Leo Trotzki

 

Mein Leben


Meine ersten Gefängnisse

Bei der allgemeinen Razzia im Januar 1898 wurde auch ich verhaftet, aber nicht in Nikolajew, sondern auf dem Gut des Großgrundbesitzers Sokownin, bei dem Schwigowski als Gärtner im Dienste stand. Ich hatte, unterwegs von Janowka nach Nikolajew, Schwigowski mit einer großen Aktenmappe voll von Manuskripten, Zeichnungen, Briefen und allerhand illegalem Material besucht. Über Nacht versteckte Schwigowski das gefährliche Paket in einer Grube mit Kohl, bei Morgengrauen, bevor er sich zum Waldpflanzen aufmachte, nahm er es wieder aus der Grube heraus, um es mir für die Arbeit zu übergeben. Gerade in diesem Augenblick stürmten Gendarmen heran. Schwigowski hatte gerade noch Zeit, das Paket im Flur hinter ein Wasserfaß zu werfen. Der Wirtschafterin, die uns unter Aufsicht der Gendarmen Mittagessen gab, flüsterte Schwigowski zu, sie möge das Paket dort wegnehmen und es besser verstecken. Die Alte wußte nichts Besseres, als das Paket im Garten im Schnee zu vergraben. Wir rechneten natörlich damit, daß die Dokumente nicht in die Hände des Feindes geraten könnten. Es kam der Frühling, der Schnee zerschmolz, Gras bedeckte die Erde und verhüllte wieder das vom Frühlingswasser hochgeschwemmte Paket. Wir saßen im Gefängnis. Es wurde Sommer Ein Arbeiter mähte im Garten des Gutshofes das Gras, seine zwei Jungens, die daneben spielten, entdeckten das Paket und übergaben es dem Vater; dieser trug es ins Herrenhaus, und der auf den Tod erschrokkene liberale Gutsbesitzer brachte es unverzüglich nach Nikolajew und händigte es dem Gendarmeneoberst aus. Die Handschriften der Manuskripte dienten als Indizienbeweise gegen mehrere Personen.

Das alte Gefängnis in Nikolajew war für Politische, und noch dazu in so großer Zahl, ganz und gar nicht eingerichtet. Ich kam in eine Zelle mit dem jungen Buchbinder Jawitsch. Die Zelle war sehr groß, etwa für dreißig Mann berechnet, völlig ohne Möbel und fast ungeheizt. In der Tür war ein großer quadratischer Ausschnitt nach dem Korridor, der offen war und zum Hof führte. Es herrschten Januarfröste. Für die Nacht legte man uns Strohsäcke auf den Fußboden, um sechs Uhr morgens wurden sie wieder hinausgetragen. Das Aufstehen und das Anziehen war eine Qual. In Mänteln, Hüten und Gummischuhen saßen wir Schulter an Schulter auf dem Fußboden, mit dem Rücken an den lauwarmen Ofen gedrängt, und träumten oder schlummerten eine bis zwei Stunden. Dies war vielleicht die schönste Zeit des Tages. Zum Verhör wurden wir nicht geholt. Wir liefen aus einer Ecke der Zelle in die andere, um uns zu erwärmen, gaben uns Erinnerungen, Vermutungen und Hoffnungen hin. Ich begann mit Jawitsch Wissenschaften zu treiben. So vergingen etwa drei Wochen. Dann trat eine Veränderung ein. Ich wurde mit meinen Sachen in das Gefängniskontor gebracht und zwei langen Gendarmen übergeben, die mich mit einem Fuhrwerk nach dem Gefängnis von Cherson brachten. Das war ein noch älteres Gebäude. Die ZeIle war geräumig, mit einem schmalen, in Eisenstäben gefaßten, nicht zu öffnenden Fenster, das winterlich abgedichtet und undurchsichtig war und kaum Licht einließ. Die Einsamkeit war vollkommen, absolut, hoffnungslos. Weder Spaziergänge noch Nachbarn gab es. Ich erhielt von draußen nichts. Ich hatte weder Tee noch Zucker. Die Sträflingssuppe wurde nur einmal am Tage gegeben, zu Mittag. Eine Portion Roggenbrot mit Salz diente als Frühstück und Abendessen. ich führte lange Dialoge mit mir, ob ich das Recht hätte, die Frühstücksportion auf Kosten des Abendessens zu vergrößern. Die Argumente des Morgens erschienen mir abends sinnlos und verbrecherisch. Am Abend haßte ich jenen, der am Morgen gefrühstückt hatte. Ich hatte keine Wäsche zum Wechseln. Drei Monate trug ich dieselbe Unterkleidung. Ich hatte keine Seife. Die Gefängnisparasiten fraßen mich bei lebendigem Leibe. Ich gab mir auf: ausendeinhundertundelf Schritte in der Diagonale zu machen. Ich war noch nicht neunzehn Jahre alt. Die Isolierung war so vollständig, wie ich sie später nirgendwo erlebte, obwohl ich in zwanzig Gefängnissen war. Ich hatte kein einziges Buch, keinen Bleistift, kein Papier. Die Zelle wurde nicht gelüftet. Welche Luft darin war, ersah ich aus der Grimasse des Gehilfen des Gefängnischefs, wenn er zu mir hereinkam. Ich biß ein Stöckchen Gefängnisbrot ab, ging in der Diagonale auf und ab und verfaßte Gedichte. Das Lied der Narodniki Dubinuschka arbeitete ich in die proletarische Maschinuschka um. Ich verfaßte eine revolutionäre Kamarinskaja. Diese Gedichte von recht mittelmäßigem Wert gewannen später große Popularität. Sie werden noch jetzt in Liedersammlungen nachgedruckt. Manchmal aber nagte an mir bittere Wehmut der Einsamkeit. Dann maß ich mit den abgetragenen Schuhsohlen übertrieben fest meine tausendeinhundertundelf Schritte ab. Gegen Ende des dritten Monats, als das Gefängnisbrot, der Strohsack und die mich fressenden Läuse bereits unteilbare Elemente meines Daseins geworden waren, wie Tag und Nacht, brachten mir die Wärter eines Abends einen Berg von Gegenständen aus einer anderen, phantastischen Welt: frische Wäsche, eine Decke, ein Kissen, Weißbrot, Zucker, Tee, Schinken, Konserven, Äpfel, ja, große, grellfarbige Äpfelsinen ... Noch heute, nach einunddreißig Jahren, zähle ich nicht ohne Aufregung alle diese wundersamen Dinge auf und ertappe mich dabei, daß ich ein Glas mit eingemachten Früchten, Seife und ein Kämmchen nicht erwähnt habe. „Das schickt Ihre Mutter“, sagte mir der Gehilfe des Gefängnisdirektors. Wie schlecht ich auch damals in den menschlichen Seelen zu lesen vermochte, so begriff ich doch sofort aus seinem Ton, daß er eine Bestechung erhalten hatte.

Bald danach überführte man mich mit einem Dampfer nach Odessa und setzte mich dort in ein Einzelzellengefängnis, das einige Jahre zuvor nach dem letzten Wort der Technik erbaut worden war. Nach Nikolajew und Cherson erschien mir die Odessaer Einzelzelle wie eine ideale Institution. Unterhaltungen durch Klopfsystem, Zettelchen, „Telefon“, ein unmittelbarer Schrei von Fenster zu Fenster – kurz, der Postverkehr funktionierte fast ununterbrochen. Ich klopfte meinen Nachbarn meine Chersoner Gefängnisgedichte, sie versorgten mich als Antwort mit Neuigkeiten. Von Schwigowski erfuhr ich durch das Fenster, daß die Gendarmen im Besitze des Pakets mit meinen Papieren wären, und konnte so mühelos die Pläne des Oberstleutnants Dremljuga zerstören, der mir eine Falle stellen wollte. Es muß gesagt werden, daß wir in jener Periode noch nicht – wie einige Jahre später – dazu übergegangen waren, jegliche Aussage zu verweigern.

Das Gefängnis war nach den im Frühling im ganzen Lande erfolgten Massenverhaftungen überfüllt. Am 1. März 1898, als ich im Chersoner Gefängnis saß, versammelte sich in Minsk der Gründungskongreß der sozialdemokratischen Partei. Er bestand insgesamt aus neun Menschen und ertrank sofort in einer Welle von Verhaftungen. Schon nach einigen Monaten sprach man von ihm nicht mehr. Aber seine späteren Folgen haben sich in der Geschichte der ganzen Menschheit geäußert. Das angenommene Manifest schilderte folgende Perspektive des polirischen Kampfes: „... je weiter nach dem Osten Europas, um so feiger und niederträchtiger ist in politischer Hinsicht die Bourgeoisie, und um so größere kulturelle und politische Aufgaben erstehen dem Proletariat.“ Einer gewissen historischen Pikanterie entbehrt nicht die Tatsache, daß der Verfasser des Manifestes der nicht unbekannte Peter Struve ist, der später ein Führer des Liberalismus und noch später der Publizist der kirchlichen und monarchistischen Reaktion wurde.

In den ersten Monaten meines Aufenthaltes im Odessaer Gefängnis bekam ich von außen keine Bücher und war gezwungen, mich mit der Gefängnisbibliothek zu begnügen. Sie bestand hauptsächlich aus konservativen historischen und religiösen Zeitschriften zahlreicher Jahrgänge. Ich studierte sie mit unersättlicher Gier. Ich kannte bald alle Sekten und alle Häresien der alten und der neuen Zeit, alle Vorzüge des rechtgläubigen Gottesdienstes, die besten Argumente gegen den Katholizismus, den Protestantismus, gegen die Lehre von Tolstoi, gegen den Darwinismus. In der Rechtgläubigen Rundschau las ich, daß das christliche Bewußtsein wahre Wissenschaften liebe, darunter auch die Naturwissenschaft als die geistige Verwandte des Glaubens. Das Wunder mit Baals Eselin, die eine Diskussion mit dem Propheten hatte, könne auch vom Gesichtspunkte der Naturwissenschaft aus nicht widerlegt werden: „gibt es doch sprechende Papageien und sogar sprechende Kanarienvögel“. Dieses Argument des Erzbischofs Nikanor beschäftigte mich tagelang, manchmal sogar träumte ich in der Nacht davon. Die Untersuchungen über böse Geister und Dämonen, über deren Fürsten, den Teufel, und das finstere Reich des Bösen versetzten den jungen rationalistischen Gedanken durch die kodifizierte Dummheit der Jahrtausende jedesmal in Staunen und in eine Art Begeisterung. Eine eingehende Betrachtung über das Paradies, über seine innere Einrichtung und den Ort, wo es sich befände, endete mit folgender melancholischer Note: „genaue Angaben über den Ort, wo das Paradies sich befindet, gibt es nicht“. Ich wiederholte diesen Satz beim Mittag, beim Tee, auf den Spaziergängen. Geographische Längengrade der paradiesischen Seligkeit – unbekannt. Mit dem Gendarmerie-Unteroffizier Miklin führte ich bei jeder Gelegenheit theologische Dispute. Miklin war habgierig, verlogen, bösartig, in heiligen Büchern belesen und äußerst fromm. Über die klirrenden Eisentreppen laufend, sang er Kirchenlieder leise vor sich hin. „Schon für das eine, das einzige Wort Christenmutter statt Gottesmutter platzte dem Häretiker Arias der Bauch“, redete Miklin auf mich ein. „Warum bleiben die Bäuche der Häretiker heute heil?“ „Heute ... heute..“, antwortete beleidigt Miklin, „heute sind andere Zeiten.“

Meine Schwester, die aus dem Dorfe gekommen war, brachte mir auf meine Bitte vier Evangelien in fremden Sprachen. Gestützt auf meine Schulkenntnisse des Deutschen und Französischen las ich sie Vers um Vers nebeneinander, auch auf englisch und italienisch. In einigen Monaten war ich auf diese Art ziemlich weit gekommen. Ich muß jedoch sagen, daß meine linguistischen Fähigkeiten recht mittelmäßig sind. Vollkommen beherrsche ich auch jetzt keine fremde Sprache, obwohl ich lange in verschiedenen Ländern Europas gelebt habe.

Während der Sprechzeit mit Verwandten befand sich der Gefangene in einem engen hölzernen Käfig, der durch zwei Gitter von dem Besucher getrennt war. Als mein Vater mich zum erstenmal besuchte, bildete er sich ein, ich müsse die ganze Zeit meiner Haft in diesem engen Kasten verbringen. Ein inneres Erschauern nahm ihm die Sprache. Auf meine Fragen bewegte er lautlos die bleichen Lippen. Ich werde dieses Gesicht niemals vergessen. Die Mutter wurde auf den Besuch vorbereitet und benahm sich ruhiger.

Der Widerhall der Weltereignisse erreichte uns brockenweise. Der südafrikanische Krieg hatte uns kaum berührt. Wir waren noch im wahrsten Sinne des Wortes Kleinstädter. Wir neigten dazu, den Kampf der Engländer mit den Buren hauptsächlich vom Standpunkt des unvermeidlichen Sieges des Großkapitals zu deuten. Der Prozeß Dreyfus, der in jener Zeit gerade seinen Höhepunkt erreichte, fesselte uns durch seine Dramatik. Einmal drang zu uns das Gerücht, in Frankreich habe ein Staatsstreich stattgefunden und die Königsmacht sei wiederhergestellt. Wir waren vom Gefühl der untilgbaren Schmach erfaßt. Unruhig liefen die Gendarmen durch die eisernen Korridore und über die Treppen, um das Klopfen und Schreien zu beruhigen. Sie glaubten, man habe uns wieder mal verdorbenes Mittagessen gegeben. Aber nein, der politische Flügel des Gefängnisses protestierte stürmisch gegen die Restauration der Monarchie in Frankreich.

Die Artikel über Freimaurerei in den theologischen Zeitschriften erregten mein Interesse. Woher stammt diese seltsame Strömung? fragte ich mich. Wie würde der Marxismus sie erklären? Ich habe mich verhältnismäßig lange dem historischen Materialismus widersetzt und mich an die Theorie von der Vielfältigkeit der historischen Faktoren geklammert, die bekanntlich auch jetzt noch die verbreitetste Theorie der sozialen Wissenschaften ist. Verschiedene Seiten ihrer gesellschaftlichen Tätigkeit nennen die Menschen Faktoren, verleihen diesem Begriff einen übersozialen Charakter und erklären dann abergläubisch ihre eigene Tätigkeit als Produkt der Wechselwirkung dieser selbständigen Kräfte. Wie die Faktoren entstanden sind, das heißt, unter dem Einfluß welcher Bedingungen sie sich aus der primitiven menschlichen Gesellschaft heraus entwickelt haben – das beschäftigt die offizielle Eklektik nicht. Mit Begeisterung las ich in der Zelle zwei berühmte Abhandlungen des alten italienischen Hegelianer-Marxisten Antonio Labriola, die in französischer Sprache ins Gefängnis eingeschmuggelt worden waren. Wie nur wenige der lateinischen Schriftsteller beherrschte Labriola die materialistische Dialektik, wenn auch nicht in der Politik, wo er hilflos war, so doch auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie. Unter dem glänzenden Dilettantismus seiner Darstellung verbarg sich in der Wirklichkeit wahre Tiefe. Mit der Theorie der vielfältigen Faktoren, die den Olymp der Geschichte bevölkern und von dort aus unsere Schicksale lenken, rechnet Labriola glänzend ab. Obwohl seit der Zeit, da ich seine Abhandlungen las, drei Jahrzehnte vergangen sind, ist mir die Gesamtfolge seiner Gedanken wie auch sein ständiger Refrain „Ideen fallen nicht vom Himmel“ fest im Gedächtnis geblieben. Ohnmächtig erschienen mir daneben die russischen Theoretiker der Vielfältigkeit der Faktoren wie Lawrow, Michajlowski, Karejew und andere. Noch viel später waren mir jene Marxisten unbegreiflich, auf die das unfruchtbare Buch des deutschen Professors Stammler Wirtschaft und Recht einen Eindruck machte, jenes Buch, das einen der zahllosen Versuche darstellt, den großen naturgeschichtlichen und historischen Strom, der von der Amöbe zu uns und von uns weiterführt, durch enge Kreise ewiger Kategorien hindurchzupressen, die ihrerseits bloß ein Abdruck des lebendigen Prozesses im Hirn eines Pedanten sind.

Gerade in dieser Periode gewann ich Interesse für die Freimaurerei. Einige Monate lang las ich eifrig alle Bücher über die Geschichte der Freimaurerei, die mir Verwandte und Bekannte in der Stadt auftreiben konnten. Weshalb, zu welchem Zweck nannten sich Kaufleute, Künstler, Bankiers, Beamte und Advokaten seit dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts Freimaurer und stellten die Riten der mittelalterlichen Zunft wieder her? Woher diese seltsame Maskerade? Allmählich wurde mir das Bild klar. Die alte Zunft gab nicht nur die maßgebenden Richtlinien für die Wirtschaft, sondern auch für Moral und Sitte. Sie erfaßte das Leben der städtischen Bevölkerung von allen Seiten, besonders die Zunft der Halbhandwerker-Halbkünstler des Baufachs. Der Zerfall der Zunftwirtschaft bedeutete die moralische Krise einer Gesellschaft, die eben erst das Mittelalter hinter sich gelassen hatte. Die neue Moral entwickelte sich viel langsamer, als die alte in die Brüche ging. Daher der in der Menschheitsgeschichte nicht seltene Versuch, jene Formen der sittlichen Disziplin zu konservieren, deren soziale Basis – in diesem Falle die zünftlerische Produktion – der historische Prozeß längst untergraben hatte. Die produktive Maurerei verwandelte sich in die spekulative „Maurerei“. Aber wie immer in solchen Fällen hatten die überlebten moralischen Formen, an die sich die Menschen klammerten, unter dem Druck des Lebens einen ganz neuen Inhalt bekommen. In einzelnen Zweigen der Freimaurerei waren die Elemente der offen feudalen Reaktion noch sehr stark, wie zum Beispiel in dem schottischen System. Im 18. Jahrhundert füllen sich die Formen der Freimaurerei in einer Reihe von Ländern mit kriegerischem Kulturträgertum, politischer und religiöser Aufklärung, die eine vorrevolutionäre Rolle spielen und deren linker Flügel in die Bewegung der Karbonari überging. Zu den Freimaurern gehörte Ludwig XVI., aber auch der Doktor Guillotin, der Erfinder der Guillotine. In Süddeutschland nahm die Freimaurerei offen revolutionären Charakter an, und am Hofe Katharinas bildete sie eine maskeradenhafte Wiedergabe der adelig-bürokratischen Hierarchie. Den Freimaurer Nowikow verbannte die freimaurerische Kaiserin nach Sibirien.

Wenn heute, in der Zeit der fertigen und billigen Bekleidung, niemand mehr den Havelock seines Großvaters abträgt, so nehmen auf dem geistigen Gebiet die Havelocks und Krinolinen noch einen großen Platz ein. Das geistige Inventar geht von Generation auf Generation über, obgleich die Kissen und Decken der Großmütter sauer riechen. Selbst die Menschen, die gezwungen werden, den Inhalt ihrer Ansichten zu wechseln, zwängen ihn meist in alte Formen hinein. In der Technik unserer Produktion hatte sich eine viel mächtigere Umwälzung vollzogen als in der Technik unseres Denkens, das das Flicken und Wenden dem Neubau vorzieht. Das ist der Grund, weshalb die französischen kleinbürgerlichen Parlamentarier, bestrebt, der zersetzenden Kraft der modernen Gesellschaft so etwas wie eine sittliche Beziehung der Menschen untereinander entgegenzustellen, nichts Besseres auszudenken vermochten, als sich eine weiße Schürze vorzubinden und sich mit Zirkel oder Richtlot zu bewaffnen. Dabei ist ihre Absicht nicht etwa, ein neues Gebäude erstehen zu lassen, sondern nur, in das längst errichtete Haus des Parlaments oder des Ministeriums hineinzugelangen.

Da man im Gefängnis, um ein neues Heft zu bekommen, das vollgeschriebene abgeben mußte, so schaffte ich mir für die Freimaurerei ein Heft von tausend numerierten Seiten an, in das ich mit kleiner Perlschrift Auszüge aus zahlreichen Büchern schrieb, die mit meinen eigenen Gedanken über die Freimaurerei und die materialistische Geschichtsauffassung abwechselten. Diese Arbeit nahm insgesamt ein ganzes Jahr in Anspruch. Ich bearbeitete die einzelnen Kapitel, schrieb sie in eingeschmuggelte Hefte ab und schickte sie zur Durchsicht den Freunden in die anderen Zellen. Dafür hatten wir ein sehr kompliziertes System, das Telefon hieß. Der Adressat, dessen Zelle nicht weit von der meinigen war, band einen schweren Gegenstand an eine Schnur und brachte dieses Gerät in schwingende Bewegung, wobei er die Hand soweit wie möglich aus den Fenstergittern vorstreckte. Auf das Klopfsignal steckte ich den Besen soweit es ging aus meinem Fenster hinaus, und wenn das Gewicht sich um den Stiel geschlungen hatte, zog ich den Besen herein und band mein Manuskript an das Ende der Schnur. Saß der Adressat fern von mir, so wurde diese Prozedur in mehreren Etappen wiederholt, was die Sache natürlich erschwerte.

Am Ende meines Aufenthaltes im Odessaer Gefängnis verwandelte sich das dicke, durch die Unterschrift des älteren Gendarmerie-Unteroffiziers Ussow beglaubigte Heft in einen wahren Born historischer Wissenschaften und philosophischer Tiefe. Ich weiß nicht, ob man es heute so, wie es war, drucken könnte. Ich erfuhr zu vieles gleichzeitig und aus den verschiedensten Gebieten, Epochen und Ländern, und ich fürchte, daß ich in meiner ersten Arbeit auf einmal zu vieles sagen wollte. Aber ich glaube, daß die grundlegenden Gedanken und Schlußfolgerungen richtig waren. Ich fühlte mich damals schon ziemlich fest auf den Beinen, und dies Gefühl nahm während der Arbeit zu. Ich würde jetzt viel darum geben, dieses dicke Heft ausfindig zu machen. Es hat mich in die Verbannung begleitet, wo ich allerdings die Freimaurerei-Forschungen einstellte und zum Studium des ökonomischen Systems von Marx überging. Nach meiner Flucht ins Ausland hat mir Alexandra Lwowna aus der Verbannung das Heft durch meine Eltern zugestellt, als diese mich im Jahre 1903 in Paris besuchten. Das Heft blieb zusammen mit meinem bescheidenen Emigrantenarchiv in Genf, als ich illegal nach Rußland reiste, und ging in das Archiv der Iskra über, das sein vorzeitiges Grab wurde. Nach der zweiten Flucht aus Sibirien versuchte ich im Ausland nach meinem Heft zu forschen. Wahrscheinlich hat die Schweizer Wirtin, der man das Archiv in Aufbewahrung gegeben hatte, das Heft als Brennmaterial oder für andere Zwecke verbraucht. Ich kann nicht umhin, dieser ehrbaren Frau hier einen Vorwurf zu machen.

Der Umstand, daß ich die Arbeit über die Freimaurerei unter den Verhältnissen des Gefängnisses gemacht hatte und deshalb nur über eine beschränkte Anzahl von Büchern verfügte, war für mich recht nützlich. Mit der grundlegenden marxistischen Literatur war ich bis dahin überhaupt nicht bekannt gewesen. Die Arbeiten Antonio Labriolas hatten den Charakter philosophischer Streitschriften. Sie setzten Kenntnisse voraus, die ich nicht besaß und die ich durch Vermutungen ersetzen mußte. Die Untersuchungen Labriolas verließ ich mit einer ganzen Menge Hypothesen im Kopfe. Die Arbeit über die Freimaurerei war für mich eine Nachprüfung meiner eigenen Betrachtungen. Ich hatte nichts Neues entdeckt Alle methodologischen Schlußfolgerungen, zu denen ich kam, waren längst gemacht und angewandt worden. Aber ich hatte mich bis zu einem gewissen Grade selbständig zu ihnen hindurchgetastet Ich glaube, daß dies eine Bedeutung für meine gesamte spätere geistige Entwicklung gehabt hat. Ich fand später bei Marx, Engels, Plechanow, Mehring eine Bestätigung dessen, was mir im Gefängnis als meine eigenen Gedanken erschienen war und was nur einer Kontrolle und Begründung bedurft hatte. Den historischen Materialismus habe ich zuerst in einer nichtdogmatischen Form aufgenommen. Die Dialektik offenbarte sich mir anfangs nicht in ihren abstrakten Formulierungen, sondern als lebendige Triebfeder, die ich im historischen Prozeß wahrnahm, soweit ich mich bemühte, ihn zu begreifen.

Im Lande begann unterdessen ein Aufstieg. Hier hatte die historische Dialektik gründlich gearbeitet, praktisch und in sehr großem Maßstabe. Die Studentenbewegung fand eine Entladung in Demonstrationen. Die Kosaken peitschten die Studenten. Die Liberalen waren empört, da man ihre Söhne beleidigte. Die Sozialdemokratie erstarkte, indem sie immer mehr und mehr mit der Arbeiterbewegung verschmolz. Die Revolution hörte auf, eine privilegierte Beschäftigung der intellektuellen Kreise zu sein. Die Zahl der Verhaftungen unter Arbeitern wuchs. Im Gefängnis wurde, trotz der Überfüllung, das Atmen leichter. Gegen Ende des zweiten Jahres erhielten wir das Urteil im Prozeß des Südrussischen Bundes mitgeteilt: vier der Hauptbeschuldigten wurden zu vier Jahren Verbannung nach Ostsibirien verurteilt. Wir mußten noch ein halbes Jahr im Moskauer Etappengefängnis zubringen. Das war eine Zeit intensiver theoretischer Arbeit Hier hörte ich zum erstenmal von Lenin und studierte sein damals eben erschienenes Buch über die Entwicklung des russischen Kapitalismus. Hier schrieb ich meine Broschüre über die Arbeiterbewegung in Nikolajew, die in die Freiheit hinausgeschmuggelt und bald danach in Genf veröffentlicht wurde. Aus dem Moskauer Etappengefängnis wurden wir im Sommer abtransportiert. Wir machten Aufenthalt in verschiedenen Gefängnissen. Erst im Herbst des Jahres 1900 erreichten wir den Ort der Verbannung.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003