Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


II. Die ökonomische Macht der Vereinigten Staaten als Grundlage des Opportunismus

Man könnte die Frage aufwerfen: wozu hat das Kapital all das nötig? Die Antwort dürfte deutlich werden, wenn man die gegenwärtige Machtstellung des amerikanischen Kapitals und jene Tendenzen berücksichtigt, die aus dieser Machtstellung erwachsen. Amerika ist für das amerikanische Kapital kein sich selbst genügendes Aktionsfeld mehr, nein, es ist jetzt ein Lagerplatz für neue gigantische Operationen geworden. Und die amerikanische Bourgeoisie muss sich mittels des Opportunismus in seiner vollendeten Form den Rücken decken, um desto sicherer nach außen vorgehen zu können.

Eine andere Frage: Wie ist es möglich, dass heute, nach dem imperialistischen Gemetzel, an dem auch die U.S.A. teilgenommen haben, bei der großen Zahl von Erfahrungen, die die Werktätigen aller Länder angesammelt haben, wie ist es heute, zu Anfang des zweiten Viertels des 20. Jahrhunderts, möglich, einen derartigen „standardisierten“ Opportunismus zu verwirklichen? Auf welche Weise? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Machtstellung des amerikanischen Kapitals, mit der alles bisher Bekannte nicht im entferntesten verglichen werden kann.

Das kapitalistische Regime hat in manchen Gegenden Europas, in den verschiedensten Weltteilen, viele Erfahrungen gemacht. Die ganze Geschichte der Menschheit lässt sich als eine endlose verwirrte Kette von Versuchen betrachten, die jeweilige soziale Arbeitsorganisation – die patriarchalische, sklavische, feudale und kapitalistische – eine Stufe höher zu heben. Die meisten Versuche, Experimente und Ansätze stellte die Geschichte mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung an. Vor allem und am mannigfaltigsten in Europa. Aber der gigantischste und „erfolgreichste“ Versuch kam in Nordamerika zur Ausführung. Man denke nur: Amerika wurde Ende des 15. Jahrhunderts entdeckt, als Europa bereits auf eine reiche Geschichte zurücksah. Im 16., 17., im 18. und zum großen Teil auch im 19. Jahrhundert waren die Vereinigten Staaten eine gigantische, auf sich selbst gestellte Provinz, die sich von den Brosamen der europäischen Zivilisation nährte. Und doch wuchs und gestaltete sich dort das Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“. Die Natur hat in Amerika alle Voraussetzungen eines gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwungs geschaffen. Europa warf eine Menschenwoge nach der anderen über den Ozean; es waren Elemente, die für die Entwicklung der Produktivkräfte am geeignetesten waren. Was bedeuteten alle europäischen Bewegungen, sowohl reformerisch-religiöser, als politisch-revolutionärer Art, anderes als den Kampf fortschrittlicher Elemente, zunächst der ganzen Kleinbourgeoisie und dann der Arbeiter, gegen das alte feudale und kirchliche Gerümpel, das der Entwicklung der Produktivkräfte im Wege war? Was Europa Gutes hervorbrachte, das ging über den Ozean. Die Blüte der europäischen Nationen, ihre aktivsten Elemente, die sich um jeden Preis ihren Weg bahnen wollten, kamen so in eine Atmosphäre, wo es keinerlei historische Tradition gab, sondern nur die unerschöpflich reiche, ursprüngliche Natur. Dies ist der Untergrund der amerikanischen Entwicklung, der amerikanischen Technik, des amerikanischen Reichtums! ...

Der unerschöpflichen Natur fehlte der Mensch. Die Arbeitskraft war in den Vereinigten Staaten das kostbarste Gut. Daher dort die Mechanisierung der Arbeit. Das „Fließband“prinzip ist kein Zufallsprodukt – in ihm kommt das Bestreben zum Ausdruck, den Menschen mechanisch zu ersetzen, die Arbeitskraft zu multiplizieren, automatisch herbeizubringen, fortzuschaffen, zu reichen, hinabzulassen, zu heben – alles das musste die Maschine leisten und nicht das Rückgrat des Menschen. Das ist das Fließbandprinzip. Wo wurde der Aufzug erfunden? In Amerika, um ohne den Menschen auszukommen, der den Kornsack auf seinem Rücken hinaufträgt. Und die Förderrinnen? In den Vereinigten Staaten gibt es hunderttausend Kilometer Förderrinnen, d.h. „Fließbahnen“ für flüssige Körper. Endlich die Gurtförderung als Transportmittel innerhalb der Betriebe, deren höchste Organisationsform in den bekannten Ford-Betrieben verwirklicht ist.

Das Lehrlingswesen ist in Amerika fast unbekannt; Arbeitskraft ist teuer, man spart die für Lehrlingsausbildung erforderliche Zeit, man zergliedert den Arbeitsprozess in seine kleinsten Elemente und Handreichungen, die so gut wie keine Ausbildung erfordern. Und wer sammelt die Elemente des Arbeitsprozesses? Der Fördergurt, das Fließband, das Paternosterwerk. Auch die Ausbildung wird durch sie besorgt. Der südeuropäische, ukrainische oder bulgarische junge Bauer verwandelt sich in kurzer Zeit in einen Industriearbeiter, der vor dem Transportgurt stehend, die Handgriffe erlernt.

Wie der Standard, ist auch die Serienproduktion mit der amerikanischen Technik aufs engste verbunden: die Massenproduktion. Produkte und Erzeugnisse, die für die Oberschicht der Gesellschaft bestimmt, dem individuellen Geschmack und Bedürfnis angepasst sind, werden in Europa unvergleichlich besser hergestellt. England liefert teure Stoffe; Frankreich – Juweliererzeugnisse, Handschuhe, kosmetische Artikel usw. Aber auf dem Gebiete der für den weitesten Markt berechneten Massenproduktion wird Amerika von keinem anderen Lande übertroffen. Aus diesem Grunde wird sich der (europäische) Sozialismus seine Technik in Amerika holen.

Der bekannte Hoover, eine Autorität in den wirtschaftlichen Regierungskreisen Amerikas, leistet große Arbeit auf dem Gebiete der Standardisierung der Industrieerzeugnisse. Er hat bereits einige Dutzende Verträge mit den größten Konzernen über die Herstellung von Gebrauchsgegenständen nach bestimmten Standards abgeschlossen. Zu diesen standardisierten Artikeln gehören unter anderen: der Kinderwagen und der Sarg. Der Amerikaner wird also geboren mit dem Standard, und stirbt mit dem Standard. Ich weiß nicht, ob das angenehmer ist; aber es ist um 40% billiger.

Die amerikanische Bevölkerung setzt sich, dank der Einwanderung, vorwiegend aus arbeitsfähigen Elementen zusammen; deren Prozentsatz ist, wenn ich nicht irre, um 45% höher als in der europäischen Bevölkerung: vor allem, weil das Verhältnis der Altersstufen ein anderes ist. Das macht die ganze Nation produktiver. Dieser Koeffizient ist mit der höheren Produktivität eines jeden Arbeiters zu multiplizieren. Dank der Mechanisierung und dem zweckmäßigeren Ausbau des Arbeitsprozesses erzielt der amerikanische Bergarbeiter um 2½-mal mehr Kohle und Erz als der deutsche. Der Arbeiter der Landwirtschaft erzeugt in Amerika 2-mal mehr als in der europäischen Landwirtschaft. Die Ergebnisse haben wir vor Augen.

Man pflegte von den alten Athenern zu sagen, dass sie freie Menschen seien, weil ein jeder von ihnen vier Sklaven hatte. In den Vereinigten Staaten verfügt jeder Mensch über fünfzig Sklaven – aber mechanische. Das besagt: wenn man die mechanischen Krafterzeuger zusammenrechnet, die Pferdekräfte in Menschenkräfte umrechnet, so ergibt sich, dass jeder amerikanische Staatsbürger, auch diejenigen mitgerechnet, die noch die Mutterbrust saugen, fünfzig mechanische Sklaven [1] besitzt. Das schließt natürlich nicht aus, dass die amerikanische Wirtschaft nicht minder auch auf lebendigen Sklaven, d.h. Proletariern, beruht ...

Das Volkseinkommen der Vereinigten Staaten beträgt 60 Milliarden Dollar im Jahr. Man präge sich ein: 60 Milliarden Dollar, das sind 125 Milliarden Goldrubel, das sind 250 Milliarden Goldmark! Die jährlichen Ersparnisse, die Summe also, die nach Deckung aller erforderlichen Ausgaben übrigbleibt, machen 6 bis 7 Milliarden, rund 12 Milliarden Goldrubel, rund 25 Milliarden Goldmark aus. Ich habe dabei nur die Vereinigten Staaten von Nordamerika im Auge, d.h. jenes Land, das in alten Schulbüchern so genannt wird. Aber in Wirklichkeit sind die Vereinigten Staaten viel größer, viel reicher. Bei allem der britischen Krone gebührenden Respekt erlaube ich mir die Behauptung, dass auch Kanada ein Teil der U.S.A. ist. Wenn man die Nachschlagebücher des Handelsdepartements der Vereinigten Staaten nachschlägt, so findet man, dass der Handel mit Kanada zum „Binnenhandel“ gerechnet wird, und dass Kanada in diesen Büchern in höflicher, aber bestimmter Form die nördliche Fortsetzung der Vereinigten Staaten genannt wird. Man verzichtet also auf den Segen eines „Völkerbundes“ – man hat ihn nicht nötig. Die ökonomischen Kräfte der Anziehung und Abstoßung wirken automatisch. Das englische Kapital spielt in der kanadischen Industrie eine sehr geringe Rolle (kaum 10%), während der Anteil des nordamerikanischen über 1/3 ausmacht und stetig wächst. Der Export von England nach Kanada erreicht 180 Millionen Dollar, der Export aus Amerika – fast 600 Millionen. Vor 25 Jahren dagegen führte England 5-mal mehr nach Kanada ein als die Vereinigten Staaten. Die Kanadier fühlen sich in ihrer überwiegenden Mehrheit als Amerikaner, mit Ausnahme – welch Ironie! – der französischen Bevölkerung, die durch und durch englisch fühlt. Australien macht dieselbe Entwicklung durch wie Kanada, aber im Tempo bleibt es hinter diesem zurück. Australien wird sich an jene Partei halten, deren Flotte, ohne allzu große Kosten zu verursachen, es vor Japan schützen kann. Aus dieser Konkurrenz dürften die Vereinigten Staaten schon in allernächster Zeit als Sieger hervorgehen. Wie dem auch sei, das eine steht fest: wenn es zu einem Kriege zwischen U.S.A. und England käme, so würde die „Britische Dominion“ Kanada ein Reservoir sein, aus dem Amerika die erforderlichen lebendigen Kräfte und Lebensmittel für sich und gegen England schöpfen kann. Außer uns wissen noch drei politische Personen um dieses große Geheimnis: die Vereinigten Staaten, England und Kanada.

Das ist in grundlegenden Zügen die materielle Machtstärke der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Und sie gestattet ihnen, die alte Praxis der britischen Bourgeoisie: die Arbeiterspitzen gut zu füttern, um das Proletariat desto besser im Zaum zu halten – auf eine Stufe der Vollendung zu bringen, von der die britische Bourgeoisie nicht einmal träumen durfte.


Fußnote

1. Vor einem Jahr nannte ich die Zahl 41, aber sie ist offenbar schon veraltet: die Statistik spricht von 50.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008