Leo Trotzki

 

1917
Die Lehren des Oktobers


Es ist notwendig, den Oktoberumsturz zu studieren

Obschon wir in der Oktoberrevolution Glück hatten, hatte diese in unserer Presse kein Glück. Wir besitzen bis jetzt kein einziges Werk, das ein Gesamtbild des Oktoberumsturzes geben und seine wichtigsten politischen und organisatorischen Momente herausheben würde. Nicht nur das, sogar die Dokumente, welche die einzelnen Stadien der Vorbereitung des Umsturzes und des eigentlichen Umsturzes unmittelbar charakterisieren – und dabei die wichtigsten Dokumente – sind bisher noch nicht veröffentlicht worden. Wir geben viele historisch-revolutionäre und parteigeschichtliche Dokumente und Materialien, die sich auf den Zeitabschnitt vor dem Oktoberumsturz beziehen, heraus, wir veröffentlichen nicht wenig Material über den Zeitabschnitt, der dem Oktoberumsturz folgte, aber dem eigentlichen Oktober erweisen wir eine viel geringere Aufmerksamkeit. Nach vollbrachtem Umsturz schien es uns, als ob wir mit der Möglichkeit einer Wiederholung nicht zu rechnen hätten. Es war, als ob wir vom Studium des Oktoberumsturzes, der Bedingungen seiner unmittelbaren Vorbereitung, Ausführung und der ersten Wochen seiner Befestigung keinen unmittelbaren Nutzen für die dringenden Aufgaben des Aufbaues erwarten würden.

Und doch stellt diese Beurteilung, wenn sie auch halb unbewußt ist, einen großen Fehler dar und ist außerdem national-beschränkt. Wenn wir auch nicht in die Lage kommen werden, die Oktoberrevolution zu wiederholen, so bedeutet das noch nicht, daß wir an diesem Beispiel nichts lernen können. Wir sind ein Teil der Internationale, aber das Proletariat aller anderen Länder steht erst vor der Lösung seiner „Oktober“-Aufgaben. Auch haben wir im letzten Jahre genügend überzeugende Beispiele gehabt, daß unsere Oktober-Erfahrung noch nicht einmal den reifsten kommunistischen Parteien im Westen in Fleisch und Blut übergegangen und daß ihnen nicht einmal die einfachsten Tatsachen bekannt sind.

Wohl kann darauf hingewiesen werden, daß es unmöglich sei, den Oktober zu studieren oder auch nur das Dokumentenmaterial herauszugeben, ohne alte Meinungsverschiedenheiten aufzuwühlen. Aber eine solche Einstellung zu dieser Frage wäre schon zu kleinlich. Es versteht sich, daß die Meinungsverschiedenheiten im Jahre 1917 sehr tiefer Natur und durchaus keine zufälligen waren. Aber es wäre sehr kleinlich, wollte man jetzt, nachdem einige Jahre verstrichen sind, aus ihnen Waffen schmieden gegen diejenigen, die sich damals geirrt haben. Noch weniger zulässig wäre es aber, würde man wegen dieser untergeordneten Erwägungen persönlichen Charakters die wichtigsten Probleme des Oktoberumsturzes von internationaler Bedeutung verschweigen.

Wir haben im vorigen Jahre (1923) zwei niederschmetternde Niederlagen erlitten; zuerst hatte die Partei aus doktrinär-fatalistischen Erwägungen heraus einen selten günstigen Moment für eine revolutionäre Aktion verpaßt (Aufstand der Bauern nach dem Juniumsturz Zankows) und dann, um diesen Fehler wieder gutzumachen, sich in den Septemberaufstand hineingestürzt, ohne dafür die politischen und organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen. Die bulgarische Revolution sollte der Auftakt zu der deutschen sein. Zum Unglück ist dem schlechten Auftakt in Bulgarien eine noch schlimmere Entwicklung in Deutschland gefolgt. Wir haben dort in der zweiten Hälfte des vorigen Jahres ein klassisches Beispiel vor Augen gehabt, wie man eine ganz außergewöhnliche revolutionäre Situation von welthistorischer Bedeutung verpassen kann. Und wiederum: weder das bulgarische noch das deutsche Experiment des vorigen Jahres hat bis heute eine eingehende und konkrete Beurteilung gefunden. Der Verfasser hat ein allgemeines Schema der Entwicklung der vorjährigen Vorgänge in Deutschland aufgestellt [1]. Alles, was seither vorgegangen ist, hat die Richtigkeit dieses Schemas vollständig bestätigt; eine andere Erklärung ist von keiner Seite versucht worden. Aber ein Schema genügt uns nicht: wir brauchen eine Darstellung, die tatsächliches Material enthält, ein genaues Bild der vorjährigen Ereignisse in Deutschland, das uns die wahrheitsgetreue Ursache der katastrophalen Niederlage zeigt. Es ist schwierig, die Ereignisse in Bulgarien und Deutschland zu analysieren, ohne zuvor eine politische und taktische Darstellung der Oktoberrevolution gebracht zu haben. Wir sind uns selbst nicht einmal klar darüber, was wir verrichteten und wie wir es verrichteten. Nach dem Oktoberumsturz nahmen wir an, daß die nächsten Ereignisse in Europa sich von selbst entfesseln würden und zwar in so kurzer Zeit, daß es zu einer theoretischen Erfassung der Oktoberlehren gar nicht kommen würde. Aber es erwies sich, daß durch das Nichtvorhandensein einer Partei, die in der Lage gewesen wäre, einen proletarischen Aufstand zu leiten, dieser selbst unmöglich wurde. Durch einen elementaren Aufstand kann das Proletariat die Macht nicht erobern; selbst in dem hochkulturellen und industriellen Deutschland hat der elementare Aufstand vom November 1918 nur zur Folge gehabt, daß die Macht in die Hände der Bourgeoisie gelangte. Eine besitzende Klasse ist imstande, die Macht, die einer anderen besitzenden Klasse entrissen wurde, zu erobern, indem sie sich auf ihren Reichtum, ihre „Kultur“, ihre unzähligen Verbindungen mit dem alten Staatsapparat stützt. Dem Proletariat jedoch kann seine Partei durch nichts ersetzt werden.

Um die Mitte des Jahres 1921 beginnt eigentlich erst die Periode des wirklich organischen Aufbaues der kommunistischen Parteien („Kampf um die Masse“, „Einheitsfront“). Die „Oktoberaufgaben“ werden zurückgestellt und gleichzeitig auch das Studium des Oktoberumsturzes. Das vorige Jahr jedoch hat uns den Aufgaben des proletarischen Aufstandes wieder gegenübergestellt und es ist an der Zeit, alle Dokumente zu veröffentlichen, das Material herauszugeben und an das Studium dieser Dinge heranzutreten.

Selbstverständlich wissen wir, daß jede Klasse, ja sogar jede Partei hauptsächlich an ihren eigenen Erfahrungen lernt; das bedeutet aber gar nicht, daß die Erfahrungen anderer Länder, anderer Klassen und anderer Parteien eine nebensächliche Bedeutung haben. Ohne Studium der großen französischen Revolution, der Revolution von 1848, der Pariser Kommune hätten wir nie den Oktoberumsturz ausführen können, obwohl wir unsere eigene Erfahrung von 1905 besaßen: wurde doch selbst dieses unser „nationales“ Experiment gemacht, indem wir uns auf die Ergebnisse der früheren Revolutionen stützten und ihre historische Linie weiterführten. Die Periode der Konterrevolution war für uns eine Zeit, in der wir die Ergebnisse und Lehren des Jahres 1905 prüften. Dagegen haben wir für die Erforschung der siegreichen Revolution von 1917 nicht einmal den zehnten Teil einer solchen Arbeit aufgewandt. Gewiß: wir leben nicht in der Zeit der Reaktion und der Emigration. Dafür aber stehen die Mittel und Kräfte, die uns jetzt zur Verfügung stehen, in keinem Verhältnis zu denen, über die wir in jener schweren Zeit verfügten. Es handelt sich nur darum, das Problem des Studiums der Oktoberrevolution innerhalb der Partei und innerhalb der ganzen Internationale klar und deutlich aufzustellen. Es ist wünschenswert, daß die gesamte Partei und besonders die junge Generation Schritt für Schritt den Oktoberumsturz erfaßt; die Erfahrungen dieser Revolution stellen die tiefste und unbestrittenste Prüfung der Vergangenheit dar und öffnen weite Perspektiven für die Zukunft. Die Lehren der Ereignisse in Deutschland im vorigen Jahre sind für uns nicht nur eine ernste Mahnung, sondern auch eine eindringliche Warnung.

Gewiß kann gesagt werden, daß auch ein Vertrautsein mit dem Gang der Oktoberrevolution noch keine Garantie für den Sieg unserer deutschen Bruderpartei geboten hätte. Aber was nützt jetzt ein derartiges nebensächliches Räsonieren, das im Grunde philiströs ist und uns keinen Schritt weiter bringt. Das Studium des Oktobers allein führt natürlich nicht zum Siege in den anderen Ländern, aber es kann Situationen geben, wo alle Voraussetzungen für eine Revolution offensichtlich vorliegen und nur eine weitsichtige und entschlossene Führung fehlt. Diese erwächst aus einem Verstehen der Gesetze und Methoden der Revolution. Gerade so lag die Situation im vorigen Jahre in Deutschland, und das Gleiche kann sich auch in anderen Ländern wiederholen. Zum Studium der Gesetze und Methoden der proletarischen Revolution gibt es bis heute keine wichtigere und tiefere Quelle als unser Oktober-Experiment. Die Führer der anderen kommunistischen europäischen Parteien, die nicht kritisch und eingehend die Geschichte des Oktoberumsturzes studiert haben, gleichen Heerführern, die sich unter den jetzigen Verhältnissen zu einem neuen Kriege vorbereiten, ohne sich mit den Erfahrungen auf strategischem, taktischem und technischem Gebiete des letzten imperialistischen Krieges vertraut gemacht zu haben. Solche Feldherrn würden ihre Truppen unbedingt in eine Niederlage führen.

Das Hauptmittel des proletarischen Umsturzes ist die Partei. Schon auf Grund unserer einjährigen Erfahrung (vom Februar 1917 bis zum Februar 1918) und ergänzt durch die Ereignisse in Finnland, Ungarn, Italien, Bulgarien und Deutschland kann man es als ein fast allgültiges Gesetz ansehen, daß beim Übergang von der revolutionären Vorbereitungsarbeit zum unmittelbaren Kampf um die Machtergreifung eine Parteikrisis ausbricht. Die Krisen innerhalb der Partei treten im allgemeinen bei jedem ernsten Wendepunkt der Entwicklung der Partei als Vorbote oder Folgeerscheinung derselben auf. Das erklärt sich daraus, daß jede Entwicklungsperiode der Partei ihre eigenen charakteristischen Züge trägt und die Arbeit nach bestimmten Methoden und Gepflogenheiten geleistet wird. Eine taktische Neuorientierung bedeutet immer einen Bruch mit den bisherigen Methoden und Gepflogenheiten. Hier liegt die nächste und unmittelbarste Ursache zu allen innerparteilichen Reibungen und Krisen.

„Zu oft ist es vorgekommen“ – schrieb Lenin im Juli 1917 – „daß bei jähen geschichtlichen Ereignissen selbst die fortgeschrittensten Parteien längere Zeit gebraucht haben, sich in die neue Lage hineinzufinden, alte Losungen wiederholt haben, die gestern richtig waren, aber heute jeden Sinn verloren und zwar so &bsquo;jäh‘ verloren haben, wie die geschichtliche Wendung &bsquo;jäh‘ eintraf.“ (Band 14, Teil 2, Seite 12 der russischen Ausgabe der Gesammelten Werke Lenins.)

Hierdurch erwächst die Gefahr: kommt der Umsturz sehr plötzlich und hat die vorhergehende Periode viele konservative Elemente in den führenden Organen der Partei angesammelt, so wird sie sich im entscheidenden Moment als unfähig erweisen, ihre Führerrolle zu erfüllen, zu der sie sich im Laufe vieler Jahre und Jahrzehnte vorbereitet hat. Die Partei wird von Krisen zersetzt, die Bewegung geht an ihr vorüber – zur Niederlage.

Die revolutionäre Partei befindet sich unter dem Druck fremder politischer Kräfte; in jeder Periode ihres Bestehens entwickelt sie andere Mittel, diesen Kräften zu widerstehen und sich ihnen entgegenzusetzen. Bei einer taktischen Neuorientierung und den damit verbundenen inneren Reibungen schwindet die Kraft, sich den zerstörenden äußeren Kräften zu widersetzen. Es besteht daher die Gefahr, daß innere Umgestaltungen der Partei, die im Hinblick auf die Notwendigkeit der taktischen Neuorientierung entstehen, über das Ziel hinauswachsen und verschiedenen Klassentendenzen als Stützpunkt dienen. Einfacher ausgedrückt: eine Partei, die mit den historischen Aufgaben ihrer Klasse nicht Schritt hält, läuft Gefahr, zum indirekten Werkzeug anderer Klassen zu werden oder wird es auch tatsächlich.

Wenn das eben Gesagte im Hinblick auf jede ernsthafte innere, taktische Umstellung richtig ist, so gilt das noch viel mehr in bezug auf die großen strategischen Wendungen. Unter Taktik im Klassenkampf verstehen wir – analog dem Kriegshandwerk – die Kunst, einzelne Operationen zu führen, unter Strategie, die Kunst zu siegen, das heißt: die Eroberung der Macht. Diesen Unterschied haben wir im allgemeinen bis zum Kriege und in der Epoche der zweiten Internationale nicht gemacht. Wir haben uns auf den Begriff der sozialdemokratischen Taktik beschränkt. Dies war kein Zufall: die Sozialdemokratie besaß eine parlamentarische Taktik, eine gewerkschaftliche, eine munizipale, eine genossenschaftliche usw. Der Gedanke jedoch, alle diese Kräfte zusammenzufassen, durch Zusammenschluß aller Kampfmittel den Sieg über den Feind herbeizuführen, wurde in Wirklichkeit während der Epoche der zweiten Internationale nicht erwogen, wie auch die Aufgabe, die Macht tatsächlich zu erobern, nicht auftauchte.

Erst die Revolution von 1905 hat zum erstenmal nach längerer Unterbrechung die grundlegenden, strategischen Fragen des proletarischen Kampfes in den Vordergrund gerückt. Damit haben sich die russischen revolutionären Sozialdemokraten, das heißt die Bolschewisten, ein großes Verdienst erworben. Die große Epoche der revolutionären Strategie beginnt im Jahre 1917 zunächst für Rußland, dann aber für ganz Europa. Die Strategie beseitigt nicht die Taktik; die Fragen der Gewerkschaftsbewegung, der parlamentarischen Tätigkeit usw. finden nach wie vor unsere Aufmerksamkeit, aber sie erhalten eine völlig neue Bedeutung und werden zu untergeordneten Methoden des kombinierten Kampfes um die Macht. Die Taktik unterwirft sich der Strategie.

Wenn schon die taktische Umstellung meist zu inneren Krisen führt, wieviel stärker und nachhaltiger müssen die Reibungen bei einem strategischen Wendepunkt sein! Die gewaltigste Umstellung ist aber die, wenn die proletarische Partei von der Vorbereitung, der Propaganda, der Organisation, der Agitation übergeht zum unmittelbaren Kampf um die Macht, zum bewaffneten Aufstand gegen die Bourgeoisie. Alles, was in der Partei vorhanden ist an unentschlossenen, skeptischen, opportunistischen, menschewistischen Elementen, erhebt sich gegen den Aufstand, sucht für seine Opposition nach theoretischen Formeln und findet sie – bei den gestrigen Feinden – den Opportunisten. Diese Erscheinung werden wir noch öfter beobachten können.

In der Zeit von Februar bis Oktober 1917 erfolgte nach einer Agitationsarbeit auf breitester Grundlage unter den Massen eine Truppenschau und Prüfung der Schlagkraft vor der Entscheidungsschlacht. Im und nach dem Oktober wurde die Kampfkraft durch gigantische, historische Taten erprobt. Wollte man jetzt – einige Jahre nach dem Oktober 1917 – sich mit der Beurteilung der Revolution und speziell der russischen befassen und die Erfahrungen des Jahres 1917 umgehen, so wäre dies unfruchtbare Scholastik und keinesfalls marxistische Analyse der Politik. Es wäre dasselbe, wollte man sich in eine Auseinandersetzung über die verschiedenen Methoden des Schwimmens einlassen, krampfhaft bemüht, dabei nicht auf den Fluß zu schauen, wo Badende diese Methoden praktisch anwenden. Es gibt kein besseres Mittel, die Anschauungen über die Revolution zu prüfen, als durch ihre Anwendung in der Revolution selbst, wie ja auch die Schwimmmethoden sich am leichtesten durch den Sprung ins Wasser erproben lassen.

Fußnote

1. Siehe Osten und Westen die Kapitel Am Wendepunkt und Auf welcher Etappe befinden wir uns?

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008