Leo Trotzki

 

Über Brandler und Thalheimer

(Aus einem Brief an den französischen Genossen Boris Souvarine)

(25. April 1929)


Quelle: Dahmer (Hrsg.), Trotzki: Schriften über Deutschland, 1971.
Transkription: Heinz Hackelberg.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Konstantinopel, 25. April 1929

... In der Arbeiterpolitik vom 16. März habe ich Thalheimers Bericht über die russische Diskussion gelesen. Ich brauchte wahrhaftig keine Zeit für „Studium“ oder „Reflexion“, um festzustellen, dass die Brandler–Thalheimer-Gruppe auf der anderen Seite der Barrikade steht. Rekapitulieren wir die Tatsachen.

1. 1923 war diese Gruppe unfähig, eine außergewöhnlich revolutionäre Situation zu erkennen und zu nutzen.

2. 1924 versuchte Brandler, die revolutionäre Situation als unmittelbar bevorstehend, statt als zurückliegend zu sehen.

3. 1925 entschied er, dass überhaupt keine revolutionäre Situation bestanden hatte, sondern eine „Überschätzung“ auf Seiten Trotzkis.

4. 1925–26 hielt er den Kurs auf den Kulaken, den damaligen Stalin–Bucharin-Kurs für richtig.

5. 1923–25 unterstützte Thalheimer als Mitglied der Programmkommission Bucharin gegen mich in der Frage des Charakters des Programms (für ein bloßes Schema des nationalen Kapitalismus anstelle einer theoretischen Verallgemeinerung der Weltwirtschaft und Weltpolitik).

6. Brandler und Thalheimer haben meines Wissens nirgendwo gegen die Doktrin vom Sozialismus in einem Lande protestiert.

7. Brandler und Thalheimer versuchten, sich in die Parteiführung hinein zu schleichen, indem sie (wie Foster in Amerika) eine stalinistische Schutzfarbe annahmen.

8. In der Frage der Chinesischen Revolution hingen Brandler und Thalheimer im Schlepptau der offiziellen Führung.

9. Ebenso in der Frage des Anglo-Russischen Komitees.

Ich blicke also auf eine sechsjährige Erfahrung zurück. Es kann Ihnen nicht entgangen sein, dass ich keine Eile hatte, Brandler zu verurteilen. Nach dem furchtbaren Zusammenbruch der deutschen Revolution im Jahre 1923 übernahm ich die bedingte Verteidigung Brandlers, indem ich argumentierte, es sei unwürdig, ihn zum Sündenbock zu machen, während die Sinowjew–Stalin-Führung der Komintern als ganze für die deutsche Katastrophe verantwortlich war. Zu einer negativen politischen Einschätzung Brandlers kam ich erst, als ich mich davon überzeugen mußte, daß er weder den Wunsch noch die Fähigkeit besaß, selbst aus den bedeutendsten Ereignissen zu lernen. Seine rückblickende Einschätzung der deutschen Situation von 1923 entspricht ganz und gar der Kritik, die die Menschewiki in den Jahren der Reaktion an der russischen Revolution von 1905 übten. Ich hatte Zeit genug, über all das zu „reflektieren“ ...


Zuletzt aktualisiert am 9.11.2011