Leo Trotzki

 

Der amerikanische Pazifismus

(1926)


Zuerst veröffentlicht in: Die Weltbühne, Jahrgang 22, Heft 12 vom 23.3.1926
Diese Version aus der Homepage Sozialistische Klassiker entnommen.
Transkription: Lüko Willms.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der amerikanische „Pazifismus” hat auf der ganzen Linie gesiegt – allerdings als Methode eines bisher geräuschlosen imperialistischen Räubertums und als halbmaskierte Vorbereitung zu gigantischen Zusammenstößen.

Das Wesen des amerikanischen „Pazifismus” hat seinen klarsten Ausdruck in der Washingtoner Konferenz von 1922 gefunden. In den Jahren 1919/20 fragten sich Viele, darunter auch ich: Was wird 1922/23 geschehen, wo das Flottenprogramm der Vereinigten Staaten Großbritannien die Wage halten will? Wird England seine Übermacht kampflos abgeben? Viele, darunter wieder auch ich, hielten damals einen Krieg zwischen England und Amerika unter Beteiligung von Japan nicht für ausgeschlossen. Aber was kam heraus? Anstelle eines Krieges ... der reinste „Pazifismus”. Die Vereinigten Staaten luden England nach Washington ein und sagten: „Gestattet: wir haben nunmehr 5 Flotteneinheiten – Ihr gleichfalls; Japan soll sich an 3 Einheiten halten – ebenso Frankreich.” Und England nahm an. Was hat das zu bedeuten? „Pazifismus”. Aber ein Pazifismus, der seinen Willen durch ein ungeheures wirtschaftliches Übergewicht aufzwingt und sein militärisches Übergewicht für die nächste historische Periode „friedlich” vorbereitet.

Und der Dawes-Plan? Während Poincaré mit seinen Spielzeugplänchen in Mitteleuropa rumorte und das Ruhrgebiet besetzte, schauten die Amerikaner ins Fernrohr und warteten ab. Als dann der sinkende Franc und andre Unannehmlichkeiten Poincaré vom Schauplatz verscheuchten, kam der Amerikaner und kaufte sich das Recht, Deutschland zu regieren, um 800 Millionen, wovon obendrein die Hälfte England zahlte. Für diesen billigen Preis setzte die Newyorker Börse dem deutschen Volk ihren Kontrolleur auf den Nacken. „Pazifismus”.

Und die Stabilisierung der Valuten? Dem Amerikaner paßt es nicht, wenn in Europa die Valuta schwankt, weil Europa dann billigerr exportieren kann. Auch der Zinsendienst und die gesamte Finanzordnung leiden darunter. Wo soll man seine Kapitalien investieren? und so zwang der Amerikaner die Deutschen und nun auch die Engländer, zur festen Valuta zurückzukehren. Lloyd George erklärte unlängst: „Jetzt kann das Pfund Sterling dem Dollar getrost ins Auge sehen”. Wackerer Alter, dieser Lloyd George! Das Pfund sieht dem Dollar getrost ins Auge, weil ihm ein paar hundert Millionen geliehene Dollars den Rücken steifen.

Und Frankreich? Die französische Bourgeoisie fürchtet sich vor der Stabilisierung der Valuta. Das ist eine sehr schmerzliche Operation. Aber der Amerikaner erklärt: „sonst gebe ich keine Anleihen mehr” und fordert überdies die Entwaffnung Frankreichs, damit es seine Schulden bezahlen könne. Reinster Pazifismus. Entwaffnung, Valuta-Stabilisierung – was will man mehr? Und Amerika schickt sich an, Frankreich „friedlich” auf die Knien zu zwingen.

Mit England ist die Frage der Goldparität und der Schulden bereits geregelt. England zahlt den Vereinigten Staaten, wenn ich nicht irre, ungefähr 300 Millionen Rubel im Jahr. Dafür wurde es zum amerikanischen Gerichtsvollzieher in der europäischen Provinz ernannt mit dem Auftrag, die Rückstände der europäischen Völker einzutreiben und an die Vereinigten Staaten abzuliefern. Welch pazifistische und friedliche Organisation: auf Grund der Verpflichtungen an Amerika werden wechselseitige Finanzbeziehungen zwischen Völkern Europas unter der Aufsicht des Mustersteuerzahlers Großbritannien organisiert! Das ist die Grundlage für die gesamte europäische Politik Amerikas. Deutschland zahlt an Frankreich, Italien an England, Frankreich an England; Rußland, Deutschland, Frankreich und England zahlen alle an mich, an Amerika! Diese Verschuldungshierarchie ist eine der Grundlagen des amerikanischen Pazifismus.

Der Weltkampf zwischen England und Amerika um das Petroleum hat bereits in Mexiko, in Persien und der Türkei zu revolutionären Erschütterungen und kriegerischen Konflikten geführt. Aber möglicherweise werden uns morgen die Zeitungen melden, daß zwischen England und Amerika eine friedliche Zusammenarbeit auf diesem Gebiet festgelegt worden sei. Was bedeutet das dann? Das bedeutet: eine Washingtoner Petroleumkonferenz, mit andern Worten: England, nimmt mit einem bescheidenerem Petroleumanteil fürlieb! Wiederum 96prozentiger Pazifismus.

Sehr interessant ist auch die Rohstoffrage. Eine Menge, die uns, den Vereinigten Staaten, abgehen, besitzen die Andern. Die amerikanischen Zeitungen brachten unlängst eine Karte des Erdballs. Die europäischen Pygmäen beunruhigen sich über Albanien, Bulgarien, irgendwelche Korridore und so was. Die Amerikaner denken nur noch in Kontinenten, was das Geographiestudium erleichtert und vor allem dem Piratentum den richtigen Schwung gibt. Also die amerikanischen Zeitungen brachten eine Wirtschaftskarte des Erdballs mit zehn schwarzen Flecken, zehn großen Lücken in der Rohstoffwirtschaft der Vereinigten Staaten: Kautschuk, Kaffee, Salpeter, Zinn, Pottasche, Hanf und noch einige weniger wichtige Rohstoffe, auf die – O Schreck – nicht die Vereinigten Staaten, sondern andre Länder das Monopol haben ... Stellt euch das arme Amerika vor, wie es von allen Seiten ausgebeutet wird! Alles ist so monopolisiert, daß der gute amerikanische Milliardär weder ruhig Auto fahren noch ordentlich Kaffee trinken kann, daß er sich nicht einmal an einer guten Schlinge aufhängen oder sich auch nur einfach eine Bleikugel in den Schädel schließen kann – nichts dergleichen: von allen Seiten wird er ausgebeutet! Am besten legt er sich noch bei Lebzeiten in sein standardisiertes Grab. Und darüber hat Mister Hoover einen Artikel geschrieben, und was für einen! Er besteht aus 29 Fragen, ich habe sie nachgezählt. Eine besser als die andre! Alle mit einer Spitze gegen England: ob es gut sei, sich an übertriebenen Preisen zu bereichern? Und wenn nicht, ob dann nicht etwa Erbitterung zwischen den Nationen entstehen könne? Und ob dann eine Regierung nicht verpflichtet sei, sich einzumischen? Und ob das nicht schwerwiegende Folgen haben könne?

Eine englische Zeitung schrieb dazu mehr offenherzig als liebenswürdig: Ein Narr fragt mehr, als zehn Weise beantworten können. Ich würde mich allerdings nie unterfangen, anzunehmen, daß ein Narr auf einem so verantwortlichen Posten stehe. Aber selbst wenn dem so wäre, stützt Mister Hoover sich eben auf den gigantischen Apparat des amerikanischen Kapitals, das heißt: er braucht keinen Verstand – für ihn denkt die bürgerliche „Staatsmaschine”. Und auf seine 29 Fragen hin, von denen eine jede Mister Baldwin wie ein Pistolenschuß in die Ohren klang, wurde der Kautschuk mit einem Mal billiger, was für die Weltlage mehr besagt als – ach, was nicht Alles! Das ist der amerikanische Pazifismus in der Praxis.

 


Zuletzt aktualiziert am 21.7.2008