Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


Anhang 12

Aus der Rede
Zur Frage der Stabilisierung des internationalen Kapitalismus

(Gehalten am 25. Mai 1925)


Aus der Schrift: Zur Frage der Stabilisierung des internationalen Kapitalismus, S.26-29, 32, 39, 40.


... Der sozialistische Wirtschaftstheoretiker Varga hat folgende Frage aufgeworfen: Entwickeln sich die kapitalistischen Produktivkräfte oder nicht? Er prüfte dabei die Weltproduktion in den Jahren 1900, 1913 und 1924, wobei er Amerika, Europa, Asien und Australien einfach summierte. Auf diese Weise lässt sich die Frage nach der Stabilisierung des Kapitalismus nicht lösen. So kann man die Weltproduktion messen, aber nicht die revolutionäre Situation, denn die revolutionäre Situation in Europa wird unter den gegebenen historischen Verhältnissen in sehr bedeutendem Maße durch den Antagonismus zwischen amerikanischer und europäischer Produktion, und innerhalb Europas – durch die Wechselbeziehungen zwischen der deutschen und der englischen Produktion, durch die Konkurrenz zwischen England und Frankreich und vieles andere bestimmt. Diese Antagonismen bedingen in unmittelbarer Weise die revolutionäre Situation, wenigstens ihre ökonomische Grundlage. Dass die Produktivkräfte in Amerika im letzten Jahrzehnt gewachsen sind, das unterliegt keinem Zweifel; dass die Produktivkräfte Japans während des Krieges gewachsen sind und auch jetzt noch wachsen – das steht fest; auch in Indien wachsen die Produktivkräfte. Und wie steht es mit Europa? In Europa wachsen sie im großen ganzen nicht. Daher ist die grundlegende Frage nicht durch eine Addition der Produktion, sondern auf dem Wege der Analyse des wirtschaftlichen Antagonismus zu lösen: die Sache ist die, dass Amerika und zum Teil Japan – Europa in eine Sackgasse treiben, seine während des Krieges partiell gewachsenen Produktivkräfte sich nicht entwickeln lassen.


Es kann natürlich nicht die Rede davon sein, dass es Amerika gelingen könnte, das Chaos des Weltmarktes zu organisieren und auf diese Weise die Stabilität des Kapitalismus für lange Jahre oder gar für immer zu sichern. Im Gegenteil, indem Amerika die europäischen Länder immer mehr vom Absatzmarkt zurückdrängt, bereitet es eine neue in diesem Ausmaß noch nie dagewesene Zuspitzung der internationalen Beziehungen vor, sowohl zwischen Amerika und Europa als auch zwischen einzelnen europäischen Mächten. Aber in dem gegenwärtigen Entwicklungsstadium verwirklicht Amerika eine ganze Reihe seiner imperialistischen Ziele auf „friedliche“, man könnte fast sagen „philanthropisch“ scheinende Weise.


Das, was offiziell Deutschland gegenüber angewandt worden ist, das, was hinsichtlich Frankreichs bald zur Anwendung kommen wird – das Dawes-System -‚ kommt gegenwärtig, wenigstens partiell, auch für England in Frage. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass es Amerika gelingen wird, die „Dawesierung“ Europas zu Ende zu führen und sie zu stabilisieren. Davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil, die Dawesierung, die gegenwärtig den „pazifistischen“ Tendenzen zu einem flüchtigen Siege verhilft, verschärft die hoffnungslose Lage Europas und bereitet die größten Explosionen vor.


Indem die europäischen Länder ihre elementarsten wirtschaftlichen Funktionen wieder aufbauen, stoßen sie gegeneinander und bauen alle ihre alten Antagonismen wieder auf. In dem Grade, in dem die Machtstellung Amerikas den europäischen Wiederaufbauprozess in enge Rahmen zwängt, können auch jene Antagonismen, die zum imperialistischen Kriege geführt haben, wieder wach werden, und zwar noch ehe das Vorkriegsniveau der Produktion und des Handelsumsatzes erreicht sein werden. Das bedeutet, dass die finanziell-„pazifistische“ Kontrolle Amerikas, trotz des gegenteiligen Anscheins, keine Abschwächung, sondern eine Zuspitzung der internationalen Gegensätze herbeiführt.


Die ganze „Arbeitsgemeinschaft“ zwischen Amerika und England besteht darin, dass Amerika im Rahmen der internationalen „pazifistischen“ Arbeitsgemeinschaft England immer mehr zurückdrängt und es nur als Führer, als Vermittler, als Makler auf diplomatischem und kommerziellem Gebiete verwertet ... Das internationale spezifische Gewicht der englischen und überhaupt der ganzen europäischen Wirtschaft sinkt, wobei zu beachten ist, dass die ökonomische Struktur Englands und des westlichen Mitteleuropa aus der Welthegemonie Europas herausgewachsen und für diese Hegemonie berechnet ist. Das ist ein Gegensatz, ein nicht zu beseitigender, unabwendbarer, sich vertiefende Widerspruch – das ist die grundlegende wirtschaftliche Voraussetzung für die revolutionäre Situation in Europa. Es erscheint mir daher vollkommen unzulässig, die gegenwärtige revolutionäre Situation außerhalb des Antagonismus zwischen den Vereinigten Staaten und Europa sehen zu wollen, und das ist der grundlegende Fehler Vargas.


Die Stabilisierung der Goldwährung in England ist zweifellos ein Element des „geordneten“ Lebensaufbaus, aber gleichzeitig enthüllt die Stabilisierung der Währung um so deutlicher den allgemeinen Verfall Englands und seine Vasallenabhängigkeit von den Vereinigten Staaten.

Wir müssen bei unseren Urteilen den Standpunkt der europäischen „Kirchturmpolitik“ aufgeben. Vor dem Kriege dachten wir uns Europa als den Vollstrecker der Weltgeschichte, und die Frage der Revolution stellten wir uns national, europäisch-isoliert, nach dem Erfurter Programm, vor. Aber der Krieg zeigte, enthüllte und legte fest den untrennbaren Zusammenhang aller Teile der Weltwirtschaft. Das ist die grundlegende Tatsache; es ist nicht angängig, sich das Schicksal Europas außerhalb des Zusammenhangs und der Gegensätze der Weltwirtschaft zu denken. Und das, was sich in letzter Zeit jeden Tag und jede Stunde ereignet, beweist das Wachsen der amerikanischen Macht auf dem Weltmarkt und die steigende europäische Abhängigkeit von Amerika. Die gegenwärtige Lage der Vereinigten Staaten erinnert in mancher Beziehung an die Lage Deutschlands vor dem Kriege. Auch Amerika ist ein Emporkömmling, der zu einer Zeit auftauchte, als die ganze Welt schon aufgeteilt war, aber Amerika unterscheidet sich von Deutschland dadurch, dass es unvergleichlich stärker ist, dass es vieles und manches verwirklichen kann, ohne das Schwert in Aktion zu setzen. Amerika hat England gezwungen, den englisch-japanischen Vertrag zu lösen. Wie hat es das getan ohne jedes Säbelgerassel? Amerika zwang England die Gleichheit der englischen und amerikanischen Flotten anzuerkennen, trotzdem alle englischen Traditionen auf der unbestrittenen Vorherrschaft der britischen Flotte beruhten. Wodurch hat Amerika das erreicht? Durch den Druck seiner wirtschaftlichen Macht. Es hat Deutschland sein Dawes-Regime aufgezwungen. Es hat England gezwungen, ihm die Schulden zu bezahlen. Es drängt Frankreich zur Zahlung der Schulden und verlangt von ihm, dass es die feste Valuta wieder einführe. Was bedeutet das alles? Eine neue, ungeheure Besteuerung Europas zugunsten Amerikas. Die Kräfteverschiebung von Europa nach Amerika dauert an. Obwohl die Absatzfrage keine primäre Frage ist, sieht sich England vor sie gestellt wie vor eine Lebensfrage und kann sie nicht lösen. Die Arbeitslosigkeit ist jenes Geschwür, das den Organismus Englands unterhöhlt. Das ganze bürgerlich-ökonomische und politische Denken Englands ist durch und durch pessimistisch.


Die „Gefahr“ liegt nicht darin, dass in Europa eine Stabilisierung, ein Wiederaufbau der ökonomischen Kräfte des Kapitals im Gange ist, bei dem die Revolution in nebelhafte Fernen rückt – nein, nicht darin steckt die Gefahr. Eher darin, dass die revolutionäre Situation sich so schnell zuspitzen kann, dass die kommunistische Partei im entscheidenden Augenblick noch nicht genügend gereift und gestählt sein wird. Auf diesem Punkt muss sich unsere Aufmerksamkeit richten. So erscheint mir im großen und ganzen die europäische Lage.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008