Leo Trotzki

 

Mein Leben


Vorwort

Unsere Zeit ist reich an Memoiren, vielleicht reicher als jede frühere. Das kommt daher, daß es viel zu erzählen gibt Das Interesse für Zeitgeschichte ist um so gespannter, je dramatischer die Zeit und je reicher sie an schroffen Wendungen ist. Die Kunst der Landschaftsmalerei konnte nicht in der Sahara entstehen. An der Wende zweier Epochen, wo wir stehen, hat man das Bedürfnis, auf den erst gestern vergangenen, aber schon so fernen Tag mit den Augen derer, die ihn aktiv miterlebt haben, zurückzublicken. Darin liegt wohl die Erklärung für die ungeheure Entwicklung der Memoirenliteratur seit dem letzten Krieg. Vielleicht ist hier auch die Rechtfertigung für das vorliegende Buch zu finden.

Schon die Möglichkeit, es zu schreiben, ist nur durch die Pause in der aktiven politischen Tätigkeit des Autors entstanden. Eine unvorhergesehene, wenn auch nicht zufällige Etappe meines Lebens ist Konstantinopel geworden. Im Biwak – nicht zum erstenmal in meinem Leben – harre ich hier geduldig dessen, was weiter kommen wird. Ohne eine Dosis „Fatalismus“ wäre das Leben eines Revolutionärs überhaupt unmöglich. Jedenfalls ist die Konstantinopeler Pause der geeignetste Moment, Rückschau zu halten, bevor die Umstände es wieder erlauben, weiterzuschreiten.

Anfangs schrieb ich flüchtige autobiographische Skizzen für die Zeitungen und dachte, mich damit zu begnügen. Ich möchte hier noch feststellen, daß ich in meinem Asyl keineMöglichkeit hatte, zu verfolgen, in welcher Gestalt diese Skizzen den Leser erreicht haben Jede Arbeit aber hat ihre Logik. Ich kam erst in dem Augenblick in mein Thema recht hinein, als ich die Zeitungsartikel fast beendet hatte. Nun beschloß ich, dieses Buch zu schreiben. Ich nahm einen anderen, viel breiteren Maßstab und begann die Arbeit von neuem. Die ursprünglichen Zeitungsartikel und das vorliegende Buch haben nur das gemein, daß beide den gleichen Stoff behandeln. Im übrigen sind es zwei voneinander völlig verschiedene Werke.

Mit besonderer Ausführlichkeit verweilte ich bei der zweiten Periode der Sowjetrevolution, deren Beginn mit der Krankheit Lenins und der Eröffnung der Kampagne gegen den „Trotzkismus“ zusammenfällt. Der Kampf der Epigonen um die Macht war, wie ich nachzuweisen versuchte, nicht nur ein persönlicher Kampf. Es war der Ausdruck eines neuen politischen Abschnitts: die Reaktion gegen den Oktober und die Vorbereitung des Thermidors.

Daraus ergibt sich von selbst die Antwort auf die Frage, die mir so oft gestellt wurde:

„Wie haben Sie die Macht verloren?“

Die Autobiographie eines revolutionären Politikers berührt notwendigerweise eine ganze Reihe theoretischer Fragen, die mit der sozialen Entwicklung seines Landes, zum Teil der Menschheit, verbunden sind, besonders mit jenen kritischen Perioden, die man Revolutionen nennt. Selbstverständlich war ich nicht in der Lage, auf diesen Seiten komplizierte theoretische Probleme ihrem Wesen nach zu untersuchen. Insbesondere geht durch dieses Buch als ein fernes Leitmotiv die sogenannte Theorie der permanenten Revolution, die in meinem Leben eine so große Rolle gespielt hat und die jetzt für die Länder des Ostens eine so scharfe aktuelle Bedeutung erhält. Sollte, was ich hier darüber ausführe, dem Leser nicht genügen, so kann ich ihm nur sagen, daß die Untersuchung des Problems der Revolution den Inhalt eines besonderen Buches bilden wird, in dem ich versuchen werde, die wichtigsten theoretischen Schlußfolgerungen der letzten Jahrzehnte zu ziehen.

Da auf den Seiten meines Buches eine nicht geringe Zahl von Personen vorbeigeht, nicht immer in der Beleuchtung, die sie selbst für sich und ihre Partei gewählt haben würden, so werden viele von ihnen finden, daß meinen Darstellungen die nötige Objektivität ermangele. Schon das Erscheinen von Auszügen in der periodischen Presse hat manchen Widerspruch hervorgerufen. Dies ist unvermeidlich. Man braucht nicht daran zu zweifeln, daß diese Selbstbiographie, auch wenn es mir gelungen wäre, sie zu einer Daguerreotypie meines Lebens zu gestalten – was ich gar nicht angestrebt habe –, dennoch einen Widerhall jener Diskussion hervorrufen würde, die seinerzeit von den geschilderten Kollisionen erzeugt wurden. Dieses Buch aber ist keine leidenschaftslose Photographie meines Lebens sondern ein Bestandteil meines Lebens. Auf diesen Seiten setze ich den Kampf fort, dem mein ganzes Leben gewidmet ist. Schildernd charakterisiere und werte ich; erzählend verteidige ich mich und greife noch häufiger an. Ich glaube, daß dies die einzig richtige Methode ist, eine Biographie in einem gewissen höheren Sinne objektiv zu gestalten, das heißt ihr einen der Person und der Epoche adäquaten Ausdruck zu geben.

Objektivität besteht nicht in gekünstelter Gleichgültigkeit, mit der eine abgestandene Heuchelei über Freund und Feind spricht, wobei sie dem Leser indirekt das zu suggerieren versucht, was offen zu sagen sich für sie nicht schickt. Diese Art Objektivität ist nur eine konventionelle Falle, nichts weiter. Ich habe sie nicht nötig. Habe ich mich nun einmal der Notwendigkeit unterworfen, vor mir zu sprechen – es ist noch keinem gelungen, eine Selbstbiographie zu schreiben, ohne von sich zu sprechen –, so habe ich keinen Grund, meine Sympathien und Antipathien, meine Liebe und meinen Haß zu verheimlichen.

Dieses Buch ist ein polemisches Buch. Es spiegelt die Dynamik jenes sozialen Lebens wider, das ganz auf Gegensätzen aufgebaut ist Schulerfrechheiten dem Lehrer gegenüber; unter Salonhöflichkeiten versteckte Sticheleien des Neides; ununterbrochene Geschäftskonkurrenz; besessener Wetteifer auf allen Gebieten der Technik, der Wissenschaft, der Kunst, des Sports; parlamentarische Zusammenstöße, in denen tiefgehende Interessengegensätzlichkeit pulsiert; der wütende Tageskampf derPresse; Arbeiterstreiks; Niederschießungen von Demonstranten; mit Giftgas gefüllte Koffer, die zivilisierte Nachbarn durch die Luft einander zusenden; die feurigen Zungen des Bürgerkrieges, die auf unserem Planeten fast nie verstummen – all das sind verschiedene Formen sozialer „Polemik“ von der alltäglichen, üblichen, normalen, trotz ihrer Intensität fast unmerklichen – bis zur ungeheuerlichen, explodierenden, vulkanischen Polemik der Kriege und der Revolutionen. So ist unsere Zeit. Mit ihr sind wir aufgewachsen. In ihr atmen und leben wir. Wie können wir unpolemisch sein, wenn wir unserer Zeit treu bleiben wollen?

Es gibt jedoch ein anderes, elementareres Kriterium, das einfach die Gewissenhaftigkeit bei der Darstellung von Tatsachen betrifft. Wie der unversöhnlichste revolutionäre Kampf mit den örtlichen und zeitlichen Umständen rechnen muß, so muß auch das polemischste Werk die Proportionen innehalten, die zwischen Dingen und Menschen bestehen. Ich will hoffen, daß diese Forderung sowohl in ihrer Gesamtheit wie in ihren Details von mir beachtet worden ist.

In einigen wenigen Fällen gebe ich alte Gespräche in Form von Dialogen wieder. Es wird niemand eine wörtliche Reproduktion der Gespräche verlangen, die vor vielen Jahien stattgefunden haben. Ich erhebe auch nicht den Anspruch darauf, sie stets wörtlich wie-dergegeben zu haben. Einige Dialoge haben eher einen symbolischen Charakter. Andererseits hat jeder Mensch in seinem Leben Momente, wo das eine oder andere Gespräch besonders scharf im Gedächtnis haften bleibt. Solche Gespräche gibt man gewöhnlich seinen Nächsten und seinen politischen Freunden wieder. Dadurch verankern sie sich in der Erinnerung. Ich meine hier selbstverständlich vor allem Gespräche politischen Inhalts.

Ich möchte noch erwähnen, daß ich gewohnt bin, meinem Gedächmis zu vertrauen. Seine Angaben wurden wiederholt objektiv nachgeprüft und hielten der Prüfung stand. Dabei ist übrigens eine Feststellung nötig. Ist auch mein topographisches Gedächtnis sehr schwach, von dem musikalischen ganz zu schweigen, ist mein bildliches und linguistisches Erinnerungsvermögen recht mittelmäßig so steht mein gedankliches Gedächtnis weit über dem Durchschnitt. Und in diesem Buch nehmen Gedanken, ihre Entwicklung und der Kampf der Menschen um Ideen eigentlich den Hauptraum ein.

Gewiß ist das Gedächtnis keine automatische Rechenmaschine. Es ist am allerwenigsten uneigennützig. Nicht selten verdrängt es oder rückt es solche Episoden, die dem sie kontrollierenden Lebensinstinkt unvorteilhaft sind, in einen finsteren Winkel, – das geschieht am häufigsten unter dem Gesichtspunkt des Ehrgeizes. Das aber ist nun Angelegenheit der „psychoanalytischen“ Kritik, die manchmal geistvoll und lehrreich, häufiger aber launisch und willkürlich ist.

Es ist überflüssig, zu sagen, daß ich mein Gedächtnis eifrigst durch dokumentarische Belege kontrollierte. So sehr mir auch die Arbeitsbedingungen im Sinne von Bibliothek- und Archivauskünften bei der Niederschrift erschwert waren, so hatte ich doch die Möglichkeit, alle wesentlichen Umstände und Daten, deren ich bedurfte, nachzuprüfen.

Seit 1897 habe ich den Kampf hauptsächlich mit der Feder in der Hand geführt. Auf diese Weise haben die Ereignisse meines Lebens eine fast ununterbrochene Druckspur auf einer Strecke von über zweiunddreißig Jahren hinterlassen. Der fraktionelle Kampf in der Partei war seit 1903 sehr reich an persönlichen Episoden. Meine Gegner ebenso wie ich sparten nicht mit Schlägen, die Drucknarben hinterlassen haben. Seit dem Oktoberumsturz begann die Geschichte der revolutionären Bewegung einen großen Platz einzunehmen in den Untersuchungen junger Sowjetgelehrter und ganzer Institutionen. Aus den Archiven der Revolution und des zaristischen Polizeidepartements wird alles, was von Interesse ist, hervorgeholt und, versehen mit eingehenden Kommentaren, herausgegeben. In den ersten Jahren, als noch keine Notwendigkeit bestand, etwas zu verheimlichen oder zu verschleiern, wurde diese Arbeit mit größter Gewissenhaftigkeit ausgeführt. Die Werke Lenins und ein Teil der meinen sind im Staatsverlag mit Anmerkungen erschienen, die in jedem Bande Dutzende von Seiten einnehmen und unersetzliches Tatsachenmaterial sowohl über die Tätigkeit der Autoren wie über die Ereignisse der entsprechenden Zeitspannen enthalten. All das hat mir die Arbeit natürlicherweise erleichtert, da es mir half, ein zuverlässiges chronologisches Gewebe herzustellen und damit mindestens grobe tatsächliche Irrtümer zu vermeiden.

Ich will nicht leugnen, daß mein Leben in nicht ganz geregelter Weise verlief. Die Gründe dafür sind jedoch eher in den Zeitverhältnissen zu suchen als in mir. Gewiß waren auch bestimmte persönliche Eigenschaften nötig, um jene gute oder schlechte Arbeit zu vollbringen, die ich geleistet habe. Unter anderen historischen Bedingungen hätten jedoch diese persönlichen Eigenschaften ruhig schlummern können, wie unzählige menschliche Leidenschaften und Neigungen, für die unter bestimmten sozialen Verhältnissen keine Nachfrage besteht, zu schlummern pflegen. Dafür wären vielleicht andere Eigenschaften hervorgetreten, die jetzt verdrängt oder unterdrückt sind. Über dem Subjektiven erhebt sich das Objejtive, und dieses entscheidet zu guter Letzt.

Meine bewußte und aktive Tätigkeit, die etwa mit dem Alter von siebzehn bis achtzehn Jahren begann, verlief in stetem Kampf um bestimmte Ideen. In meinem persönlichen Leben gab es keine Ereignisse, die an sich die öffentliche Aufmerksamkeit verdienen könnten; alle einigermaßen außergewöhnlichen Geschehnisse sind mit dem revolutionären Kampf verbunden und haben durch ihn Bedeutung erhalten. Nur dieser Umstand kann das Erscheinen meiner Selbstbiographie rechtfertigen.

Aus dieser Quelle entstehen aber auch die Schwierigkeiten für den Autor. Die Tatsachen des persönlichen Lebens zeigen sich als so eng mit dem Gewebe der historischen Ereignisse verflochten, daß man schwer das eine von dem anderen trennen kann. Dennoch stellt dieses Buch keine historische Untersuchung dar. Die Ereignisse sind nicht vom Standpunkt ihrer objektiven Bedeutsamkeit ausgewählt worden, sondern im Hinblick darauf, in welcher Weise sie mit Tatsachen des persönlichen Lebens verknüpft waren. Es ist darum nicht verwunderlich, daß in der Charakteristik einzelner Ereignisse und ganzer historischer Etappen jene Proportion fehlt, die man fordern dürfte, wenn das Buch eine historische Arbeit darstellen wollte. Die Trennungslinie zwischen der Selbstbiographie und der Revolutionsgeschichte mußte man empirisch finden. Ohne die Lebensbeschreibung in eine historische Untersuchung aufzulösen, war es dennoch nötig, dem Leser in den Tatsachen geschichtlicher Entwicklung einen Stützpunkt zu bieten. Ich ging dabei von der Erwägung aus, daß der Leser, die Grundumrisse. der großen Ereignisse kenne und daß sein Gedächtnis nur eines kurzen Hinweises auf historische Fakten und deren Folge bedürfe.

Zu dem Zeitpunkt, wo dieses Buch erscheint, werde ich fünfzig Jahre alt. Mein Geburtstag fällt auf den Tag der Oktoberrevolution. Mystiker und Pythagoräer mögen daraus Schlüsse ziehen, die ihnen zusagen. Ich selbst habe dieses kuriose Zusammentreffen erst drei Jahre nach der Oktoberrevolution entdeckt. Neun Jahre lebte ich ununterbrochen in einem entlegenen Dorfe. Acht Jahre besuchte ich die Mittelschule. Ein Jahr nachdem ich die Schule beendet hatte, wurde ich zum erstenmal verhaftet. Als Universitäten dienten mir, wie vielen meiner Altersgenossen, Gefängnisse, Verbannung und Emigration. In den zaristischen Gefängnissen saß ich zweimal, insgesamt etwa vier Jahre; in der zaristischen Verbannung verbrachte ich das erste Mal annähernd zwei Jahre, das zweite Mal einige Wochen. Zweimal bin ich aus Sibirien geflohen. Als Emigrant lebte ich insgesamt etwa zwölf Jahre in verschiedenen Ländern Europas und Amerikas, davon zwei Jahre vor der Revolution von 1905 und beinahe zehn Jahre nach ihrer Niederschlagung. Während des Krieges wurde ich im hohenzollerischen Deutschland in contumaciam zu Gefängnis verurteilt (1915), im folgenden Jahr aus Frankreich und Spanien ausgewiesen, von wo ich nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt in Madrid und nach einem etwa einmonatigen Aufenthalt unter Polizeiaufsicht in Cadiz nach Amerika ausgewiesen wurde. Dort erreichte mich die Nachricht von der Februarrevolution. Unterwegs aus New York nach Rußland, verhafteten mich die Engländer im März 1917 und hielten mich einen Monat im Konzentrationslager in Kanada fest. Ich beteiligte mich an den Revolutionen von 1905 und 1917, war Vorsitzender des Petersburger Sowjets der Deputierten zuerst im Jahre 1905 und dann 1917. Ich nahm nahen Anteil an dem Oktoberumsturz und war Mitglied der Sowjetregierung. In der Eigenschaft eines Volkskommissars des Auswärtigen führte ich in Brest-Litowsk mit den Vertretern Deutschlands, Österreich-Ungarns, der Türkei und Bulgariens die Friedensverhandlungen. In der Eigenschaft des Volkskommissars für Kriegs- und Marinewesen widmete ich fünf Jahre der Organisation der Roten Armee und dem Aufbau der Roten Flotte. Während des Jahres 1920 übernahm ich daneben noch die Leitung der Wiederaufrichtung des damals desorganisierten Eisenbahnwesens.

Den Hauptinhalt meines Lebens bildeten – mit Ausnahme der Bürgerkriegsiahre – schriftstellerische Arbeiten und Parteitätigkeit. Im Jahre 1923 begann der Staatsverlag mit der Herausgabe meiner Werke. Er hat Zeit gehabt, abgesehen von den fünf Bänden über militärische Arbeiten, dreizehn Bände erscheinen zu lassen. Die Herausgabe weiterer Bände wurde im Jahre 1927 eingestellt, als die Hetze gegen den „Trotzkismus“ besonders verbitterte Formen angenommen hatte.

Im Januar 1928 schickte mich die heutige Sowjetregierung in die Verbannung. Ein Jahr verbrachte ich an der Grenze Chinas. Im Februar 1929 wurde ich in die Türkei ausgewiesen und schreibe diese Zeilen in Konstantinopel.

Selbst nach dieser skizzenhaften Darstellung kann man meinen äußeren Lebenslauf nicht als monoton bezeichnen. Im Gegenteil, nach der Zahl der jähen Wendungen, nach den Plötzlichkeiten, scharfen Konflikten, nach den Auf- und Abstiegen kann man eher sagen, daß mein Leben an „Abenteuern“ reich ist. Dennoch erlaube ich mir, zu behaupten, daß ich meinen ganzen Neigungen nach nichts mit Abenteurern gemein habe. Ich bin eher pedantisch und in meinen Gewohnheiten konservativ. Ich liebe und schätze Disziplin und Systematik. Keinesfalls um des Paradoxons willen, sondern weil es so ist, muß ich sagen, daß ich Unordnung und Vernichtung nicht ausstehen kann. Ich war stets ein sehr fleißiger und pünktlicher Schüler. Diese zwei Eigenschaften habe ich mir für mein ganzes Leben bewahrt. In den Jahren des Bürgerkrieges, als ich in meinem Zug eine Strecke zurücklegte, die das Mehrfache des Äquatorumfanges beträgt, freute ich mich über jeden neuen Zaun aus frischen Fichtenbrettern. Lenin, der diese meine Leidenschaft kannte, pflegte mich freundschaftlich damit zu necken. Ein gut geschriebenes Buch, in dem man neue Gedanken findet, und eine gute Feder, mit der man seine eigenen Gedanken anderen mitteilen kann, waren mir stets – und sind mir noch – die wertvollsten und mir vertrautesten Kulturprodukte. Das Bestreben, zu lernen, hat mich niemals verlassen, und ich habe oftmals im Leben das Gefühl gehabt, die Revolution hindere mich daran, systematisch zu arbeiten. Und dennoch ist fast ein drittel Jahrhundert meines bewußten Lebens vom revolutionären Kampfe erfüllt. Und müßte ich von neuem anfangen, ich würde unbedenklich den gleichen Weg gehen.

Ich bin gezwungen, diese Zeilen in der Emigration, der dritten in der Reihenfolge, zu schreiben, während meine nächsten Freunde, die an der Schaffung der Sowjetrepublik entscheidenden Anteil haben, deren Verbannungsorte und Gefängnisse füllen. Einige von ihnen werden schwankend, treten zurück, beugen sich vor dem Gegner. Die einen, weil sie moralisch verbraucht sind; die anderen, weil sie selbständig keinen Ausweg aus dem Labyrinth der Verhältnisse finden können; die dritten unter dem Druck materieller Repressalien. Ich habe bereits zweimal eine solche Massenfahnenflucht erlebt: nach dem Zusammenbruch der Revolution von 1905 und zu Beginn des Weltkrieges. Ich kenne also aus der Lebenserfahrung solche Fluten und Ebben nur zu gut. Sie unterliegen einer Gesetzmäßigkeit. Durch nackte Ungeduld kann man ihren Wechsel nicht beschleunigen. ich bin nicht gewohnt, historische Perspektiven unter dem Gesichtswinkel des persönlichen Schicksals zu betrachten. Die Gesetzmäßigkeit der Ereignisse erkennen und in dieser Gesetzmäßigkeit seinen Platz finden, ist die erste Pflicht des Revolutionärs. Das ist auch die höchste persönliche Befriedigung, die ein Mensch finden kann, der seine Aufgaben nicht an den Tag bindet.

Prinkipo, den 14. September 1929
L. Trotzki


P.S. Indem ich dieses Buch dem deutschen Leser übergebe, möchte ich feststellen, daß Alexandra Ramm nicht nur die Übersetzerin des russischen Originals gewesen ist, sondern darüber hinaus auch dauernd um das Schicksal des Buches Sorge getragen hat. Ich spreche ihr an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank aus.

L.T.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008