Leo Trotzki

 

Aussichten der Weltentwicklung


VII. Der amerikanische Imperialismus und die europäische Sozialdemokratie

Bevor wir an diese im höchsten Grade wichtige Frage herantreten, ist festzustellen, welche Rolle das amerikanische Kapital den europäischen Radikalen und Menschewisten – der Sozialdemokratie – in eben jenem Europa zuteilt, das auf Ration gesetzt werden soll. Die Sozialdemokratie erhält den Auftrag – ich sage das keineswegs aus polemischen Gründen –, diese neue Situation vorzubereiten, d.h. dem amerikanischen Kapital bei der Rationierung Europas zu helfen. In der Tat, was tut jetzt die Sozialdemokratie Deutschlands und Frankreichs, was machen jetzt die Sozialisten von ganz Europa? Denken wir uns in die Lage hinein. Sie erziehen jetzt sich und wollen auch die Arbeitermassen in der Religion des Amerikanismus erziehen. Das bedeutet nicht, dass sie alle Presbyterianer und Quäker geworden sind, das heißt vielmehr, dass sie aus Amerikanismus, aus der Rolle des amerikanischen Kapitals in Europa eine neue „politische Religion“ machen. Sie lehren die werktätigen Massen (oder versuchen es), dass Europa ohne die befriedende Rolle des amerikanischen Kapitals, ohne dessen Anleihen nicht bestehen kann. Sie machen Opposition gegen ihre Bourgeoisie als deutsche Sozialpatrioten – nicht vom Standpunkte der proletarischen Revolution und auch nicht einmal vom Gesichtspunkte irgendwelcher Reformen, sondern einzig und allein zu dem Zwecke, die deutsche Bourgeoisie zu entlarven, zu beweisen, dass sie unduldsam, eigennützig, chauvinistisch und unfähig ist, mit dem amerikanischen, humanen, demokratischen, pazifistischen Kapital einig zu werden. Diese Frage steht jetzt im Mittelpunkte des politischen Lebens Europas und zumal Deutschlands! Mit anderen Worten: Die europäische Sozialdemokratie verwandelt sich vor unseren Augen in einen politischen Agenten des amerikanischen Kapitals. Kommt das erwartet oder unerwartet? Wenn man sich erinnert, dass die Sozialdemokratie eine Agentur der Bourgeoisie geworden ist, so wird es klar, dass die Sozialdemokratie, kraft ihrer politischen Entartungslogik zum Agenten der stärksten und mächtigsten Bourgeoisie, der Bourgeoisie aller Bourgeoisien werden musste. Und das ist eben die amerikanische Bourgeoisie. Soweit das amerikanische Kapital sich zur Aufgabe macht, Europa zu „einigen“, Europa „auszusöhnen“, Europa zu lehren, mit den Reparationsfragen usw. fertig zu werden, soweit das Portemonnaie in der Tasche der amerikanischen Bourgeoisie liegt, soweit wird auch die ganze Abhängigkeit der Sozialdemokratie von der deutschen Bourgeoisie in Deutschland oder von der französischen in Frankreich allmählich auf den eigentlichen zahlungsfähigen Herrn übertragen. Ja, ein Großherr hat sich in Europa etabliert: das amerikanische Kapital. Und es ist nur natürlich, wenn die Sozialdemokratie in eine politische Abhängigkeit zu dem Herrn ihrer Herren gerät. Das ist die grundlegende Tatsache, die für das Verständnis der gegenwärtigen Lage und Politik der II. Internationale unerlässlich ist. Wer sich das nicht klarmacht, der wird die Ereignisse von heute und morgen nicht verstehen, der wird nur die Oberflächen sehen und mit Gemeinplätzen Politik machen wollen.

Mehr als das: eine Hand wäscht die andere! Die Sozialdemokratie bereitet dem amerikanischen Kapital den Boden, läuft als Herold vor seinem Wagen her, spricht von seiner rettenden Rolle, hält die Bahn frei, beseitigt alle Hindernisse. Das ist eine tüchtige Arbeitsleistung! Der Imperialismus pflegte früher Missionare vorauszuschicken. Der Pfaffe wurde gewöhnlich von den Wilden erstochen oder gar aufgegessen. Dann schickte man den Krieger, um den Tod des heiligen Mannes zu rächen, und dann – den Kaufmann und Administrator. Aber um Europa zu kolonisieren, es in ein amerikanisches Dominion zu verwandeln, hat das amerikanische Kapital es nicht nötig, Missionare nach Europa zu schicken. In Europa gibt es schon eine politische Partei, deren ganze Aufgabe darin besteht, den Völkern das Wilson-Evangelium, das Neue Testament Coolidge, die Heiligen Schriften der New-Yorker und Chicagoer Börsen zu predigen. Aber ich wiederhole: eine Hand wäscht die andere! Auch die Menschewisten machen dabei kein schlechtes Geschäft. In der Tat, die deutsche Sozialdemokratie war noch kürzlich, in der Periode des heißen Bürgerkrieges, in der unangenehmen Situation, persönlich die bewaffnete Verteidigung ihrer Bourgeoisie zu leisten, derselben, die Schulter an Schulter mit den Faschisten kämpfte. Noske ist ja eine symbolische Gestalt der Nachkriegspolitik der deutschen Sozialdemokratie. Wie aber steht es jetzt? Jetzt ist ihre Rolle eine andere. Die deutsche Sozialdemokratie kann sich heute den Luxus der Opposition leisten. Sie kritisiert ihre Bourgeoisie und stellt auf diese Weise zwischen sich und den Parteien des Kapitals eine gewisse „Distanz“ her. Welcher Art ist diese Kritik? Sie sagt: Du bist eigennützig, stupide, bösartig – aber jenseits des Atlantischen Ozeans gibt es eine Bourgeoisie, die erstens reich und mächtig, zweitens human-reformistisch und pazifistisch ist, die jetzt wieder zu uns kommt, um uns 800 Millionen Goldmark für die Stabilisierung der Valuta zu schenken (das Wort Goldmark wirkt heute in Deutschland sehr überzeugend!). Und du, deutsche Bourgeoisie, hast die Unverschämtheit, dicke zu tun, dich von der amerikanischen Bourgeoisie bitten zu lassen, und das – nachdem du unser liebes Vaterland bis über die Ohren in den Sumpf der Armut gezerrt hast! Wir werden dafür sorgen, dass du von den deutschen Volksmassen in deiner ganzen wahren Nacktheit dastehst! ... Ja, man spricht fast im Ton eines revolutionären Tribunen – man opfert sich eben für die amerikanische Bourgeoisie auf.

Das gleiche geschieht auch in Frankreich. Gewiss, weniger grob, in gemilderten Tönen, der politischen Lage Frankreichs und seiner Finanzen angepasst. Aber am Wesen der Sache ändert das nichts. Die Partei Léon Blums, Renaudels, Jean Longuets trägt die volle Verantwortung für den Frieden von Versailles und für die Ruhrbesetzung. Wir wissen es ja heute schon mit einwandfreier Sicherheit, dass die von den Sozialisten unterstützte Regierung Herriot für die Beibehaltung der Ruhrbesetzung ist. Aber die französischen Sozialisten erhalten jetzt die Möglichkeit, ihrem Bundesgenossen Herriot zu sagen: „Die Amerikaner fordern, dass Sie die Ruhr unter gewissen Bedingungen freigeben; tun Sie das – jetzt fordern auch wir das.“ Und sie fordern es nicht auf Grund des Willens und der Kraft des französischen Proletariats, sondern im Namen der Unterordnung der französischen Bourgeoisie unter die amerikanische. Man vergesse nicht, dass die französische Bourgeoisie der amerikanischen 3700 Millionen Dollar schuldet. Das ist allerhand! Amerika hat jeden Augenblick die Möglichkeit, den französischen Franken zu erschüttern. Oh gewiss, die amerikanische Bourgeoisie wird es nicht tun – sie ist ja nach Europa gekommen, um Frieden zu stiften und nicht um zu ruinieren. Sie „wird“ es nicht tun, aber ... sie kann es tun! Es kommt nur auf ihren Willen an. Alles liegt in ihrer Hand. Daher klingen die Argumente, die Renaudel, Blum u.a. auf dem wirkungsvollen Hintergrunde dieser nahezu Viermilliardenschuld vorbringen, für die Ohren der französischen Bourgeoisie sehr überzeugend. Gleichzeitig erhält die Sozialdemokratie in Deutschland, Frankreich und manchen anderen Ländern die Möglichkeit, ihren Bourgeoisie entgegenzutreten, eine „oppositionelle“ Politik in bestimmten konkreten Fragen zu machen und sich auf diese Weise wiederum das Vertrauen einer gewissen Schicht den Arbeiterklasse einzuschleichen.

Nicht genug damit: den menschewistischen Parteien verschiedener Länder Europas öffnen sich einige Möglichkeiten zu gemeinsamen „Aktionen“. Schon jetzt bildet die Sozialdemokratie Europas einen recht einträchtigen Chor. Das ist eine neue Tatsache. Es sind ja schon zehn Jahre seit dem Anfang des imperialistischen Krieges her – dass die Sozialdemokratie nicht mehr solidarisch auftreten konnte. Jetzt ist diese Möglichkeit gegeben, und die Menschewisten treten jetzt solidarisch für Amerika ein, für sein Programm, seine Forderungen, seinen Pazifismus, seine große Mission. Und hier berühren wir die Frage der II. Internationale in Europa. Das ist den Schlüssel für das rätselhafte Aufleben dieser Leiche. Die II. Internationale wird ebenso wie die Amsterdamer [Gewerkschaftsinternationale] restauriert. Natürlich, jenes Aussehen, das sie vor dem Kriege hatte, lässt sich nicht mehr vortäuschen. Die ehemalige Machtstellung ist ein für allemal verloren. Die Kommunistische Internationale lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Auch der imperialistische Krieg lässt sich nicht streichen, der das Rückgrat der II. Internationale – und nicht nur an einer Stelle – gehörig geknickt hat. Das ist eine Tatsache, die nicht wieder gutzumachen ist. Nichtsdestoweniger versucht man mit diesem gebrochenen Rückgrat auf amerikanischen Krücken weiterzukommen. Die sich vollziehende Veränderung muss in ihren ganzen Bedeutung erfasst wenden! Die deutsche Sozialdemokratie war während des imperialistischen Krieges auf die engste und offenkundigste Weise mit ihrer Bourgeoisie, mit deren Kriegsmaschine verbunden. Die französische war in gleichen Weise mit den ihrigen liiert. Von einer Internationale war keine Rede mehr – die beiden bekriegten sich auf die wütendste Weise, verleumdeten, schwärzten einander an. Unten diesen Verhältnissen war selbst eine internationalistische Maske nicht mehr möglich. Alles war kurz und klein geschlagen. Auch in der Epoche des Friedensschlusses änderte sich das Bild nicht. Der Versailler Friede war nur eine diplomatische Sanktionierung den Ergebnisse des imperialistischen Krieges. Auch hier war von Solidarität keine Rede. In der Epoche der Ruhrbesetzung sehen wir, im Grunde genommen, dasselbe. Aber jetzt erscheint in Europa der große Herr, das amerikanische Kapital, und sagt: Da habt ihn den Reparationsplan, ihr Völker; da habt ihr ein Programm, ihr Herren Menschewisten! Und die Sozialdemokratie macht dieses Programm zur Grundlage ihrer Tätigkeit. Dieses neue Programm nun vereinigt jetzt die französische, deutsche, englische, holländische, schweizerische Sozialdemokratie. Jeder Schweizer Spießbürger hofft von Herzen, dass der Amerikaner Ordnung und gute Sitte in Europa schaffe, damit die Schweiz möglichst viele Uhren verkaufen könne. Und das ganze Kleinbürgertum, dessen Wünsche am artikuliertesten durch die Reden der Sozialdemokratie zum Ausdruck kommen, findet auf den Grundlage des Amerikanismus seine alte geistige Gemeinschaft wieder. Mit anderen Worten – die II. Internationale einigt sich jetzt auf ein neugefundenes Programm: General Dawes hat es ihr aus Washington mitgebracht.

Wir sehen auch hier wieder dasselbe Paradox: Wenn das amerikanische Kapital so recht wucherisch vorgehen will, dann hat es die Möglichkeit als edler Organisator, als Friedensstifter – der ein neues, humanes Prinzip der Historie mitbringt, aufzutreten; und bei dieser Gelegenheit gibt es den Sozialdemokratie eine Plattform, die weit günstiger ist, als ihre nationale Plattform von gestern. Die eigene nationale Bourgeoisie hat man in nächsten Nähe, wie auf einem Präsentierteller von sich; das amerikanische Kapital dagegen ist sehr weit, man hat sein Treiben nicht immer von Augen, und dieses Treiben ist bekanntlich oft sehr zweifelhafter Art. In Europa ist es der Friedensstifter, der gute, nüchterne Mann. Und dann – die Macht des amerikanischen Kapitals, diesen ungeheure, immense, unvorstellbare, noch nie in der Geschichte dagewesene Reichtum, der dem Kleinbürger imponiert, der auch dem Sozialdemokraten imponiert. Eine Randbemerkung: Ich hatte im letzten Jahr öfters Gelegenheit, mit einigen amerikanischen Senatoren der republikanischen und demokratischen Parteien dienstlich zu sprechen. Dem Äußeren nach müssen das dunkle Provinzler sein. Ich bin nicht sicher, ob sie die Geographie Europas gut kennen, ich weiß es nicht – wir wollen höflichkeitshalber annehmen, dass es der Fall ist; aber wenn sie von Politik reden, dann drücken sie sich folgendermaßen aus: „Ich sagte zu Poincaré“, „ich bemerkte Curzon gegenüber“, „ich erklärte Mussolini“ ... Sie fühlen sich in Europa als Führer und Herren. So ein reich gewordenen Kondensmilch- Fabrikant – Kondensmilch ist nicht schlechter, als jede andere Ware –, so ein reich gewordener Fabrikant irgendwelchen Chicagoer Fleischkonserven spricht in einem geradezu gönnerhaften Ton üben die verantwortlichsten bürgerlichen Politiker Europas. Er weiß, dass er bald der Herr sein wird, er fühlt sich schon als Herr. Und aus diesem Grunde werden sich gewisse Mutmaßungen der englischen Bourgeoisie betreffs ihrer führenden Rolle in Europa als verfehlt erweisen. Ich versprach, darauf zurückzukommen und will es jetzt tun.

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004