Leo Trotzki

 

1917
Die Lehren des Oktobers


Vom Oktoberumsturz


Die Notwendigkeit, den außerordentlichen Kongreß einzuberufen, erwies sich nicht. Der Druck, den Lenin ausübte, führte zu einer Linksschwenkung der Kräfte, sowohl im Zentralkomitee als auch in der Fraktion im Vorparlament. Die Bolschewisten schieden am 10. Oktober aus. In Petrograd entbrannte ein Konflikt zwischen den Sowjets und der Regierung, veranlaßt durch die Absendung der bolschewistischen Truppenteile an die Front. Am 16. Oktober wurde ein kriegs-revolutionäres Komitee als legales Sowjetorgan des Aufstandes gegründet. Der rechte Flügel der Partei war bestrebt, den Gang der Ereignisse aufzuhalten. Der Kampf der verschiedenen Tendenzen innerhalb der Partei und der Kampf der Klassen tritt in die entscheidende Phase ein. Die Stellung des rechten Flügels der Partei wird vor allem am vollständigsten und auch am prinzipiellsten beleuchtet in einem Brief Zur gegenwärtigen Lage, der die Unterschrift Sinowjews und Kamenews trägt. In dem Briefe, der am 11. Oktober, d.h. zwei Wochen vor dem Umsturz geschrieben und an die wichtigsten Parteiorganisationen versandt wurde, wird entschieden gegen den bewaffneten Aufstand aufgetreten. Der Entschluß zum bewaffneten Aufstand ist vom Zentralkomitee gefaßt worden. Der Brief warnt davor, die Kräfte des Gegners zu unterschätzen, unterschätzt aber ungeheuerlich die Kräfte der Revolution und verleugnet sogar die Kampfstimmung der Massen (zwei Wochen vor dem 25. Oktober!) Es heißt dort:

„Wir sind der festen, unerschütterlichen Überzeugung, daß ein bewaffneter Aufstand jetzt, im gegenwärtigen Augenblick nicht nur das Schicksal unserer Partei besiegeln würde, sondern auch das Schicksal der russischen und der Weltrevolution.“

Aber wenn kein Aufstand und keine Besitzergreifung der Macht – was sollte dann geschehen? Der Brief gibt auch auf diese Frage eine klare und eindeutige Antwort:

„Durch die Armee und die Arbeiter halten wir der Bourgeoisie den Revolver an die Schläfe“, und unter dieser Bedrohung kann sie nicht die konstituierende Versammlung vernichten. „Die Aussichten unserer Partei zu den Wahlen zur konstituierenden Versammlung sind hervorragend; der Einfluß des Bolschewismus wächst. Bei richtiger Taktik können wir ein Drittel, ja vielleicht auch noch mehr Sitze in der konstituierenden Versammlung erhalten.“

Wir sehen also, daß in dem Brief offen das Bestreben angegeben wird, zu einer einflußreichen Opposition in der bürgerlichen konstituierenden Versammlung zu kommen. Dieses rein sozialdemokratische Bestreben wird durch folgende Überlegungen maskiert:

„Die Sowjets, die ins Leben hineinwachsen, können nicht vernichtet werden; nur auf sie kann sich auch die konstituierende Versammlung in ihrer revolutionären Arbeit stützen. Sie und die Räte sind der kombinierte Typ der staatlichen Einrichtungen, zu dem wir gelangen.“

Es ist besonders interessant und charakteristisch für die Gesamtauffassung der Rechten, daß die Theorie von der „kombinierten Staatsform“ 1½–2 Jahre später von Rudolf Hilferding in Deutschland wiederholt worden ist, welcher ebenso gegen die Besitzergreifung der Macht durch das Proletariat kämpfte. Der deutsch-österreichische Opportunist wußte nicht, daß er ein Plagiat beging.

In dem Brief Zur gegenwärtigen Lage wird die Tatsache, daß hinter uns der größte Teil des russischen Volkes stand, bestritten, wobei die Mehrheit rein parlamentarisch genommen und abgeschätzt wird.

„In Rußland sind für uns die Mehrheit der Arbeiter“ heißt es in dem Briefe „und ein großer Teil der Soldaten; alles übrige ist aber fraglich. Wir sind zum Beispiel alle davon überzeugt, daß, wenn es zu den Wahlen für die konstituierende Versammlung kommt, die Mehrzahl der Bauern für die Sozial-Revolutionäre stimmen wird. Ist das Zufall?“

In einer solchen Fragestellung liegt der Grundfehler, das Mißverstehen der Tatsache, daß die Bauern wohl ein großes revolutionäres Interesse und einen festen Willen haben, im Sinne dieser Interessen zu handeln, aber keinen eigenen politischen Standpunkt besitzen. Sie können entweder für die Bourgeoisie stimmen, durch die Vermittlung ihrer sozial-revolutionären Agentur oder sich aktiv dem Proletariat anschließen. Gerade von unserer Politik hing es ab, welche dieser Möglichkeiten sich verwirklichen würde. Gehen wir ins Parlament, um dort einen oppositionellen Einfluß zu gewinnen (ein Drittel der Sitze oder mehr), so drängen wir, fast mechanisch, die Bauern in die Lage, in der sie die Wahrung ihrer Interessen durch die konstituierende Versammlung suchen und zwar nicht durch die Opposition, sondern durch die Mehrheit. Umgekehrt würde die Besitzergreifung der Macht durch das Proletariat unverzüglich den revolutionären Rahmen für den Kampf der Bauern gegen die Gutsbesitzer und Beamten schaffen. Wenn wir die damals bei uns gerade in dieser Frage so gebräuchlichen Ausdrücke verwenden, so wird in dem Briefe die Bauernschaft gleichzeitig „überschätzt“ und „unterschätzt“. Unterschätzt wurden die revolutionären Möglichkeiten (bei proletarischer Führung), überschätzt die politische Selbständigkeit. Dieser doppelte Fehler, die Unter- sowohl wie die Überschätzung der Bauernschaft zur selben Zeit, fließt seinerseits aus der Unterschätzung der eigenen Klasse und ihrer Partei. Das ist der Gesichtspunkt, aus dem heraus die Sozialdemokratie das Proletariat sieht. Hierin liegt nichts Unerwartetes. Alle Schattierungen des Opportunismus führen letzten Endes zu einer falschen Beurteilung der revolutionären Kräfte und der im Proletariat schlummernden Möglichkeiten.

Zur Begründung der Ablehnung der Ergreifung der Macht wird die Partei in diesem Briefe auch mit der Perspektive des Bürgerkrieges erschreckt.

„Die Masse der Soldaten unterstützt uns nicht bei Kriegsparolen, sondern nur unsere Friedensbestrebungen. Würden wir jetzt die Macht übernehmen und kämen durch die allgemeine Lage dazu, einen revolutionären Krieg führen zu müssen, würden die Soldaten unbedingt von uns abfallen. Zu uns halten würden zweifelsohne die besten Teile der Soldatenjugend.“

Diese Beweisführung ist im höchsten Grade lehrreich. Wir sehen hier die ausschlaggebenden Erwägungen, die zur Unterzeichnung des Friedens von Brest-Litowsk führten. Hier aber werden diese Argumente gegen die Ergreifung der Macht angewandt. Es ist klar, daß die in dem Briefe Zur gegenwärtigen Lage niedergelegten Gedanken den Gleichgesinnten die Annahme des Brest-Litowsker Friedens ungemein erleichterten. Wir können uns hier damit begnügen, zu wiederholen, was wir hierüber an anderer Stelle gesagt haben: nicht die zeitweilige Kapitulation von Brest-Litowsk an sich charakterisiert den politischen Genius Lenin, sondern die Verbindung der Oktoberrevolution mit Brest-Litowsk. Dieses darf nicht vergessen werden.

Die Arbeiterklasse ringt und wächst in dem ständigen Bewußtsein, daß der Gegner ein Übergewicht über sie hat; das äußert sich im täglichen Leben bei jedem Schritt. Der Gegner hat den Reichtum, die Macht, alle Mittel zu reiner ideologischen Beeinflussung, alle Mittel zur Repression. Das allmähliche Sichvertrautmachen mit dem Gedanken, daß der Feind uns an Kräften überlegen ist, bildet einen Bestandteil des Lebens und der Arbeit der revolutionären Partei in ihrer vorbereitenden Epoche. Die Folgen dieser oder jener unvorsichtigen oder verfrühten Aktion vergegenwärtigen jedes Mal in grausamster Weise die Kraft des Gegners. Es kommt dann ein Moment, wo diese Angewohnheit, den Feind als den Stärkeren anzusehen, sich in das Haupthindernis verwandelt auf dem Wege zum Sieg. Die heutige Schwäche der Bourgeoisie wird durch das Bewußtsein ihrer gestrigen Stärke verdeckt. „Ihr unterschätzt die Kraft des Feindes“, das ist die Losung, unter der sich alle Gegner des bewaffneten Aufstandes zusammenfinden.

„Jeder, der über den bewaffneten Aufstand reden will“, so schrieben die Gegner zwei Wochen vor dem Siege, „ist verpflichtet, jede Möglichkeit nüchtern zu erwägen, und wir halten es für unsere Pflicht, zu sagen, daß der gegenwärtige Moment der allergefährlichste ist im Unterschätzen des Feindes und im Überschätzen der eigenen Kräfte. Die Macht des Feindes ist größer, als es uns erscheint. Petrograd entscheidet und hier gerade haben die Feinde des Proletariats bedeutende Kräfte: fünftausend Junker, die vorzüglich ausgerüstet und organisiert sind und die, dank ihrer Klasseneinstellung, den Kampf nicht scheuen, ferner den Stab, die Stoßtruppen, dann die Kosaken und einen bedeutenden Teil der Garnison, welche im Umkreis von Petrograd liegt. Außerdem werden die Gegner versuchen und zwar mit Hilfe des Zentral-Exekutivkomitees, von der Front Truppen heranzuführen.“ (Zur gegenwärtigen Lage)

Es versteht sich, daß im Bürgerkrieg, wo es nicht auf bloße Zählung der Bataillone, sondern auf das Abwägen ihrer mutmaßlichen Einstellung ankommt, die Beurteilung der Kräfteverhältnisse eine schwierige und unzureichende sein muß. Selbst Lenin nahm an, daß der Feind in Petrograd über bedeutende Kräfte verfügte und erwog deshalb, den Aufstand in Moskau einzuleiten, wo er sich seiner Ansicht nach ohne Blutvergießen vollziehen würde. Derartige Fehler in der Vorausbestimmung sind nicht zu vermeiden, selbst bei den günstigsten Verhältnissen, und es ist richtiger, auf jeden Fall eine weniger günstige Lage anzunehmen. Was uns aber in diesem Falle interessiert, ist die unglaubliche Überschätzung des Gegners, bis zur völligen Verzerrung der Verhältnisse in einer Lage, wo der Feind in Wirklichkeit über eine bewaffnete Macht nicht mehr verfügte.

Diese Frage ist, wie die Erfahrung in Deutschland bewiesen hat, von sehr großer Bedeutung. Solange die Parole des Aufstandes für die Führer der deutschen kommunistischen Partei eine vorwiegend – wenn nicht ausschließlich agitatorische Bedeutung hatte, haben diese die Frage von der bewaffneten Macht des Feindes (Reichswehr, faschistische Verbände, Polizei) einfach ignoriert. Ihnen schien, daß bei der ständig anwachsenden revolutionären Bewegung die militärische Aufgabe von selbst gelöst werden würde. Als aber dieses Problem in den Vordergrund rückte, haben die Genossen, die bis dahin die bewaffneten Kräfte des Feindes als nicht existierend angesehen hatten, den neuen Fehler begangen, diese Kräfte zu überschätzen. Sie nahmen die Angaben über die Zahl der bewaffneten Streitkräfte der Bourgeoisie für vollwertig und sie summierten sie mit den Kräften der Reichswehr und der Polizei, rundeten sie nach oben ab (bis zu einer halben Million und mehr) und erhielten so eine kompakte, bis an die Zähne bewaffnete Macht, die vollständig ausreichend war, ihre eigenen Anstrengungen zu paralysieren. Fraglos waren die deutschen gegenrevolutionären Kräfte bedeutend und vor allem viel besser organisiert und vorbereitet als unsere Kornilow’schen Truppen. Aber auch die aktiven Kräfte der deutschen Revolution sind andere. Das Proletariat stellt die überwiegende Zahl der Bevölkerung Deutschlands dar. Bei uns entschieden, wenigstens in der ersten Zeit, stets Petrograd und Moskau: in Deutschland hätte der Aufstand sogleich mächtige Revolutionsherde. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet hätten die bewaffneten Kräfte des Feindes gar nicht so etwas Überwältigendes wie in der statistischen Aufstellung mit ihrer Abrundung nach oben. Vor allem muß man kategorisch jene tendenziösen Berechnungen, welche nach dem mißglückten „deutschen Oktober“ gemacht worden sind und gemacht werden, ablehnen. Sie sollen dazu dienen, die Politik zu rechtfertigen, die zum Fehlschlag geführt hat. Unser russisches Beispiel hat in dieser Beziehung eine nicht zu ersetzende Bedeutung. Zwei Wochen vor unserem unblutigen Siege in Petrograd – wir hätten ihn auch schon zwei Wochen eher haben können – sahen die erfahrenen Politiker unserer Partei die Junker gegen uns, die sich zu schlagen wünschten und zu schlagen verstanden und die Stoßtruppe und die Kosaken und den größten Teil der Garnison und die Artillerie, die uns einschloß und die heranrückenden Fronttruppen. In Wahrheit war nichts vorhanden, aber gar nichts. Stellen wir uns jetzt vor, in der Partei und im Zentralkomitee hätten die Gegner des bewaffneten Aufstandes gesiegt. Wer dann die Führung in dem Bürgerkriege innegehabt hätte, ist völlig klar: die Revolution wäre im voraus besiegt worden, wenn nicht Lenin gegen das Zentralkomitee an die Partei appelliert haben würde, was er zu tun vor hatte und auch fraglos haben würde und zwar mit Erfolg. Aber nicht jede Partei wird bei entsprechenden Verhältnissen über einen Lenin verfügen ... Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie die geschichtliche Darstellung gelautet hätte, wenn im Zentralkomitee die Strömung gesiegt hätte, die den Kampf ablehnte. Die offiziösen Geschichtsschreiber hätten die Geschehnisse im Oktober 1917 als Wahnsinn dargestellt, hätten dem Leser überwältigende statistische Angaben über die Zahl der Junker, der Stoßtruppen, der Artillerie und der Korps, die von der Front heranrückten, gemacht und diese Kräfte als weit erschreckender hingestellt als sie in Wirklichkeit waren. Das ist die Lehre, die man in das Bewußtsein jedes Revolutionärs eingravieren müßte!

Das unablässige, unermüdliche Drängen Lenins auf das Zentralkomitee in den Monaten September und Oktober war hervorgerufen durch seine ständige Besorgnis, daß wir den richtigen Moment verpassen könnten. Unsinn – sagten die Rechten – unser Einfluß wird ständig wachsen. Wer hatte Recht gehabt? Und was heißt das: den Augenblick verpassen? Hier treten wir an die Frage heran, wie die bolschewistische Beurteilung des Weges und der Methode der Revolution eine aktive, strategische und tatkräftige ist und im Gegensatz zur sozialdemokratischen, menschewistischen steht, die ganz erfüllt ist vom Fatalismus. Was heißt es, den Moment verpassen? Die allergünstigste Vorbedingung für einen Aufstand ist dann vorhanden, wenn das Kräfteverhältnis sich zu unseren Gunsten verschiebt. Es versteht sich, daß hier die Rede ist von dem Verhältnis der Kräfte im Bereich des Bewußtseins, das heißt, des politischen Überbaues, nicht aber von der Basis, die man in der Epoche der Revolution als mehr oder weniger unabänderlich annehmen kann. Auf ein und derselben ökonomischen Basis, bei gleicher Klassenscheidung der Gesellschaft ändert sich das Kräfteverhältnis, hervorgerufen durch die Einstellung der proletarischen Masse, die Zerstörung ihrer Illusionen, die Anhäufung der politischen Erfahrung, die Erschütterung des Vertrauens der Zwischenklassen und Gruppen in die Staatsgewalt und schließlich durch das Verschwinden des Vertrauens dieser letzteren zu sich selbst. In der Revolution sind das alles sich schnell folgende Prozesse. Die ganze taktische Kunst besteht darin, den Moment zu erfassen, wo die Gesamtheit der Bedingungen für uns am günstigsten ist. Der Kornilow’sche Aufstand schuf diese Vorbedingungen. Die Massen, die das Vertrauen zu den Parteien der Sowjetmehrheit verloren hatten, sahen die konkrete Gefahr der Gegenrevolution. Sie glaubten, daß jetzt die Bolschewisten berufen seien, diese Gefahr zu bannen. Weder der elementare Zerfall der Staatsgewalt noch der Zustrom der ungeduldigen Massen zu den Bolschewisten konnte ein Dauerzustand sein, die Krisis mußte nach dieser oder jener Richtung entschieden werden. „Jetzt oder nie“ - wiederholte Lenin.

Darauf antwortete die Rechte:

„Es würde eine große geschichtliche Unwahrheit sein, wollte man die Frage des Überganges der Macht in die Hände des Proletariats so stellen: jetzt oder nie. Nein! Die Partei des Proletariates wird wachsen, ihr Programm wird immer weiteren Volksschichten vertraut werden und nur ein Umstand könnte diese Erfolge vernichten: wenn die Partei unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Macht ergreift. Einer solch’ verhängnisvollen Politik gegenüber müssen wir warnend unsere Stimme erheben.“ (Zur gegenwärtigen Lage)

Dieser fatalistische Optimismus muß auf das genaueste erforscht werden. Er enthält keine nationale Eigentümlichkeit, noch zeichnet er sich durch Individualität aus. Eine gleiche Tendenz haben wir voriges Jahr in Deutschland beobachten können. In Wahrheit verbirgt sich hinter diesem abwartenden Fatalismus eine Unentschlossenheit und sogar eine Unfähigkeit zum Handeln. Doch wird sie hinter der tröstenden Prognose versteckt: wir werden immer einflußreicher, je weiter wir kommen und unsere Kraft wird immer noch wachsen! Ein großer Irrtum! Die revolutionäre Kraft einer Partei wächst nur bis zu einem gewissen Momente; dann kann der Prozeß sich in das Gegenteil verwandeln. Die Erwartungen der Massen werden, infolge der Passivität der Partei, durch Enttäuschungen ersetzt, während der Feind sich zu derselben Zeit von der Panik erholt und diese Enttäuschung ausnutzt. Einen so entscheidenden Umschwung haben wir in Deutschland 1923 beobachten können. Wir waren von einer ähnlichen Wendung im Herbst 1917 nicht weit entfernt. Es hätte genügt, wenn wir noch ein paar Wochen hätten verstreichen lassen. Lenin hatte Recht: Jetzt oder nie!

„Die entscheidendste Frage aber – so treten die Gegner des bewaffneten Aufstandes mit ihrem letzten und stärksten Argumente hervor – ist die: ist die Stimmung unter den Arbeitern und Soldaten wirklich eine solche, daß sie eine Rettung nur noch im Straßenkampf sehen? Nein, so ist die Stimmung nicht. Das Vorhandensein einer Kampfesstimmung unter den tiefen Schichten der armen Bevölkerung der Hauptstadt, einer Kampfesstimmung, die sie auf die Straße treibt, könnte noch die Garantie dafür geben, daß ihr Beispiel auch die großen und wichtigen Organisationen (Eisenbahn und Post) mit sich reißen würde, in denen der Einfluß unserer Partei ein geringer ist. Da aber eine solche Stimmung sogar in den Fabriken und Kasernen nicht vorhanden ist, ist es Selbstbetrug, wollte man hierauf irgendwelche Erwartungen bauen.“ (Zur gegenwärtigen Lage)

Diese Zeilen, die am 11. Oktober geschrieben wurden, erhalten eine besondere Bedeutung, wenn man sich dessen erinnert, daß auch die deutschen Genossen zur Erklärung ihres kampflosen Rückzuges im vorigen Jahr (1923) die Kampfunlust der Massen angeführt haben. Der Sieg des Aufstandes ist eben dann am wahrschenlichsten, wenn die Massen Zeit gefunden haben, genügende Erfahrungen zu sammeln, sich nicht kopflos in den Kampf stürzen, sondern ruhig abwarten und eine entschlossene und verständige Kampfführung fordern. Im Oktober 1917 hatte sich in den Arbeitermassen, wenigstens in den führenden Schichten, die feste Erkenntnis Bahn gebrochen und zwar auf Grund der Erfahrung im Aprilaufstand, in den Julitagen, in den Kornilowkämpfen, daß es sich nicht mehr um einzelne elementare Proteste handeln konnte, um Rekognoszierung, sondern um den entscheidenden Aufstand zur Ergreifung der Macht. Die Stimmung der Massen wurde dementsprechend konzentrierter, kritischer und vertiefter. Der Übergang von einer lebensfreudigen Stimmung, erfüllt von Illusionen zur kritischen Bewußtheit hält das Tempo der Revolution unabwendbar auf. Diese progressive Krisis in der Stimmung der Massen kann nur durch eine entsprechende Politik der Partei überwunden werden, d.h. – vor allem durch ihre Bereitschaft und ihre Eignung zur Führung des proletarischen Aufstandes. Umgekehrt wird eine Partei, die lange revolutionäre Agitation getrieben hat, um die Massen dem Einfluß der Opportunisten zu entziehen, die Aktivität der Massen paralysieren, in ihnen Enttäuschungen und Zerfall hervorrufen, die Revolution vernichten, wenn sie, nachdem sie durch das Vertrauen ihrer Anhänger emporgehoben wurde, zu schwanken, klügeln, lavieren und abzuwarten anfängt. Nach dem Durchfall ist ihr dann die Möglichkeit gegeben, sich auf die mangelnde Aktivität der Massen zu berufen! Auf diesen Weg führte uns der Brief „Zur gegenwärtigen Lage“. Zum Glück hat unsere Partei unter Lenins Führung entschlossen derartige Strömungen in der Führung liquidiert. Nur dank diesem Umstande hat sie den Umsturz siegreich durchgeführt.

Nachdem wir nun den Kernpunkt der politischen Fragen, welche mit der Vorbereitung der Oktoberrevolution in Zusammenhang stehen, charakterisiert und uns bemüht haben, die Meinungsverschiedenheiten darzulegen, die auf dieser Basis entstanden, bleibt uns noch die Feststellung der wichtigsten Momente des innerparteilichen Kampfes in den letzten entscheidenden Wochen.

Die Entscheidung über den bewaffneten Aufstand fiel im Zentralkomitee am 10. Oktober. Am 11. erhielten die wichtigsten Parteiorganisationen das oben dargelegte Schreiben Zur gegenwärtigen Lage. Am 18. Oktober, d.h. eine Woche vor dem Umsturz erschien in der Nowaja Schisn ein Brief von Kamenew:

„Nicht nur ich, sondern auch der Genosse Sinowjew sowie eine Reihe anderer Genossen finden es nicht zulässig, jetzt die Initiative zum bewaffneten Aufstand zu ergreifen; denn bei der gegenwärtigen Lage, bei dem augenblicklichen Kräfteverhältnis und wenige Tage vor dem Sowjetkongreß wäre das unzulässig und verhängnisvoll für das Proletariat und für die Revolution“. (Nowaja Schisn, Nr.156, 18. Oktober 1917).

Am 25. Oktober wurde in Petrograd die Macht ergriffen und die Sowjetregierung geschaffen. Am 4. November trat eine Reihe verantwortlicher Mitarbeiter aus dem Zentralkomitee der Partei und dem Rat der Volkskommissare aus und stellte die ultimative Forderung, aus den Sowjetparteien eine Koalitionsregierung zu bilden. „Außer dieser“ schrieben sie, „gibt es nur eine Möglichkeit: die Aufrichtung einer rein bolschewistischen Regierung durch die Mittel des politischen Terrors.“ In einem anderen Dokument jener Tage heißt es:

„Wir können nicht die Verantwortung für diese verhängnisvolle Politik des Zentralkomitees tragen, welche gegen den Willen eines großen Teiles des Proletariates und der Soldaten, die auf die schnellste Einstellung des Blutvergießens zwischen den einzelnen Teilen der Demokratie drängen, durchgeführt wird. Wir legen aus diesem Grunde das Mandat als „Mitglieder des Zentralkomitees“ nieder, um das Recht zu haben, offen den Massen unsere Meinung zu sagen und die Soldaten und Arbeiter aufzurufen mit der Losung: ‚Es lebe die Regierung der Sowjetparteien! Sofortige Verständigung auf dieser Grundlage!‘“ (Oktoberrevolution, Archiv der Revolution 1917, Seite 407-410).

Diejenigen also, die gegen den Aufstand als gegen ein Abenteuer waren, traten, als sie den siegreichen Verlauf sahen, dafür ein, daß die Macht wieder den Parteien zurückgegeben werde, denen das Proletariat sie entrissen hatte.

Aus welchem Grunde sollte nun die erfolggekrönte bolschewistische Partei den Menschewisten und den Sozial-Revolutionären die Macht wieder zurückgeben – der Streit ging doch eben um die Rückgabe der Macht! Darauf antwortete die Opposition:

„Wir sehen eine solche Regierung als Notwendigkeit an, zur Verhütung weiteren Blutvergießens, des Herankommens der Hungersnot, der Zerschmetterung der Revolution durch die Anhänger Kaledins, ferner, um den Zusammentritt der konstituierenden Versammlung zum festgesetzten Termin sicherzustellen und eine Friedenspolitik einzuleiten, wie dies auf dem allrussischen Kongreß der Arbeiterräte und Soldatendelegierte beschlossen worden.“ (Oktoberrevolution, Archiv der Revolution 1917, Seite 407-410.)

Es handelte sich mit anderen Worten darum, durch die bolschewistische Pforte den Weg zum Parlamentarismus zu finden. Wenn die Entwicklung der Februarrevolution nicht zum Vorparlament führte, sondern, im Gegenteil, zum Oktoberumsturz, so bestand die Aufgabe, wie die Opposition sie formulierte, darin, unter Mitwirkung der Menschewisten und Sozialrevolutionäre die Revolution von der Diktatur zu befreien und sie in das Fahrwasser des bürgerlichen Regimes hinüberzuleiten. Es handelte sich also um nichts Geringeres, als um die Liquidierung der Oktoberrevolution. Daß bei solchen Verhältnissen von einer Einigung, einem Kompromiß, keine Rede sein konnte, braucht nicht gesagt zu werden.

Am folgenden Tage, am 5. November, wurde noch ein Schreiben veröffentlicht, das dasselbe Ziel verfolgte:

„Ich kann aus Rücksicht auf die Parteidisziplin nicht schweigen, wenn ich beobachten muß, wie Marxisten entgegen der Vernunft und wider den elementaren Gewalten nicht mit den objektiven Begebenheiten rechnen wollen, die uns doch bei Gefahr eines Zusammenbruchs eine Einigung mit allen sozialistischen Parteien befehlen... Ich kann mich einem Personenkult nicht hingeben, der das Zusammengehen mit allen sozialistischen Parteien von der Anwesenheit dieser oder jener Persönlichkeit im Ministerium abhängig macht und dadurch – und sei es auch nur um eine Minute – das Blutvergießen verlängert“ (Rabotschaja Gazeta, Nr.204, 5. November 1917).

Zum Schluß erklärt der Verfasser dieses Schreibens (Losowski) die Notwendigkeit, für die Parteikonferenz einzutreten, damit die Frage, „bleibt die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei der Bolschewisten eine marxistische Arbeiterpartei oder schlägt sie endgültig eine Richtung ein, die nichts mehr mit dem revolutionären Marxismus gemein hat“, geklärt wird (ebenda, Nr.204, 5. November 1917).

Die Lage schien in der Tat hoffnungslos. Nicht nur die Bürgerlichen und Gutsbesitzer, nicht nur die sogenannte „revolutionäre Demokratie“, in deren Händen sich eine Reihe Spitzenorganisationen befanden (der allrussische Verband der Eisenbahner, die Armee-Komitees, ferner die Staatsbeamten u.a.), sondern auch die einflußreichsten Mitglieder unserer eigenen Partei, Mitglieder des Zentralkomitees und des Rates der Volkskommissare verurteilten den Versuch der Partei, am Ruder zu bleiben, um ihr Programm zu verwirklichen. Die Lage konnte man als aussichtslos ansehen, wenn man sich nur die äußeren Verhältnisse ansah. Was blieb uns übrig? Die Forderung der Opposition annehmen, hieß den Oktoberumsturz liquidieren. Aber dann wäre es ja sinnlos gewesen, ihn überhaupt hervorgerufen zu haben. Es blieb nur eine Möglichkeit: vorwärtszugehen und sich auf den revolutionären Willen der Massen zu stützen. Am 7. November erschien in der Prawda die entscheidende Erklärung des Zentralkomitees unserer Partei, die von Lenin verfaßt und von revolutionärer Leidenschaft erfüllt war – in klare, einfache und unantastbare Formeln gekleidet – für die breiten Massen unserer Partei berechnet. Dieser Aufruf setzt sich auch mit den Zweifeln über die weitere Politik der Partei und ihres Zentralkomitees auseinander.

„Schämen sollten sich alle Kleingläubigen, Schwankenden, Zweifelnden, alle, die sich einschüchtern ließen von der Bourgeoisie, auch diejenigen, die den Warnungsrufen der direkten und indirekten Helfershelfer der Bourgeoisie unterlagen. In den Petrograder, Moskauer u.a. Arbeiter- und Soldatenmassen ist auch nicht der leiseste Schatten einer Wankelmütigkeit zu bemerken. Unsere Partei steht wie ein Mann fest auf ihrem Posten und beschützt die Sowjetmacht und die Interessen der Werktätigen, vor allem der Arbeiter und ärmsten Bauern“ (Prawda, Nr.182 (113), 20. (7.) November 1917).

Die ärgste und schärfste Parteikrisis war überwunden, doch der Kampf innerhalb der Partei ging weiter. Die Kampflinie blieb dieselbe; ihre politische Bedeutung wurde aber immer geringer. Eine außerordentlich interessante Bestätigung fanden wir in einem Bericht, den Uritzky auf der Sitzung des Petrograder Komitees unserer Partei am 12. Dezember anläßlich der Einberufung der konstituierenden Versammlung verlas:

„Die Meinungsverschiedenheiten in unserer Mitte sind nicht neu. Es sind dieselben Strömungen, die man auch früher in der Frage des Aufstandes beobachten konnte. Gegenwärtig sehen einige Genossen in der konstituierenden Versammlung eine Einrichtung, die die Revolution krönen soll. Sie stehen auf dem Standpunkt der Philister und sagen, wir hätten Taktlosigkeiten begangen. Sie sind dagegen, daß bolschewistische Mitglieder der Versammlung den Zusammentritt und das Stärkeverhältnis kontrollieren. Sie sehen rein formal und ziehen nicht in Betracht, daß aus dem Ergebnis einer derartigen Kontrolle sich eine Übersicht darüber ergibt, was in der konstituierenden Versammlung vor sich geht. Das aber ist wichtig; denn wir haben dadurch die Möglichkeit, unsere Stellung zur konstituierenden Versammlung zu bestimmen. Wir stehen auf dem Standpunkt, daß wir für die Interessen des Proletariats und der ärmsten Bauern kämpfen müssen. Einige Genossen glauben aber, daß wir eine bürgerliche Revolution machen, deren Endziel die konstituierende Versammlung sein soll.“

Mit der Auflösung der konstituierenden Versammlung schließt nicht nur ein großes Kapitel der Geschichte Rußlands, sondern ein nicht weniger bedeutsamer Abschnitt unserer Parteigeschichte. Nach Überwindung der inneren Widerstände hat die Partei des Proletariats nicht nur die Macht erobert, sondern sie auch behalten.


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008