Leo Trotzki

 

Mein Leben


Dorf und Stadt

Im Dorfe verbrachte ich ohne Unterbrechung die ersten neun Jahre meines Lebens. Während der folgenden sieben Jahre kam ich alljährlich im Sommer, manchmal auch zu Weihnachten oder zu Ostern hin. Fast bis zu meinem achtzehnten Jahre war ich mit Janowka und allem, was es umgab, eng verbunden. In den ersten Kinderjahren war der Einfluß des Dorfes allmächtig. In der folgenden Periode kämpfte es mit der Stadt um den Vorrang, wurde aber auf der ganzen Linie von dieser zurückgedrängt.

Das Dorf vermittelte mir die Bekanntschaft mit der Landwirtschaft, der Mühle, mit der amerikanischen Garbenbindemaschine. Das Dorf hatte mich den Bauern genähert, sowohl denen des Ortes wie denen aus der Umgebung, die zur Mühle mußten, wie auch denen aus den ferneren ukrainischen Gouvernements, die mit Sense und Sack auf dem Rücken aufs Gut zur Arbeit kamen. Vieles von dem Dörfischen geriet später in Vergessenheit, verwischte sich in der Erinnerung; aber bei jeder neuen Wendung meines Lebens tauchte bald das eine, bald das andere auf und war mir in manchen Fällen eine Hilfe.

Das Dorf hatte mir in natura die Typen des verarmenden Adels und der kapitalistischen Bereicherung gezeigt. Es hat mir manche Seiten der menschlichen Beziehungen in ihrer natürlichen Grobheit enthüllt und dadurch stärker den Typus der städtischen, der höheren, aber widerspruchsvolleren Kultur empfinden lassen. Schon die ersten Ferien hatten Stadt und Land in meinem Bewußtsein gleichsam gegenübergestellt. Ich reiste höchst ungeduldig nach Haus. Das Herz hüpfte vor Freude. Ich sehnte mich danach, alle wiederzusehen und mich allen zu zeigen. In Nowij Bug holte mich der Vater ab. Ich legte ihm meine „Fünfer“ vor und erklärte, jetzt sei ich in der ersten Klasse und brauche eine Parade-Uniform. Wir fuhren durch die Nacht im Planwagen; anstatt des Kutschers fuhr uns ein junger Gutsverwalter. In der Steppe wehte feuchte Kühle, man wickelte mich in einen großen Filzmantel ein. Von dem Wechsel der Umgebung, von der Fahrt, den Erinnerungen und Eindrücken wie berauscht, berichtete ich unermüdlich über die Schule, die Badeanstalt, über meinen Freund Kostja R., über das Theater. Ohne einen Augenblick innezuhalten, erzählte ich zuerst den Inhalt des Stückes Nasar Stodolja und dann Der Mieter mit der Posaune. Der Vater hörte zu, schlummerte für Augenblicke ein, schreckte auf und lachte zufrieden. Der junge Gutsverwalter schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf und drehte sich nach dem Gutsherrn um, als wollte er sagen: Das ist eine Erzählung! Gegen Morgen schlief ich ein und erwachte in Janowka. Das Haus schien mir furchtbar klein, das ländliche Weizenbrot grau und das ganze Dorfgetriebe verwandt und fremd zugleich. Ich erzählte auch der Mutter und den Schwestern vom Theater, aber nicht mehr mit jenem Feuer wie nachts dem Vater. In der Werkstatt fand ich Witja und David fast bis zur Unkenntlichkeit verändert: sie waren groß und stark geworden. Aber auch ich kam ihnen anders vor. Sie begannen, Sie zu mir zu sagen. Ich protestierte dagegen.

„Wie denn anders?“ antwortete der dunkle, magere und stille David. „Jetzt sind Sie ein Gelehrter“

Iwan Wassiljewitsch hatte sich inzwischen verheiratet. Die Gesindeküche neben der Werkstatt war für ihn in eine Wohnung umgeändert worden, während man die Küche in eine neue Hütte verlegt hatte, hinter die Werkstatt.

Aber nicht darum hatte es sich gehandelt. Zwischen mir und dem, was mit meiner Kindheit verbunden war, erhob sich wie eine Wand etwas Neues. Alles war dasselbe und doch anders. Gegenstände und Menschen schienen wie vertauscht. Gewiß hatte sich in diesem einen Jahr manches auch wirklich verändert. Aber viel stärker war die Veränderung meines Auges. Seit dieser ersten Ankunft begann sich eine Art Entfremdung zwischen mir und meiner Familie zu zeigen; es fing mit Lappalien an, aber mit den Jahren wurde es ernster und tiefer.

Der wechselnde Einfluß, der von Stadt und Dorf ausging, hat auf die ganze Periode meiner ersten Schuljahre abgefärbt. In der Stadt fühlte ich mich wesentlich ausgeglichener im Verkehr mit Menschen, und mit Ausnahme einzelner, dafür aber stürmischer Konflikte, wie die mit dem Schulfranzosen oder mit dem Literaturlehrer, ging ich ziemlich ruhig an der Leine der Familien- und der Schuldisziplin. Das lag nicht nur an der Lebensführung der Familie Spenzer, wo vernünftige Ansprüche und ein verhältnismäßig hohes Niveau der persönlichen Beziehungen herrschten, sondern auch an der städtischen Lebensweise im allgemeinen. Zwar waren hier die Gegensätze nicht kleiner als auf dem Lande, im Gegenteil sogar stärker, doch waren sie in der Stadt verdeckt, geordnet, reglementiert. Menschen verschiedener Klassen kamen nur in geschäftlicher Sphäre in Berührung, dann verschwanden sie füreinander. Im Dorfe spielte sich alles vor den Augen der anderen ab. Die sklavische Abhängigkeit des einen Menschen von dem anderen kam hier zum Vorschein, wie die Sprungfedern aus einem alten Sofa. Im Dorfe zeichnete ich mich durch viel stärkere Unausgeglichenheit und Zanksucht aus. Selbst mit Fanni Solomonowna, war sie im Dorf zu Besuch und nahm sie vorsichtig die Partei meiner Mutter oder Schwestern, zankte ich mich und war mitunter grob zu ihr, während ich in der Stadt nicht nur gute, sondern zärtfiche Gefühle für sie hegte. Konflikte entstanden manchmal um nichts. Aber häufiger hatten sie doch einen ernsten Anlaß.

Ich trage einen frischgewaschenen Leinenanzug, einen Ledergürtel mit Blechschnalle, auf der weißen Mütze eine gelbe Kokarde, die in der Sonne glänzt – großartig. Die muß man allen zeigen. Ich fahre mit dem Vater ins Feld, während der heißesten Arbeit der Winterweizenernte. Der älteste Schnitter, Archip, ein finsterer, aber gleichzeitig weicher Mensch, geht als erster die Anhöhe hinauf, hinter ihm elf Schnitter und zwölf Garbenbinderinnen. Zwölf Sensen schneiden den Weizen und die glühende Luft. Archip hat eine Unterhose mit einem Hornknopf an. Die Binderinnen tragen zerrissene Röcke oder nur graue Hemden. Aus der Ferne klingt das Klirren der Sensen wie ein Läuten der Hitze.

„Laßt mal“, sagt der Vater, „ich will versuchen, wie der Winterweizen ist.“ Er nimmt von Archip die Sense und stellt sich auf dessen Platz. Ich sehe aufgeregt zu. Der Vater macht Bewegungen, einfache, gewohnte, als arbeite er nicht, sondern mache nur Anstalten zur Arbeit, und seine Schritte sind leicht, als probiere er die Erde erst aus, als suche er eine Stelle, um auszuholen. Das Mähen geht ihm glatt von der Hand, ohne jede Bravour, auch gar nicht so sicher, aber er schneidet kurz, gleichmäßig – rasiert und legt das Abgemähte zu einem geraden Hand zur linken Hand. Archip schaut mit einem Auge hin, und man sieht es ihm an, daß die Arbeit seinen Beifall findet. Die übrigen betrachten es auf verschiedene Weise. Die, einen mit Sympathie: der Herr hat was los. Die anderen kühl: er hat gut mähen, es ist ja seins, auch das tut er nur zur Schau. Vielleicht übersetze ich es mir nicht in so präzise Worte, aber ich fühle scharf die komplizierte Mechanik der Beziehungen. Nachdem der Vater in anderes Revier gegangen ist, versuche ich, die Sense zu handhaben.

„Mit der Schneide, mit der Schneide die Halme nehmen, der Spitze Spielraum lassen, nicht aufdrücken.“

Aber vor Aufregung kann ich nicht fassen, wo sie ist, diese Schneide, und die Spitze bohrt sich beim dritten Ausholen in die Erde.

„So wird die Sense bald hin sein“, sagt Archip, „lernen Sie zuerst vom Vater.“

Ich fühle die spöttischen Augen der braunen, staubigen Binderin und beeile mich, aus der Reihe herauszukommen mit meiner Kokarde an der Mütze, unter der der Schweiß rinnt.

„Geh lieber zu Muttern, Kuchen essen“, hörte ich hinter mir eine höhnende Stimme. Das ist Mutusok. Ich kenne diesen wie ein Stiefel schwarzen Schnitter: er arbeitet in Janowka das dritte Jahr. Er kommt aus der Siedlung, ist behend, hat eine lose Zunge, im vorigen Jahre gebrauchte er über die Gutsherren absichtlich in meiner Gegenwart bissige, aber recht zutreffende Worte. Mutusok gefällt mir mit seiner Geschicktheit und Kühnheit, aber gleichzeitig ruft er durch seinen unbändigen Spott einen ohnmächtigen Haß in mir hervor. Ich möchte etwas sagen, um Mutusok für mich zu gewinnen, oder aber, umgekehrt, ihn herrisch anfahren, aber ich finde kein rechtes Wort.

Ich komme vom Felde zurück und sehe vor der Schwelle unseres Hauses eine barfüßige Frau. Sie sitzt neben dem Stein, an die Wand gelehnt, sie wagt es nicht, sich auf den Stein zu setzen, – es ist die Mutter des halbirren Hirtenjungen Ignatka. Sie ist sieben Werst weit hergekommen, um den Rubel Lohn zu holen, aber es ist niemand zu Haus, der ihr den Betrag auszahlen könnte. Sie wird bis zum Abend warten müssen. Mein Herz krampft sich zusammen beim Anblick dieser Gestalt, die die Verkörperung der Armut und der Unterwürfigkeit ist.

Nach einem Jahre war es nicht besser, im Gegenteil. Als ich vom Krocketspiel kam, traf ich im Hof den Vater, der gerade aus dem Feld zurückkehrte, müde, gereizt, staubbedeckt, hinter ihm her trottete barfüßig, mit vom Schmutz schwarzen Sohlen, ein schekkiges Bäuerlein. „Lassen Sie um Gottes willen die Kuh frei“, flehte er und schwor, er werde sie nicht mehr ins Korn lassen. Der Vater antwortete: „Deine Kuh frißt für zehn Kopeken und macht einen Schaden für zehn Rubel.“ Der Bauer wiederholte immer dasselbe, und in seinem Flehen klang Haß. Diese Szene hatte mich durch und durch aufgewühlt, bis zu der letzten Fiber meines Körpers. Die Krocketstimmung, die ich vom Spielplatz zwischen den Birnbäumen, wo ich meine Schwestern siegreich geschlagen hatte, heimbrachte, wich plötzlich einer akuten Verzweiflung. Ich stahl mich am Vater vorbei in das Schlafzimmer, fiel mit dem Gesicht auf das Bett und weinte bitterlich – trotz meines Ausweises als Schüler der zweiten Klasse. Der Vater ging durch den Flur in das Eßzimmer, hinter ihm her das Bäuerlein. Man hörte Stimmen. Dann ging der Bauer weg. Die Mutter kam aus der Mühle, ich konnte ihre Stimme unterscheiden, hörte, wie man die Teller zum Mittagessen auf den Tisch stellte, wie die Mutter mich rief ... Ich antwortete nicht und weinte. Die Tränen bekamen allmählich einen Beigeschmack von Seligkeit. Die Türe wurde aufgemacht, meine Mutter beugte sich über mich.

„Was hast du, Ljowotschka?“ Ich antwortete nicht. Die Mutter flüsterte mit dem Vater.

„Weinst du wegen des Bauern? Man hat ihm doch die Kuh zurück-gegeben und auch keine Strafe erhoben.“

„Nein, gar nicht darum“, antwortete ich aus dem Kissen, qualvoll mich des Anlasses meiner Tränen schämend.

„Man hat von ihm keine Strafe erhoben“, wiederholte die Mutter.

Es war der Vater, der die Ursache meines Schmerzes erkannt und der Mutter gesagt hatte. Er konnte im Vorbeigehen, mit einem flüchtigen Blick, vieles bemerken.

Eines Tages kam in Abwesenheit des Gutsherrn der Urjadnik, ein gemeiner, gieriger, frecher Mensch, und verlangte die Pässe der Arbeiter. Bei zweien war die Frist abgelaufen. Er ließ die beiden Arbeiter sofort holen und erklärte sie für verhaftet, um sie auf dem Etappenweg in ihre Heimat zu schicken. Der eine war ein Greis mit tiefen Furchen auf dem braunen Hals, der andere jung, ein Neffe des Alten. Sie fielen im Flur mit ihren dürren Knien auf die Erde, zuerst der Alte, hinter ihm der Junge, beugten ihre Köpfe bis zum Boden und flehten: „Erweisen Sie uns die göttliche Gnade, machen Sie uns nicht unglücklich.“ Der stämmige, verschwitzte Urjadnik spielte mit seinem Säbel, während er die kalte Milch, die man ihm aus dem Keller gebracht hatte, trank, und antwortete: „Bei mir gibt es Gnade nur an Feiertagen, heute ist Alltag.“ Ich stand wie auf Kohlen und brachte mit abgerissener Stimme einige protestierende Worte hervor „Sie, junger Mann, geht das gar nichts an“, sagte er deutlich und streng, und die ältere Schwester machte mir mit dem Finger beschwichtigende Zeichen. Der Urjadnik führte die Arbeiter ab.

Während der Ferien übte ich das Amt des Buchhalters aus, das heißt, ich trug abwechselnd mit dem älteren Bruder und der älteren Schwester die gemieteten Arbeiter sowie die Löhnungsbedingungen und die einzelnen Auszahlungen in Produkten und in Geld in ein Buch ein. Bei der Abholung half ich häufig dem Vater, und da kam es zwischen uns oft zu kurzen, durch die Anwesenheit der Arbeiter gedämpften Zusammenstößen. Betrug gab es bei der Abrechnung nicht; aber die Vertragsbedingungen wurden stets streng gedeutet. Die Arbeiter, besonders die älteren, merkten bald, daß der Junge ihnen in die Hand spielte, und das reizte den Vater.

Nach besonders scharfen Zusammenstößen ging ich mit einem Buch davon und kam manchmal nicht zum Mittag zurück. Einmal überraschte mich während eines solchen Zerwürfnisses im Feld ein Gewitter: der Donner rollte ohne Unterbrechungen, der Steppenregen gurgelte in Wasserbächen, die Blitze zielten gleichsam nach mir, bald von der einen, bald von der anderen Seite. Ich ging auf und ab, ganz durchnäßt, in quietschenden Schuhen und in einer Mütze, die einem Wassertrichter glich. Als ich nach Haus kam, betrachteten mich alle schweigend und schief. Die Schwester gab mir Wäsche zum Umziehen und Essen.

Am Ende der Ferien fuhr ich gewöhnlich mit dem Vater in die Stadt. Beim Umsteigen wurde kein Gepäckträger genommen, das Gepäck trug man selbst. Der Vater nahm die schwereren Stücke, und ich konnte an seinem Rücken und den ausgereckten Armen sehen, wie schwer es ihm wurde. Der Vater tat mir leid, und ich bemühte mich, zu tragen, soviel ich nur konnte. Hatten wir eine große Kiste mit Geschenken vom Land für die Odessaer Verwandtschaft, dann wurde ein Gepäckträger genommen. Der Vater zahlte knauserig, der Träger war unzufrieden und schüttelte böse den Kopf. Das berührte mich immer schmerzlich. Fuhr ich allein und mußte den Gepäckträger zu Hilfe nehmen, dann verschwendete ich schnell mein Taschengeld; ich fürchtete stets, zu wenig gegeben zu haben, und blickte dem Gepäckträger besorgt in die Augen. Das war die Reaktion auf die Sparsamkeit im elterlichen Hause, und sie blieb mir fürs ganze Leben.

In religiöser und nationaler Hinsicht bestand zwischen der Stadt und dem Dorf kein Widerspruch, im Gegenteil, sie ergänzten sich in verschiedener Weise. Religiosität existierte in der elterlichen Familie nicht. Anfangs wahrte man noch den Schein: an großen Feiertagen fuhren die Eltern in die Synagoge der Kolonie, an Sonnabenden nähte die Mutter nicht, mindestens nicht offen. Aber auch diese rituelle Religiosität nahm mit den Jahren ab, mit dem Heranwachsen der Kinder und des Wohlstandes der Familie. Der Vater glaubte schon seit seinen jungen Jahren nicht an Gott, und im späteren Alter sprach er darüber offen vor der Mutter und den Kindern. Die Mutter zog vor, diese Fragen zu umgehen, und schlug bei passenden Gelegenheiten die Augen zum Himmel empor.

Als ich sieben bis acht Jahre alt war, galt allerdings der Glaube an Gott offiziell noch als selbstverständlich. Einmal fragte mich ein zugereister Gast, dem die Eltern wie gewöhnlich den Sohn vorführten, wobei sie mich zwangen, meine Zeichnungen zu zeigen und Verse aufzusagen:

„Nun, und was ist Gott?“ „Gott“, antwortete ich, ohne zu schwanken, „ist so ein Mensch.“ Der Gast schüttelte den Kopf: „Nein, Gott ist kein Mensch.“

„Was ist Gott sonst?“ fragte ich nun meinerseits, denn außer Menschen kannte ich nur noch Tiere und Pflanzen. Der Gast, Vater und Mutter sahen sich mit einem verlegenen Lächeln an, wie Erwachsene es immer tun, wenn Kinder an den unerschütterlichen Gemeinplätzen zu rütteln versuchen.

„Gott ist ein Geist“, sagte der Gast. Jetzt blickte ich mit verwirrtem Lächeln auf die Erwachsenen, um aus ihren Gesichtern zu lesen, ob sie mit mir Scherz trieben. Aber nein, es war kein Scherz. Ich mußte mich damit abfinden. Ich gewöhnte mich also daran, daß Gott ein Geist sei. Wie es sich für einen kleinen Wilden gehört, vermengte ich ihn mit meinem eigenen „Geist“, den ich Seele nannte, und wußte schon, daß der Geist, das heißt die Atmung, mit dem Tode aufhörte. Damals war mir noch nicht bekannt daß diese Lehre Animismus heißt.

Während meiner ersten Ferien begann ich, als ich mich auf den Diwan schlafen legen wollte, mit dem in Janowka zu Besuch weilenden Studenten S., der auf dem Sofa lag, ein Gesprächüber Gott. An die Existenz Gottes hatte ich zu dieser Zeit halb geglaubt und auch halb nicht geglaubt, ich hatte mich überhaupt damit nicht besonders beschäftigt, wollte aber doch gern eine feste Entscheidung treffen.

„Und wo bleibt die Seele nach dem Tode?“ fragte ich, während mein Kopf sich über das Kissen neigte. „Und wo bleibt sie, wenn der Mensch schläft?“ erfolgte die Antwort. „Nun, dann, immerhin ...“, erwiderte ich mit dem Schlaf kämpfend.

„Und wo bleibt die Seele des Pferdes, wenn es krepiert?“ setzte mir S. zu. Dieser Einwand befriedigte mich vollauf, und ich schlief ruhig ein.

In der Familie Spenzer spürte man von Religiosität überhaupt nichts, wenn man die alte Tante unbeachtet läßt, die übrigens auch nicht mitzählte. Der Vater aber wollte gern, daß ich die Bibel im Urtext kenne; das war ein Punkt seines väterlichen Ehrgeizes, und ich nahm in Odessa Bibelstunden bei einem sehr gelehrten Alten. Der Unterricht dauerte nur einige Monate und hat mich im Glauben der Väter nicht gefestigt. Als ich in den Worten des Lehrers eine gewisse Zweideutigkeit in bezug auf den Text, den wir lernten, entdeckte, stellte ich vorsichtig und diplomatisch die Frage:

„Wenn man, wie so manche glauben, annimmt daß es keinen Gott gibt, wie ist dann die Welt entstanden?“

„Hm“, antwortete mein Lehrer, „Sie können ja die Frage auf ihn selbst anwenden.“ Genau so knifflich hat sich der Alte ausgedrückt. Mir wurde klar, daß mein Religionslehrer nicht an Gott glaubte, und ich gab mich endgültig zufrieden.

Die Schüler der Realschule gehörten verschiedenen Nationalitäten und verschiedenen Religionen an. Religionsunterricht erteilte, je nach der Religionszugehörigkeit: den Orthodoxen ein Pope, den Protestanten ein Pfarrer, den Katholiken ein Pater und den Juden ein Religionslehrer. Der Pope, ein Neffe des Bischofs und, wie man sagte, ein Liebling der Damen, war eine junge blonde Christusschönheit, aber durchaus salonmäßig, mit goldener Brille, üppigem goldblonden Haar, im Benehmen von unerträglicher Gesalbtheit: Vor dem Religionsunterricht trennten sich die Schüler, die Andersgläubigen mußten aus der Klasse gehen, meistens an der Nase des Popen vorbei. Er schnitt stets ein merkwürdiges Gesicht, während er die Hinausgehenden mit einem Ausdruck von Verachtung, gemildert durch wahrhaft christliche Nachsicht, betrachtete. „Wohin wollt ihr?“ fragte er einen der Weggehenden. „Wir sind Katholiken“, antwortete der. „Ah, Katholiken“, wiederholte er kopfschüttelnd, „so ... so ... so ... Und Sie?“ „Wir sind Juden.“ „Ju-den, Ju-den, so ... so ... so ...“ Zu den Katholiken kam der Pater, der stets unmerklich an der Klassentür als schwarzer Schatten auftauchte und ebenso unmerklich verschwand, so daß ich in allen Jahren kein einziges Mal sein glattrasiertes Gesicht richtig betrachten konnte. Ein gutmütiger Herr namens Ziegelmann lehrte die jüdischen Schüler die Bibel und die Geschichte des jüdischen Volkes. Diese Stunden nahm keiner ernst.

Das nationale Moment nahm in meinem Bewußtsein keinen selbständigen Platz ein, da ich es im Alltagsleben nur wenig zu spüren bekam. Nach den einschränkenden Gesetzen von 1881 konnte mein Vater zwar kein Land mehr hinzukaufen, was er so sehr erstrebt hatte, und mußte es nun unter Verschleierung pachten. Aber mich berührte das wenig. Als Sohn eines wohlhabenden Gutsbesitzers gehörte ich eher zu den Privilegierten als zu den Unterdrückten. Die Sprache der Familie und des Gutshofs war Russisch-Ukrainisch. In die Schulen wurden Juden zwar nur nach einer Prozentnorm aufgenommen, weshalb ich ein Jahr verlor. Aber später war ich immer Erster und fühlte die „Norm“ nicht. Eine offen nationalistische Hetze gab es in der Schule kaum. Das verhinderte schon die nationale Buntheit in der Zusammensetzung nicht nur der Schüler, sondern auch der Lehrer. Ein versteckter Chauvinismus war aber immerhin vorhanden und äußerte sich von Zeit zu Zeit auch offen. Der Geschichtslehrer Ljubimow befragte einmal mit besonderem Eifer einen polnischen Schüler über die Verfolgungen der Orthodoxen durch die Polen in Weißrußland und Litauen. Mizkewitsch, ein dunkler, schmaler Knabe, wurde grün im Gesicht, stand mit zusammengebissenen Zähnen da und sagte kein Wort „Nun, was meinen Sie?“ ermunterte ihn Ljubimow mit offensichtlicher Wollust „Warum schweigen Sie?“ Einer der Schüler hielt es nicht aus und rief von seinem Platze: „Mizkewitsch ist selbst Pole und Katholik.“ „A ... a ...“, dehnte Ljubimow seine gespielte Verwunderung aus, „wir machen hier keine Unterschiede.“

Mich berührten in gleicher Weise die maskierten Gemeinheiten des Geschichtslehrers gegen die Polen, die Gereiztheit des Franzosen Burnand gegen die Deutschen, das Kopfschütteln des Popen gegen die Juden. Wahrscheinlich hat die nationale Ungleichheit einen unterirdischen Anstoß zu meiner Unzufriedenheit mit dem bestehenden Regime gegeben; aber diese Ursache löste sich in den anderen Erscheinungen sozialer Ungerechtigkeit auf und spielte keine ausschlaggebende, überhaupt keine selbständige Rolle.

Das Gefühl des Vorrangs des Ganzen über das Partielle, des Gesetzes über das Faktum, der Theorie über die persönliche Erfahrung entstand in meinen frühen Jahren und hat sich mit der Zeit nur verstärkt. Bei der Ausbildung dieses Gefühls, das später die Basis meiner Weltanschauung wurde, hat die Stadt den entscheidenden Einfluß gehabt. Wenn Knaben, die Physik und Naturwissenschaften lernten, abergläubische Bemerkungen machten über den „schweren“ Montag, oder den Popen, der einem den Weg kreuzte, erfaßte mich tiefe Empörung, das Gefühl verratener Vernunft. Ich war bereit, auf die Wände zu klettern, um sie von ihrem schändlichen Aberglauben abzubringen.

Als man sich in Janowka lange mit der Ausmessung einer Feldfläche, die die Form eines Trapezes hatte, abplagte, verfuhr ich nach Euklidischer Methode, wo für ich zwei Minuten Zeit gebrauchte. Aber mein Ergebnis stimmte nicht mit dem überein, was sich „aus der Praxis“ ergab, und man glaubte mir nicht. Ich brachte ein Geometriebuch, schwor im Namen der Wissenschaft, war sehr aufgeregt und sagte Grobheiten: ich sah, daß die Menschen nicht zu überzeugen waren, und geriet in Verzweiflung.

Ich führte einen heftigen Streit mit unserem Mechaniker Iwan Wassiljewitsch, der die Hoffnung nicht aufgeben wollte, ein Perpetuum mobile zu konstruieren. Das Gesetz der Energieerhaltung schien ihm eine Erfindung, die mit der Sache nichts zu tun hat. „Anders in Büchern, anders die Praxis ...“, pflegte er zu sagen. Mir war es unverständlich und unerträglich, daß Menschen im Namen gewohnter Irrtümer oder sinnloser Phantastereien unerschütterliche Wahrheiten zurückwiesen.

Später wurde das Gefühl der Überlegenheit des Ganzen über das Detail ein unzertrennliches Stück meines schriftstellerischen Schaffens und meiner politischen Betätigung. Der stumpfsinnige Empirismus, das Anbeten des mitunter nur eingebildeten oder falsch verstandenen Faktums waren mir verhaßt. Ich suchte für die Fakten Gesetze. Das führte natürlich manchmal zu voreiligen und unrichtigen Verallgemeinerungen, besonders in meiner Jugend, als mir die Verallgemeinerungen sowohl das Buchwissen wie die Lebenserfahrung fehlten. Aber auf allen Gebieten ohne Ausnahme konnte ich mich nur dann frei bewegen und handeln, wenn ich den Faden des Ganzen in der Hand hielt. Der sozialrevolutionäre Radikalismus, der die geistige Achse meines ganzen Lebens werden sollte, ist gerade aus dieser intellektuellen Feindschaft zu der Brockenrafferei, zum Empirismus, zu allem geistig Umgeformten und theoretisch Zerfahrenen erwachsen.

Ich versuche, auf mich zurückzublicken. Der Knabe war zweifellos ehrgeizig, jähzornig, vielleicht auch unverträglich. Behn Eintritt in die Schule hat er wahrscheinlich kaum das Gefühl der Überlegenheit über seine Altersgenossen gehabt. Zwar wurde er im Dorfe immer den Gästen vorgeführt, aber dort hatte es keine Vergleichsmöglichkeiten gegeben, und die Stadtjungen, die nach Janowka kamen, besaßen stets die unerreichbare Überlegenheit der Gymnasiasten, verbunden mit der Überlegenheit des Alters, so daß man zu ihnen nicht anders als emporschauen konnte. Die Schule ist ein Feld der grimmigen Rivalität. Von dem Augenblick an, wo er, den Zweiten überholend, Primus wurde, fühlte der kleine Abkömmling aus Janowka, daß er mehr konnte als die anderen. Die Knaben, die sich ihm näherten, erkannten seine Überlegenheit an. Das konnte nicht ohne Einfluß auf den Charakter bleiben. Die Lehrer lobten ihn, und manche, wie Kryschanowski, strichen ihn sogar besonders gut heraus. Im allgemeinen benahmen sich die Lehrer gegen ihn zwar gut, aber doch trocken. Die Schüler teilten sich in heiße Freunde und Gegner.

Dem Knaben fehlte es nicht an Selbstkritik. Er stellte sogar große Ansprüche an sich. Seine Kenntnisse und Charaktereigenschaften befriedigten ihn nicht, und zwar je älter er wurde, um so weniger. Unbarmherzig entlarvte er sich bei einer Unwahrheit und machte sich jedesmal Vorwürfe, wenn er ein Buch, das die anderen wie selbstverständlich erwähnten, nicht gelesen hatte. Das hing natürlich eng mit dem Ehrgeiz zusammen. Der Gedanke, daß man besser, erhabener, belesener sein müsse, bohrte stets in seiner Brust. Er dachte an die Bestimmung des Menschen hn allgemeinen und an die seine im besonderen.

Eines Abends fragte mich Moissej Filippowitsch im Vorbeigehen: „Na, mein Freund, denkst du auch über das Leben nach?“ Mein Erzieher nahm oft Zuflucht zur scherzhaften Rhetorik, zum ironisch-theatralischen Ton. Mich aber hatte es getroffen. Ja, gerade über das Leben dachte ich nach: nur konnte ich meine knabenhafte Sorge um die Zukunft nicht beim richtigen Namen nennen. Mir war, als habe mich mein Erzieher belauscht. „Ich habe wohl richtig geraten?“ sagte er in anderem Ton, klopfte mir auf die Schulter und ging in sein Zimmer.

Hat es in der Familie Spenzer politische Ansichten gegeben? Gemäßigt liberale, auf humanistischer Basis; Moissej Filippowitsch hatte nebelhaft sozialistische Sympathien, tolstoianisch gefärbt. Politische Fragen wurden fast niemals berührt, besonders nicht in meiner Gegenwart: es ist möglich, daß dabei die Befürchtung mitspielte, ich könnte etwas zu meinen Kameraden sagen und dadurch Unheil heraufbeschwören. Wenn aber in den Gesprächen der Erwachsenen zufällige Erwähnungen revolutionärer Ereignisse vorkamen, wie zum Beispiel: „das war im Jahre der Ermordung Alexanders II.“, so klang es so nach Vergangenheit, als hätte man gesagt: das war im Jahre der Entdeckung Amerikas. Das Milieu, in dem ich lebte, war unpolitisch. So hatte ich während meiner Schuljahre weder politische Ansichten noch das Bedürfnis danach verspürt. Aber mein unbewußtes Streben war oppositionell. Es war eine tiefe Feindseligkeit gegen das Bestehende, gegen Ungerechtigkeit, Willkür. Woher stammte sie? Aus den Zuständen in der Epoche Alexanders III., aus Polizeiherrschaft, gutsherrlicher Ausbeutung, aus Beamtenbestechlichkeit, den nationalen Beschränkungen, aus den Ungerechtigkeiten in der Schule und auf der Straße, aus dem nahen Leben mit Bauernjungen, Dienstboten, Arbeitern, aus Gesprächen in der Werkstatt, aus dem humanen Geist in der Familie Spenzer, aus den Gedichten von Nekrassow und anderen Büchern, aus der ganzen gesellschaftlichen Atmosphäre. Diese oppositionellen Stimmungen habe ich bei mir in der Berührung mit zwei Schulkameraden, Rodsewitsch und Kologriwow, entdeckt.

Wladimir Rodsewitsch war der Sohn eines Obersten und eine Zeitlang Zweiter in der Klasse, Er erbat von seinen Eltern die Erlaubnis, mich an einem Sonntag einzuladen. Ich wurde trocken, aber gut empfangen. Der Oberst und dessen Frau sprachen mit mir wenig und ausforschend. In den drei bis vier Stunden, die ich dort im Hause verbrachte, stieß ich zweimal auf etwas Fremdes und Beunruhigendes, sogar Feindseliges: als die Religion und als die Behörde erwähnt wurde. In der Familie Rodsewitsch herrschte ein Ton konservativer Frömmigkeit, den ich wie einen Stoß gegen die Brust empfand. Wladimirs Eltern erlaubten ihm nicht, mich zu besuchen, und unsere Beziehungen brachen ab, Nach der ersten Revolution gewann in Odessa ein Mitglied der Schwarzenhundert große Popularität, ein Rodsewitsch, sicherlich ein Angehöriger dieser Familie.

Noch krasser war der zweite Fall. Kologriwow war mitten im Schuljahr gleich in die zweite Klasse gekommen und wirkte dort wie ein Fremdkörper: er war groß, ungeschlacht und von ungewöhnlichem Fleiß. Was er nur konnte, lernte er auswendig. Schon im ersten Monat entstand in seinem Kopfe vor lauter Auswendiglernen ein Wirrwarr. Ließ ihn der Lehrer der Geographie zur Karte kommen, dann begann Kologriwow, ohne die Frage abzuwarten: „Jesus Christus hat der Welt folgende Gebote ...“ Nach der Geographiestunde sollte nämlich die Religionsstunde sein. Im Gespräch mit diesem Kologriwow, der mir, dem besten Schüler der Klasse, nicht ohne Achtung gegenüberstand, hatte ich beiläufig eine kritische Bemerkung über unseren Direktor gemacht. „Darf man denn so von einem Direktor sprechen?“ fragte mich mit aufrichtiger Entrüstung Kologriwow. „Weshalb denn nicht?“ erwiderte ich mit noch aufrichtigerem Erstaunen. „Er ist doch ein Vorgesetzter. Und wenn ein Vorgesetzter dir befiehlt, auf dem Kopfe zu gehen, so hast du zu gehen und nicht zu kritisieren.“ Gerade so hatte er es gesagt. Diese vollendete Formulierung verblüffte mich. Ich habe damals noch nicht verstehen können, daß der Junge nur das wiederholte, was er wohl häufig in seiner leibeigenen Famflie gehört hatte. Und obwohl ich noch keine eigenen Anschauungen besaß, fühlte ich klar, daß es Anschauungen gab, die ich nicht anzunehmen vermochte, ebenso wie ich madige Speisen nicht essen konnte.

Neben der dumpfen Feindschaft für das politische Regime in Rußland entstand unmerklich eine Idealisierung des Auslandes, Westeuropas und Amerikas. Aus einzelnen Bemerkungen und Glossierungen, die die Phantasie ergänzte, entstand das Bild einer hohen, gleichmäßigen, allumfassenden Kultur. Später verband sich damit noch die Vorstellung von einer idealen Demokratie. Der junge Rationalismus wähnte: ist etwas einmal verstanden worden, so wird es auch verwirklicht. Es schien darum unwahrscheinlich, daß in Europa noch Aberglauben herrschen, daß die Kirche dort eine große Rolle spielen und daß man in Amerika die Schwarzen verfolgen könnte. Diese aus der kleinbürgerlich-liberalen Umgebung in Fleisch und Blut übergegangene Idealisierung hielt sich auch später noch fest, als ich mir revolutionäre Ansichten anzueignen begann. Ich wäre wahrscheinlich in jenen Jahren sehr erstaunt gewesen, wenn ich vernommen hätte – wenn ich es hätte vernehmen können –, daß die deutsche Republik, von einer sozialdemokratischen Regierung gekrönt, Monarchisten bei sich duldet, aber Revolutionären das Asylrecht verweigert. Seit jener Zeit habe ich zum Glück aufgehört, mich über vieles zu wundern. Das Leben hat mir den Rationalismus ausgetrieben und hat mich Dialektik gelehrt. Selbst Hermann Müller kann mich nicht mehr in Erstaunen versetzen.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003