John Reed

Zehn Tage, die die Welt erschütterten


Beilagen zu Kapitel I

1.

Oboronzy – „Vaterlandsverteidiger“. Alle „gemäßigten“ sozialistischen Gruppen gaben sich selbst oder erhielten diesen Namen, weil sie einer Fortsetzung des Krieges unter alliierter Führung zustimmten und sich darauf beriefen, der Krieg werde für die nationale Verteidigung geführt. Die Bolschewiki, die linken Sozialrevolutionäre, die Menschewiki – Internationalisten und die Sozialdemokraten – Internationalisten forderten, man solle die Alliierten zwingen, demokratische Kriegsziele zu proklamieren und Deutschland auf dieser Grundlage den Frieden anzubieten.


2.

Löhne und Lebenshaltungskosten vor und während der Revolution Folgende Zahlen über Löhne und Lebenshaltungskosten wurden im Oktober 1917 von einem gemeinsamen Komitee der Moskauer Handelskammer und der Moskauer Sektion des Arbeitsministeriums zusammengestellt und am 26. Oktober 1917 in der Zeitung Nowaja Shisn veröffentlicht:

Tageslöhne
(in Rubel und Kopeken)

Berufe

Juli 1914

Juli 1916

Aug. 1917

Tischler und Zimmerleute

1,60–2,00

4,00–6,00

8,50

Erdarbeiter

1,30–1,50

3,00–3,50

Maurer und Stukkateure

1,70–2,35

4,00–6,00

8,00

Maler, Polsterer

1,80–2,20

3,00–5,50

8,00

Schmiede

1,00–2,25

4,00–5,00

8,50

Ofensetzer und Schornsteinfeger

1,50–2,00

4,00–5,50

7,50

Schlosser

0,90–2,00

3,50–6,00

9,00

Hilfsarbeiter

1,00–1,50

2,50–4,50

8,00

Es wurde zwar ein großes Geschrei um die gewaltigen Lohnerhöhungen erhoben, die angeblich nach der Märzrevolution 1917 eingetreten seien, aber diese Zahlen, die vom Arbeitsministerium als kennzeichnend für die Lage überall in Rußland veröffentlicht wurden, zeigen deutlich, daß die Löhne nicht unmittelbar nach der Revolution stiegen, sondern nur allmählich. Durchschnittlich erhöhten sich die Löhne um wenig mehr als 500 Prozent ...

Aber in dieser Zeit verminderte sich der Wert des Rubels auf weniger als ein Drittel seiner vorherigen Kaufkraft, und die Lebenshaltungskosten stiegen ganz gewaltig.

Folgende Tabelle wurde von der Stadtduma in Moskau zusammengestellt, wo Lebensmittel billiger und reichlicher waren als in Petrograd:

Lebensmittelpreise
(in Rubel und Kopeken)

 

August 1914

August 1917

proz. Erh.

Schwarzbrot

(Pfund)

  0,02½

0,12

330

Weißbrot

(Pfund)

  0,05  

0,20

300

Rindfleisch

(Pfund)

  0,22  

1,10

400

Kalbfleisch

(Pfund)

  0,26  

2,15

727

Schweinefleisch

(Pfund)

  0,23  

2,00

770

Hering

(Pfund)

  0,06  

0,52

767

Käse

(Pfund)

  0,40  

3,50

754

Butter

(Pfund)

  0,48  

3,20

557

Eier

(Dutz.)

  0,30  

1,60

443

Milch

(Krug)

  0,07  

0,40

471

Im Durchschnitt stiegen die Lebensmittelpreise um 556 Prozent, also 51 Prozent mehr als die Löhne.

Noch mehr stiegen die Preise anderer Gebrauchsgüter.

Folgende Zahlen wurden von der Wirtschaftsabteilung des Moskauer Sowjets der Arbeiterdeputierten zusammengestellt und vom Ministerium für Ernährung der Provisorischen Regierung für richtig befunden:

Preise für andere Gebrauchsgüter
(in Rubel und Kopeken)

 

August 1914

August 1917

proz. Erh.

Kattun

(Arschin)

  0,11

    1,40

1173

Baumwollstoff

(Arschin)

  0,15

    2,00

1233

Kleiderstoff

(Arschin)

  2,00

  40,00

1900

Wolltuch

(Arschin)

  6,00

  80,00

1233

Herrenschuhe

(Paar)

12,00

144,00

1097

Sohlenleder

(Arschin)

20,00

400,00

1900

Überschuhe

(Paar)

  2,50

  15,00

  500

Herrenanzug

40,00

400,00–455,00

900–1109

Tee

(Pfund)

  4,50

  18,00

  300

Zündhölzer

(Karton)

  0,10

    0,50

  400

Seife

(Pud)

  4,50

  40,00

  780

Benzin

(Wedro)

  1,70

  11,00

  547

Kerzen

(Pud)

  8,50

100,00

1076

Karamellen

(Pfund)

  0,30

    4,50

1400

Brennholz

(Fuhre)

10,00

120,00

1100

Holzkohle

  0,30

  13,00

1525

Verschiedene Metallwaren

  1,00

  20,00

1900

Im Durchschnitt stiegen die Preise dieser Art Waren um etwa 1109 Prozent, mehr als das Doppelte der Lohnerhöhungen. Die Differenz wanderte selbstredend in die Taschen der Spekulanten und Kaufleute.

Als ich im September 1917 in Petrograd ankam, betrug der tägliche Durchschnittslohn eines gelernten Industriearbeiters – zum Beispiel eines Stahlarbeiters in den Putilow-Werken – etwa acht Rubel. Zur gleichen Zeit wurden aber Riesenprofite gemacht ... Einer der Eigentümer der Thornton-Wollspinnereien, einer englischen Firma in der Umgebung Petrograds, erzählte mir, daß in seiner Fabrik die Löhne um 300 Prozent gestiegen seien, seine Profite dagegen um 900 Prozent.


3.
Die sozialistischen Minister

Die Art und Weise, in der sich die sozialistischen Minister in der Provisorischen Regierung vom Juli bemühten, ihr Programm mit Hilfe einer Koalition mit der Bourgeoisie durchzusetzen, ist ein bezeichnendes Beispiel für den Klassenkampf in der Politik. Lenin sagte dazu folgendes:

„Als sie (die Kapitalisten) sahen, daß die Stellung der Regierung unhaltbar geworden war, griffen sie zu einer Methode, die nach 1848 viele Jahrzehnte lang von den Kapitalisten anderer Länder zur Irreführung, Spaltung und Entkräftung der Arbeiter praktiziert worden war. Diese Methode ist die sogenannte ‚Koalitions‘-Regierung, d.h. eine vereinigte, aus der Bourgeoisie und den Überläufern des Sozialismus zusammengesetzte, gemeinsame Regierung.

In jenen Ländern, wo Freiheit und Demokratie neben der revolutionären Arbeiterbewegung am längsten bestehen, in England und Frankreich, haben die Kapitalisten diese Methode oftmals und mit großem Erfolg angewandt. Die ‚sozialistischen‘ Führer, die in die Regierung der Bourgeoisie eintraten, erwiesen sich unweigerlich als Strohmänner, als Marionetten, als Kulisse für die Kapitalisten, als Werkzeuge des Betruges an den Arbeitern. Die ‚demokratischen und republikanischen‘ Kapitalisten Rußlands haben dieselbe Methode in Anwendung gebracht. Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki ließen sich sofort übers Ohr hauen, und am 6. Mai wurde die Koalitionsregierung unter Beteiligung Tschernows, Zeretelis und Konsorten Tatsache.“ – Lenin, Die Lehren der Revolution.


4.
Die Kommunalwahlen in Moskau im September

In der ersten Oktoberwoche 1917 veröffentlichte Nowaja Shisn folgende Wahlergebnisse und bezeichnete sie als den Zusammenbruch der Koalitionspolitik mit den besitzenden Klassen. „Wenn ein Bürgerkrieg noch vermieden werden kann, dann nur durch eine Einheitsfront der gesamten revolutionären Demokratie ...“

Wahlen zur zentralen Duma
und den Stadtbezirksdumas in Moskau

 

Juni 1917

September 1917

Sozialrevolutionäre

58 Mitglieder

14 Mitglieder

Kadetten

17 Mitglieder

30 Mitglieder

Menschewiki

12 Mitglieder

  4 Mitglieder

Bolschewik

11 Mitglieder

47 Mitglieder



5.
Die Reaktionäre werden immer frecher

18. September. Der Kadett Schulgin schrieb in einer Kiewer Zeitung, daß die Erklärung der Provisorischen Regierung, Rußland sei eine Republik, einen groben Amtsmißbrauch darstelle.

„Wir können uns weder mit einer Republik noch mit der gegenwärtigen republikanischen Regierung einverstanden erklären ... Und es ist noch fraglich, ob wir überhaupt eine Republik in Rußland wollen.“

23. Oktober. Auf einer Versammlung der Kadettenpartei in Rjasan erklärte M. Duchonin:

„Am 1. März müssen wir eine konstitutionelle Monarchie errichten. Wir dürfen den rechtmäßigen Thronanwärter, Michail Alexandrowitsch, nicht zurückweisen ...“

27. Oktober. Eine Resolution des Bundes von Männern der Öffentlichkeit:

„Die Moskauer Beratung des Bundes von Männern der Öffentlichkeit beauftragt ihre Mitglieder, die im Rat der Russischen Republik vertreten sind, bei der Provisorischen Regierung die Einführung folgender Grundgesetze [1] in der Armee durchzusetzen:

Redaktionelle Fußnote

1. Bei John Reed sind diese Grundgesetze gekürzt und nicht genau wiedergegeben. Außerdem schreibt er die Resolution der „Beratung der Vertreter von Handel und Industrie“ zu.





Zuletzt aktualisiert am 15.7.2008