beiden sozialdemokratischen Fraktionen. Im September erklärte ich formell meinen Austritt aus der Minderheit, der ich eigentlich schon seit April 1904 nicht mehr angehörte Während dieser Periode verbrachte ich einige Monate abseits von der russischen Emigration in München, das damals als die demokratischste und künstlerischste Stadt Deutschlands galt. Ich habe die bayerische Sozialdemokratie, die Münchener Galerien und- die Zeichner des Simplicissimus recht gut gekannt.

Bereits während der Tagung des Parteikongresses war der ganze Süden Rußlands von einer mächtigen Streikwelle erfaßt Bauern-unruhen häuften sich. Die Universitäten waren in Gärung. Der russisch-japanische Krieg hatte für eine Weile die Bewegung aufgehalten; aber der militärische Zusammenbruch des Zarismus wurde bald zu einem gewaltigen Motor der Revolution. Die Presse wurde immer mutiger, terroristische Akte häuften sich, die Liberalen kamen in Bewegung, es begann die Bankettkampagne. Die grundlegenden Fragen der Revolution wurden akut. Die Abstraktionen füllten sich für mich gründlich mit sozialem Stoff. Die Menschewiki besonders Wera Sassulitsch, übertrugen ihre Hoffnungen immer mehr auf die Liberalen.

Schon vor dem Parteitag, nach einer Redaktionssitzung im Café Landolt, beklagte sich Wera Sassulitsch mit der besonderen, ihr in solchen Fällen eigenen, schüchtern-eindringlichen Stimme, daß wir die Liberalen zu sehr angriffen. Das war ihr wundester Punkt.

„Seht doch, wieviel Mühe sie sich geben.“ Sie blickte beim Sprechen zwar an Lenin vorbei, aber gerade ihn meinte sie in erster Linie. „Struve fordert, daß die russischen Liberalen mit dem Sozialismus nicht brechen mögen, denn sonst drohe ihnen das klägliche Schicksal des deutschen Liberalismus; lieber sollten sie sich ein Beispiel an den französischen Radikal-Sozialisten nehmen.“

„Um so mehr muß man sie prügeln“, sagte Lenin, lustig lächelnd und Wera lwanowna gleichsam absichtlich reizend.

„Na, so was“, rief sie voller Verzweiflung aus, „sie kommen uns entgegen, und wir sollten sie prügeln!“

Ich stand in dieser Frage, die mit der Zeit immer entscheidenderen Charakter gewann, völlig auf Lenins Seite.

Während der liberalen Bankettkampagne, die schnell in eine Sackgasse geriet, stellte ich im Herbst 1904 die Frage: „Was weiter?“ und antwortete darauf: „Den Ausweg kann nur ein allgemeiner Streik einleiten, dem ein Aufstand des Proletariats, das sich an die Spitze der Volksmassen gegen den Liberalismus stellt, folgen muß.“ Das hat die Kluft zwischen mir und den Menschewiki vertieft.

Am 23. Januar (1905) kehrte ich von einer Vortragsreise nach Genf zurück, müde und zerschlagen nach einer schlaflosen, im Zuge verbrachten Nacht. Ein Junge hatte mir eine Zeitung vom vorigen Tage verkauft. Darin war in Zukunftsform von der Prozession der Arbeiter zum Winterpalais die Rede. Ich schloß daraus, daß sie nicht stattgefunden hatte. Nach etwa zwei Stunden kam ich in die Redaktion der Iskra. Martow war äußerst erregt. „Sie hat nicht stattgefunden?“ fragte ich ihn. „Wie, nicht stattgefunden?“ stürzte er sich auf mich. „Wir haben die ganze Nacht im Café verbracht, um neue Telegramme zu lesen. Ja, wissen Sie denn nicht? Hier, hier, hier ...“ Er hielt mir die Zeitung hin. Ich durchlief die ersten zehn Zeilen des telegraphischen Berichts über den blutigen Sonntag. Eine dumpfe brennende Welle schlug mir gegen den Kopf.

Noch länger im Ausland zu bleiben, vermochte ich nicht. Mit den Bolschewiki hatte ich seit dem Parteitag keine Verbindung mehr. Mit den Menschewiki hatte ich organisatorisch gebrochen. Es blieb mir nur übrig, auf eigene Faust zu handeln. Mit Hilfe von Studenten erhielt ich einen Paß. Mit meiner Frau, die im Herbst 1904 ins Ausland zurückgekehrt war, fuhren wir nach München ab. Hier brachte uns Parvus bei sich unter. Er las mein Manuskript durch, das den Ereignissen bis zum 9. Januar gewidmet war, und kam in gehobene Stimmung. „Die Ereignisse haben diese Prognose vollauf bestätigt. Jetzt wird es niemand mehr zu bestreiten wagen, daß der allgemeine Streik die grundlegende Kampfmethode sei. Der 9. Januar, das ist der erste politische Streik, wenn auch unter der Hülle einer Popenkutte. Man muß es nur aussprechen, daß die Revolution in Rußland eine demokratische Arbeiterregierung an die Macht bringen kann.“ In diesem Sinne schrieb Parvus ein Vorwort zu meiner Broschüre.

Parvus war zweifellos eine hervorragende Gestalt unter den Marxisten am Ende des vorigen und am Anfang dieses Jahrhunderts. Er beherrschte die marxistische Methode vollkommen, hatte einen weiten Blick, verfolgte alles Wesentliche in der Weltarena, was ihn bei seiner außerordentlichen Kühnheit des Denkens und einem männlichen, muskulösen Stil zu einem wahrhaft hervorragenden Schriftsteller machte. Seine alten Arbeiten haben mir die Fragen der sozialen Revolution nähergebracht und die Machteroberung des Proletariats aus einem astronomischen „Endziel“ in eine praktische Aufgabe unserer Zeit verwandelt. Leider war an Parvus stets etwas Unberechenbares und Unzuverlässiges. Außer allem anderen war dieser Revolutionär von einem ganz ungewöhnlichen Wunsch besessen: reich zu werden. Diesen Traum verband er in jenen Jahren mit seiner Auffassung von der sozialen Revolution. „Der Parteiapparat ist verknöchert“, klagte er, „selbst in Bebels Kopf ist schwer einzudringen. Wir revolutionären Marxisten brauchen eine große Tageszeitung, die gleichzeitig in drei europäischen Sprachen erscheint Aber dazu ist Geld nötig, viel Geld.“ So verflochten sich in diesem schweren, fleischigen Bulldoggenkopf Gedanken an die soziale Revolution mit Gedanken an Reichtum. Parvus machte in München den Versuch, einen eigenen Verlag zu gründen, aber das endete für ihn recht traurig. Dann folgte die Reise Parvus’ nach Rußland und seine Teilnahme an der Revolution von 1905. Trotz seiner Initiative und dem Scharfsinn seines Denkens hat er niemals Führereigenschaften bewiesen. Nach der Niederlage der Revolution von 1905 begann Parvus’ Abstieg. Aus Deutschland übersiedelte er nach Wien, von dort nach Konstantinopel, wo ihn der Weltkrieg erreichte. An diesem bereicherte Parvus sich sehr schnell durch irgendwelche kriegskommerziellen Operationen. Gleichzeitig trat er öffentlich als Verkünder der fortschrittlichen Mission des deutschen Militarismus auf, brach endgültig mit den Linken und wurde einer der Inspiratoren des äußersten rechten Flügels der deutschen Sozialdemokratie. Es ist überflüssig zu sagen, daß ich seit Kriegsbeginn alle Beziehungen zu ihm abgebrochen hatte, nicht nur die politischen, sondern auch die persönlichen.

Von München reiste ich mit Sedowa nach Wien. Der Strom der Emigranten ergoß sich nach Rußland zurück. Victor Adler ging völlig in russischen Angelegenheiten auf: verschaffte für die Emigranten Geld, Pässe, Adressen ... In seiner Wohnung veränderte ein Friseur mein Äußeres, das den russischen Spitzeln im Auslande zu gut bekannt war.

„Ich habe soeben von Axelrod ein Telegramm erhalten“, teilte mir Adler mit, „daß Gapon ins Ausland gekommen sei und sich als Sozialdemokrat erklärt habe. Schade ... Verschwände er für immer, er würde eine schöne Legende bleiben. In der Emigration wird er nur eine komische Figur sein. Wissen Sie“, fügte er hinzu, während in seinen Augen jenes Feuer aufflammte, das die Härte seiner Ironie milderte, „es ist besser, solche Menschen als historische Märtyrer zu haben denn als Parteigenossen ...“

In Wien erreichte mich die Nachricht von der Ermordung des Großfürsten Sergius. Die Ereignisse überstürzten sich. Die sozialdemokratische Presse wandte ihre Blicke nach dem Osten. Meine Frau führ voraus, um in Kiew Wohnung und Verbindungen vorzubereiten. Mit dem Paß eines verabschiedeten Fähnrichs Arbusow kam ich im Februar nach Kiew, wo ich während einiger Wochen aus einer Wohnung in die andere wanderte, zuerst bei einem jungen Advokaten wohnte, der vor seinem eigenen Schatten Angst hatte, dann bei einem Professor der Technischen Hochschule, später bei einer liberalen Witwe. Eine Zeitlang verbarg ich mich sogar in einer Augenklinik. Nach Vorschrift des Chefarztes, der in meine Geschichte eingeweiht war, machte mir die Schwester Fußbäder und harmlose Einspritzungen in die Augen. Ich mußte doppelt konspirieren: die Proklamationen schrieb ich geheim vor der Schwester, die streng darüber wachte, daß ich meine Augen nicht übermüde. Während seiner Besuchszeit stürzte der Professor, nachdem er unter irgendeinem Vorwand den verhaßten Assistenten entfernt hatte, mit der ihn begleitenden Ärztin, der er vertraute, in mein Zimmer, schloß die Tür hastig hinter sich, hing das Fenster zu, angeblich um meine Augen zu untersuchen. Dann lachten wir drei vorsichtig, aber lustig. „Gibt es Zigaretten?“ fragte der Professor. „Jawohl“, antwortete ich. „Quantum satis?“ „Quantum satis“ Wir lachten wieder. Damit endete die Untersuchung, und ich kehrte zu meinen Proklamationen zurück. Mich amüsierte dieses Leben sehr. Es war nur peinlich vor der freundlichen älteren Schwester, die mir so gewissenhaft die Fußbäder bereitete.

In Kiew existierte damals eine berühmte illegale Druckerei, die trotz der Verhaftungen ringsherum einige Jahre hintereinander direkt vor der Nase des Gendarmeriegenerals Nowitzki erhalten blieb. In dieser Druckerei wurden im Jahre 1905 auch meine Proklamationen gedruckt. Die größeren Aufrufe übergab ich jedoch dem jungen Ingenieur Krassin, den ich in Kiew kennengelernt habe. Krassin gehörte zum bolschewistischen Zentralkomitee und hatte eine glänzend eingerichtete illegale Druckerei im Kaukasus zu seiner Verfügung. Ich schrieb in Kiew eine Reihe Flugblätter, die in dieser Druckerei trotz der illegalen Verhältnisse ganz ungewöhnlich sauber gedruckt wurden.

Die Partei wie die Revolution waren damals noch sehr jung, und an den Menschen und den Handlungen fiel eine gewisse Unerfahrenheit und Unfertigkeit auf. Auch Krassin war natürlich von diesem Stempel nicht frei. Aber an ihm war doch etwas Festes, Entschiedenes und „Administratives“. Er war Ingenieur mit einer ansehnlichen Praxis, war in Stellung, und zwar in guter Stellung, wurde sehr geschätzt, sein Bekanntenkreis war weiter und mannigfaltigen als es damals sonst der Fall war bei den jungen Revolutionären. In den Arbeitervierteln, in den Wohnungen der Ingenieure, in den Palästen der liberalen Moskauer Fabrikanten, in Schriftstellerkreisen – überall hatte Krassin seine Verbindungen. Er verstand das alles geschickt zu vereinen, und ihm eröffneten sich praktische Möglichkeiten, die anderen völlig unerreichbar waren. Im Jahre 1905 leitete Krassin, neben seiner Beteiligung an der allgemeinen Arbeit der Partei, die gefährlichsten Unternehmungen: Kampfgruppen, Ankauf von Waffen, Bereitung von Explosivstoffen und so weiter. Trotz seines weiten Horizonts war Krassin in der Politik und überhaupt im Leben in erster Linie ein Mensch der unmittelbaren Handlung. Das war seine Stärke. Aber darin bestand auch seine Achillesferse. Lange Jahre mühsamer Kräftesammlung, politischer Schulung, theoretischer Durcharbeitung von Erfahrungen – nein, dazu war er nicht geeignet. Als die Revolution 1905 die Hoffnungen nicht erfüllt hatte, traten für ihn die Elektrotechnik und die Industrie an die erste Stelle. Krassin hat sich auch hier als hervorragender Praktiker gezeigt, als ein Mensch, der Außerordentliches zu erreichen vermochte. Zweifellos gaben ihm die großen Erfolge seiner Tätigkeit als Ingenieur jene persönliche Befriedigung, die ihm in den vorangegangenen Jahren der revolutionäre Kamp bereitet hatte. Dem Oktoberumsturz begegnete er mit feindseliger Verständnislosigkeit, wie einem im voraus zum Mißerfolg verurteilten Abenteuer. Er hat lange an unsere Fähigkeit, mit dem Zerfall fertig zu werden, nicht geglaubt. Dann aber wurde er von der großen Arbeitsmöglichkeit mitgerissen ...

Für mich war die Verbindung mit Krassin im Jahre 1905 ein wahrer Schatz. Wir verabredeten, uns in Petersburg zu treffen. Von ihm erhielt ich auch die konspirativen Adressen. Die erste und wichtigste war die in der Konstantin-Artillerieschule bei dem Oberarzt Alexander Alexandrowitsch Litkens, mit dessen Familie mich das Schicksal für lange Jahre verbunden hat. In der Wohnung Litkens’ auf dem Sabalkanski-Prospekt, im Gebäude der Schule, habe ich mich in den unruhigen Tagen und Nächten von 1905 mehr als einmal verborgen gehalten. Mitunter besuchten mich in der Wohnung des Oberarztes, an den Augen des Wachtmeisters vorbeigehend, Gestalten, wie sie der Hof und die Treppen der Kriegsschule vorher niemals gesehen hatten Aber das untere Dienstpersonal war voller Sympathie für den Oberarzt. Verrat kam nicht vor, alles verlief glücklich. Der ältesre Sohn des Doktors, Alexander, damals achtzehn Jahre alt, war bereits Mitglied der Partet leitete einige Monate später den Bauernaufstand im Gouvernement Orlow, ertrug aber die nervösen Erschütterungen nicht, erkrankte und starb bald. Der jüngere Sohn, Jewgraf, zu jener Zeit noch Gymnasiast, spielte später eine bedeutende Rolle im Bürgerkriege und in der Kulturarbeit der Sowjetrepublik, wurde aber im Jahre 1921 in der Krim von Banditen ermordet.

Offiziell lebte ich in Petersburg unter dem Namen eines Gutsbesitzers Wikentjew. In revolutionären Kreisen trat ich als Peter Petrowitsch auf. Organisatorisch gehörte ich zu keiner Fraktion. Ich arbeitete weiter mit Krassin, der damals Bolschewik-Versöhnler war: das hatte uns einander noch nähergebracht, infolge meiner damaligen Einstellung. Gleichzeitig unterhielt ich die Verbindung mit der dortigen Gruppe der Menschewiki, die damals eine sehr revolutionäre Linie verfolgte. Unter meinem Einfluß stellte sich die Gruppe auf den Standpunkt des Boykotts der gesetzberatenden Duma und kam dadurch in Konflikt mit ihrem Zentrum im Auslande. Die menschewistische Gruppe flog jedoch bald auf. Sie wurde von ihrem aktiven Mitglied Dobroskok, genannt „Nikolaus, die Goldene Brille“, verraten, der wie sich herausstellte, professionelle; Provokateur war. Er wußte, daß ich mich in Petersburg aufhielt, und kannte mich von Angesicht. Meine Frau war bei der 1.-Mai-Versammlung im Walde verhaftet worden. Es wurde nötig, für einige Zeit zu verschwinden. Ich reiste im Sommer nach Finnland ab. Dort trat für mich eine Atempause ein, die aus intensiver literarischer Arbeit und kurzen Spaziergängen bestand. Ich verschlang die Zeitungen, beobachtete die Formierung der Parteien, machte Ausschnitte, gruppierte Tatsachen. In dieser Zeit hat sich meine Anschauung über die inneren Kräfte der russischen Gesellschaft und die Perspektiven der russischen Revolution endgültig gebildet.

„Rußland steht“, schrieb ich damals, „vor einer bürgerlich-demokratischen Revolution. Die Basis dieser Revolution bildet das Agrarproblem. Die Macht wird jene Klasse erobern, jene Partet die die Bauern gegen den Zarismus und gegen die Gutsbesitzer führen wird. Weder der Liberalismus noch die demokratische Intelligenz werden dies tun können: deren historische Mission ist vorbei. Die revolutionäre Bühne hat bereits das Proletariat eingenommen. Nur die Sozialdemokratie kann durch die Arbeiter die Bauernschaft führen. Dies eröffnet der Sozialdemokratie die Aussicht auf die Eroberung der Macht in Rußland früher als in den westlichen Staaten. Die unmittelbare Aufgabe der Sozialdemokratie wird die Vollendung der demokratischen Revolution bilden. Aber nach der Machtergreifüng wird sich die Partei des Proletariats mit dem demokratischen Programm nicht begnügen können. Sie wird gezwungen sein, den Weg sozialistischer Maßnahmen zu betreten. Wie weit sie auf diesem Wege vorwärtskommt, das wird nicht nur vom inneren Kräfteverhälmis im Lande abhängen, sondern auch von der internationalen Situation. Die grundlegende strategische Linie erfordert folglich von der Sozialdemokratie, daß sie gegen den Liberalismus einen unversöhnlichen Kampf um den Einfluß auf die Bauernschaft führt und sich gleichzeitig schon während der bürgerlichen Revolution die Machtergreifung zur Aufgabe stellt.“

Die Frage nach der allgemeinen Perspektive der Revolution war aufs engste mit den taktischen Problemen verbunden. Die zentrale Parole der Partei war die konstituierende Versammlung. Der Verlauf des revolutionären Kampfes hatte aber die Frage akut gemacht: wer wird die konstituierende Versammlung einberufen, und wie soll das geschehen? Aus der Perspektive eines vom Proletariat geführten Volksaufstandes ergab sich notwendig die Schaffung einer provisorischen revolutionären Regierung. Die führende Rolle des Proletariats in der Revolution mußte auch seine ausschlaggebende Rolle in der provisorischen Regierung sichern. Dieses Thema rief bei den Spitzen der Partei große Meinungsstreitigkeiten hervor, auch zwischen mir und Krassin. Ich schrieb eine Reihe von Thesen nieder, in denen ich nachwies, daß der volle Sieg der Revolution über den Zarismus entweder die Macht des auf die Bauernschaft gestützten Proletariats bedeuten müsse oder den unmittelbaren Auftakt zu dieser Macht. Krassin erschrak vor einer so entschiedenen Fragestellung. Er akzeptierte die Parole der provisorischen revolutionären Regierung, wie auch das von mir skizzierte Arbeitsprogramm einer solchen Regierung, aber er lehnte es ab, die Lösung der Frage über die sozialdemokratische Mehrheit in der Regierung im voraus zu bestimmen. In dieser Form wurden meine Thesen in Petersburg gedruckt, und Krassin übernahm es, sie auf dem für Mai geplanten gemeinsamen Parteitag im Auslande zu vertreten. Der gemeinsame Parteitag fand jedoch nicht statt. Krassin beteiligte sich auf dem Parteitag der Bolschewiki aktiv an der Beratung der Frage über die provisorische Regierung und brachte meine Thesen als Korrekturen zu der Resolution Lenins ein. Diese Episode ist politisch so interessant, daß ich gezwungen bin, ein Zitat aus dem Protokoll des dritten Kongresses zu bringen.

„Was die Resolution des Genossen Lenin betrifft“, sagte Krassin, „so sehe ich ihren Fehler gerade darin, daß sie die Frage nach der provisorischen Regierung nicht unterstreicht und nicht klar genug auf den Zusammenhang zwischen der provisorischen Regierung und dem bewaffneten Aufstand hinweist. In Wirklichkeit stellt der Volksaufstand die provisorische Regierung als sein Organ auf. Ich betrachte ferner die in der Resolution ausgedrückte Ansicht als falsch, wonach die provisorische revolutionäre Regierung erst nach dem endgültigen Siege des bewaffneten Aufstandes und nach dem Sturz des Zarismus auftreten soll. Nein, sie entsteht gerade im Prozeß des Aufstandes und beteiligt sich lebhaft an seiner Durchführung, durch ihre organisierende Hilfe den Sieg sichernd. Ich erachte es als naiv, zu glauben, daß es für die Sozialdemokratie möglich sein könne, sich an der provisorischen revolutionären Regierung erst von dem Moment an zu beteiligen, wo das Selbstherrschertum endgültig zusammengebrochen sein wird: wenn die Kastanien von den anderen aus dem Feuer geholt worden sind, wird es keinem in den Sinn kommen, sie mit jemandem zu teilen.“ Das alles sind fast wörtlich Formulierungen nach meinen Thesen.

Lenin, der in seinem Hauptreferat die Frage nur rein theoretisch behandelt hatte, verhielt sich zu der Krassinschen Fragestellung mit größter Sympathie. Er sagte folgendes: „Im großen und ganzen teile ich die Meinung des Genossen Krassin. Es ist selbstverständlich, daß ich als Schriftsteller die literarische Seite der Frage in Betracht zog. Die Wichtigkeit des Kampfzieles ist vom Genossen Krassin sehr richtig angegeben worden, und ich schließe mich ihm voll an. Man kann nicht kämpfen, ohne damit zu rechnen, die Position, um die man kämpft, einzunehmen ...“

Die Resolution wurde entsprechend umgearbeitet. Es ist nicht überflüssig, zu bemerken, daß die Resolution des dritten Parteitages über die provisorische Regierung hunderte Male in der Polemik der letzten Jahre dem „Trotzkismus“ entgegengestellt wurde. Die „roten Professoren“ der Stalinschen Formation haben keine Ahnung davon, daß sie als Muster des Leninismus gegen mich die von mir selbst geschriebenen Zeilen zitieren.

 

Die Umgebung, in der ich in Finnland lebte, erinnerte wenig an die permanente Revolution: Hügel, Fichten, Seen, durchsichtige herbstliche Luft, Ruhe. Ende September ging ich noch tiefer in das Land hinein und ließ mich im Walde, am Ufer eines Sees, in der einsamen Pension Rauha nieder. Der Name bedeutet auf Finnisch Ruhe. Die große Pension war im Herbst völlig leer. Ein schwedischer Schriftsteller und eine englische Schauspielerin verbrachten dort zusammen noch einige Tage und reisten dann ab, ohne zu bezahlen. Der Wirt eilte ihnen nach Helsingfors nach. Die Wirtin lag schwer krank, ihre Herztätigkeit wurde nur noch durch Champagner aufrechterhalten. Ich habe sie übrigens niemals gesehen. In Abwesenheit des Wirtes starb sie. Ihr Körper lag im Zimmer über mir. Der ältere Kellner fuhr nach Helsingfors, den Wirt zu suchen. Zur Bedienung blieb ein Junge. Es fiel dichter Frühschnee. Die Fichten waren mit einem Leichentuch bedeckt. Die Pension war tot. Der Junge saß immer in der Küche, irgendwo unter der Erde. Oben lag die tote Wirtin. Ich war allein. Das alles zusammen hieß mit Recht „Rauha“ – Ruhe. Keine Seele, kein Laut. Ich schrieb und ging spazieren. Abends brachte der Briefträger einen Pack Petersburger Zeitungen. Ich entfaltete eine nach der anderen. Es war, als stürze ein rasender Orkan durch das offene Fenster. Der Streik wuchs, er breitete sich aus, griff von der einen Stadt auf die andere über. In der Stille des Hotels hallte das Rauschen der Zeitungen in meinen Ohren wie der Donner von Lawinen. Die Revolution war im vollen Gange. Ich verlangte von dem Jungen die Rechnung, bestellte ein Pferd und verließ die „Ruhe“, um der Lawine entgegenzufahren. Schon am nächsten Abend trat ich in Petersburg in der Aula des Polytechnischen Instituts auf.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003