John Reed

Zehn Tage, die die Welt erschütterten


II. Der heraufziehende Sturm

Im September [1] 1917 marschierte der General Kornilow auf Petrograd, um sich zum militärischen Diktator über Rußland aufzuschwingen. Hinter ihm wurde plötzlich die Eisenfaust der Bourgeoisie sichtbar, die sich anschickte, mit verwegenem Schlag die Revolution niederzuschmettern. In die Verschwörung waren auch einige sozialistische Minister verwickelt. Selbst Kerenski war verdächtig. [1*] Sawkinow, von dem Zentralkomitee seiner Partei, den Sozialrevolutionären, aufgefordert, Aufklärung zu geben, weigerte sich dessen und wurde ausgeschlossen. Soldatenkomitees verhafteten Kornilow, Generale wurden entlassen, Minister ihrer Ämter enthoben, und das Kabinett wurde gestürzt.

Kerenski machte den Versuch, eine neue Regierung zu bilden mit Einschluß der Kadetten, der Partei der Bourgeoisie. Seine eigene Partei, die Sozialrevolutionäre, befahlen ihm den Ausschluß der Kadetten. Kerenski weigerte sich zu gehorchen und drohte mit seinem eigenen Rücktritt aus dem Kabinett, wenn die Sozialisten auf ihrer Forderung beständen. Indessen war die Aufregung der Volksmassen so groß, daß er sich – wenigstens für den Moment – nicht zu widersetzen wagte, und ein provisorisches Direktorium von fünf der bisherigen Minister, mit Kerenski an der Spitze übernahm die Macht bis zur endgültigen Regelung der Frage. [2]

Die Kornilow-Affäre hatte alle sozialistischen Gruppen, von den Gemäßigten bis zu den Revolutionären, in einem leidenschaftlichen Impuls der Selbstverteidigung zusammengeführt. Es galt, das Auftauchen neuer Kornilows zu verhindern. Eine neue Regierung mußte gebildet werden, die den der Revolution ergebenen Elementen verantwortlich war. So forderte denn das Zentralexekutivkomitee der Sowjets die Organisationen auf, Delegierte zu einer „Demokratischen Beratung“ zu entsenden, die im September in Petrograd zusammentreten sollte.

Im Zentralexekutivkomitee der Sowjets hatten sich von vornherein drei Richtungen bemerkbar gemacht. Die Bolschewiki forderten die Einberufung eines neuen (zweiten) Gesamtrussischen Sowjetkongresses und die Übernahme der Macht durch die Sowjets. Das von Tschernow geführte Zentrum der Sozialrevolutionäre, die linken Sozialrevolutionäre unter Führung von Kamkow und Spiridowna, die Menschewiki – Internationalisten unter Martow und das Zentrum der Menschewiki [A], dessen Sprecher Bogdanow und Skobelew waren, traten für eine „rein sozialistische“ Regierung ein. Zereteli, Dan und Liber, die Führer der rechten Menschewiki, und die rechten Sozialrevolutionäre unter Awxentjew und Goz bestanden auf der Hinzuziehung der besitzenden Klassen bei der Bildung der neuen Regierung.

Im Petrograder Sowjet gelang es den Bolschewiki fast sofort, die Mehrheit zu gewinnen. Dem Beispiel Petrograds folgten schnell die Sowjets in Moskau, Kiew, Odessa und anderen Städten.

Aufs höchste bestürzt, kamen die das Zentralexekutivkomitee der Sowjets beherrschenden Menschewiki zu der Schlußfolgerung, daß die Gefahr Lenin mehr zu fürchten sei als die Gefahr Kornilow. Sie revidierten den für die Demokratische Beratung aufgestellten Vertretungsmodus [2*], indem sie den Genossenschaften und ähnlichen konservativen Organisationen eine größere Anzahl von Delegierten zusprachen. Selbst diese gesiebte Versammlung stimmte zuerst für eine Koalitionsregierung ohne die Kadetten. Nur Kerenskis offen Drohung mit dem Rücktritt und das Alarmgeschrei der „gemäßigten“ Sozialisten, daß „die Republik in Gefahr sei“, erreichten, daß die Beratung mit einer geringen Mehrheit sich zugunsten der Koalition mit der Bourgeoisie aussprach und der Errichtung einer Art beratenden Parlaments, ohne gesetzgebende Gewalt, zustimmte, das den Namen „Provisorische Rat der Russischen Republik“ erhielt.

Die neue Regierung wurde praktisch von den besitzenden Klassen beherrscht, und auch in dem neugeschaffenen Rat der Russischen Republik hatten diese eine verhältnismäßig große Zahl von Sitzen inne.

Das Zentralexekutivkomitee der Sowjets hatte faktisch aufgehört, die einfachen Menschen in den Sowjets zu vertreten. Es weigerte sich, den im September fälligen neuen Gesamtrussischen Sowjetkongreß einzuberufen, und war auch nicht gewillt, seine Einberufung durch andere zu dulden. Das offizielle Organ des Komitees. Iswestija, begann sogar anzudeuten, daß die Funktion der Sowjets beendet und ihre baldige Auflösung zu erwarten sei. [3*] Zur selben Zeit bezeichnete die neue Regierung als einen wesentlichen Teil ihrer Politik die Liquidierung aller „unverantwortlichen Organisationen“, womit die Sowjets gemeint waren.

Die Bolschewiki antworteten hierauf mit der Aufforderung an die Gesamtrussischen Sowjets, sich am 2. November in Petrograd zu versammeln und die Regierungsgewalt zu übernehmen. Gleichzeitig zogen sie ihre Vertreter aus dem Provisorischen Rat der Russischen Republik zurück mit der Erklärung, daß sie es ablehnten, an einer „Regierung des Volksverrats“ teilzunehmen. [4*]

Der Rücktritt der Bolschewiki ließ den unglückseligen Rat jedoch keineswegs zur Ruhe kommen. Die besitzenden Klassen, wider im Besitz einer Machtposition, wurden arrogant. Die Kadetten erklärten, daß die Regierung nicht berechtigt gewesen sei, Rußland zu einer Republik zu proklamieren. Sie forderten strenge Maßnahmen in Armee und Flotte zur Unterdrückung der Soldaten- und Matrosenkomitees und griffen die Sowjets heftig an. Auf der anderen Seite traten die Menschewiki – Internationalisten und die linken Sozialrevolutionäre für den sofortigen Friedensschluß ein, für die Übergabe des Landes an die Bauern und für die Durchführung der Arbeiterkontrolle über die Industrie, was praktisch auf das Programm der Bolschewiki hinauslief.

Ich habe Martows Antwortrede an die Kadetten gehört. Todkrank, wie er war, hielt er sich mit Mühe am Rednerpult aufrecht, und mit einer Stimme, so heiser, daß man ihn kaum zu hören vermochte, drohte er nach den rechten Bänken hinüber:

„Ihr schimpft uns Defätisten; aber die wahren Defätisten sind jene, die um ihrer egoistischen Interessen willen den Friedensschluß so lange hinauszögern möchten, bis von der russischen Armee nichts mehr übriggeblieben sein wird und Rußland nur noch ein Schacherobjekt der verschiedenen imperialistischen Gruppen ist ... Ihr versucht, dem russischen Volk eine von den Interessen der Bourgeoisie diktierte Politik aufzuzwingen. Die Frage des Friedens sollte unverzüglich entschieden werden ... Ihr werdet dann sehen, daß sie nicht umsonst gearbeitet haben, jene, die ihr deutsche Agenten nennt, jene Zimmerwaldler [B], die in allen Ländern dafür gewirkt haben, daß das Bewußtsein der demokratischen Massen erwacht ...“

Zwischen diesen beiden Gruppen schwankten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre – mit unwiderstehlicher Gewalt nach links getrieben durch den Druck der steigenden Unzufriedenheit der Massen. Eine tiefgehende Feindschaft teilte so den Rat in Gruppen, die miteinander auszusöhnen unmöglich war.

So war die Lage, als die lang erwartete Ankündigung der Pariser Alliiertenkonferenz die brennende Frage der Außenpolitik auf die Tagesordnung setzte.

In der Theorie waren alle sozialistischen Parteien für den schnellstmöglichen Friedensschluß auf demokratischer Grundlage. Schon im Mai 1917 hatte der Petrograder Sowjet, damals noch unter menschewistischer und sozialrevolutionärer Führung, die berühmten russischen Friedensbedingungen proklamiert und die Alliierten aufgefordert, eine Konferenz zur Besprechung der Kriegsziele einzuberufen. Diese Konferenz, für den August versprochen, wurde ein erstes Mal bis zum September, dann bis zum Oktober vertagt und sollte jetzt endgültig am 10. November stattfinden. [3]

Die Provisorische Regierung hatte zwei Vertreter vorgeschlagen, den General Alexejew, einen reaktionären Militär, und Tereschtschenko, den Minister des Auswärtigen. Die Sowjets erwählten Skobelew zu ihrem Sprecher und entwarfen ein Manifest, den berühmten „Nakas[5*] (Direktiven). Die Provisorische Regierung lehnte Skobelew und seinen „Nakas“ ab. Die Gesandten der Alliierten protestierten, und zu guter Letzt erklärte Bonar Law [4] im englischen Unterhaus in Beantwortung einer an die Regierung gerichteten Anfrage kühl: „Soweit mir bekannt, wird die Pariser Konferenz die Kriegsziele überhaupt nicht diskutieren, sondern nur die Methoden der Kriegsführung ...“

Die konservative russische Presse jubelte, wohingegen die Bolschewiki riefen: „Da seht ihr, wohin die Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit ihrer Kompromißtaktik gelangt sind!“

Mittlerweile waren an der Tausende Kilometer weiten Front die Millionen Soldaten der russischen Armee in Bewegung geraten. Höher und höher gingen die Wogen der Erregung, immer neue Delegationen fluteten in die Hauptstadt mit dem Ruf. Friede, Friede!

Ich ging eines Abends nach dem jenseits des Flusses gelegenen Zirkus „Modern“ in eine der großen Volksversammlungen, die, jeden Abend zahlreicher, in der ganzen Stadt veranstaltet wurden. In dem schmucklosen Amphitheater, von fünf winzigen, an einem dünnen Draht hängenden Glühlampen unzureichend erleuchtet, drängten sich von der Arena bis hoch unterm Dach unübersehbare Massen von Soldaten, Matrosen, Arbeitern und Frauen, alle mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschend, als ob es um ihr Leben ginge. Ein Soldat redete von der 548. Division:

„Genossen“ rief er, und tiefe Sorge sprach aus seinem eingefallenen Gesicht und seinen verzweifelten Gesten. „Die an der Spitze verlangen von uns immer neue Opfer und Opfer, aber wir müssen sehen, daß die, die im Besitze sind, völlig ungeschoren bleiben.

Wir führen Krieg gegen die Deutschen. Würde es uns einfallen, die Arbeiten unseres Stabes deutschen Generalen anzuvertrauen? Wir stehen auch mit den Kapitalisten im Kriege, und doch laden wir diese ein, an unserer Regierung teilzunehmen.

Der Soldat sagt: ;Zeigt mir, wofür ich kämpfen soll. Für Konstantinopel oder für ein freies Rußland? Für die Demokratie oder für die kapitalistischen Räuber? Wenn man mir beweisen kann, daß ich die Revolution verteidige, dann werde ich hingehen und kämpfen, auch ohne die Todesstrafe, mit der man mich zwingen will.‘

Wenn das Land den Bauern gehören wird, die Fabriken den Arbeitern, wenn die Sowjets die Macht ausüben werden, dann haben wir etwas zu verteidigen und dann werden wir auch kämpfen!“

Überall in den Kasernen, in den Fabriken, an jeder Straßenecke reden Soldaten zu den Massen. Alle fordern die Beendigung des Krieges und erklären, daß die Truppen die Schützengräben zu verlassen und nach Hause zu gehen entschlossen seien, wenn die Regierung keine ernstlichen Anstrengungen machen würde, zum Frieden zu gelangen.

Ein Vertreter der Achten Armee:

„Wir sind schwach, unsere Kompanien zählen nur noch wenige Mann. Wir brauchen Lebensmittel und Stiefel und Verstärkung, oder die Schützengräben werden bald verlassen sein. Frieden oder Verstärkung ... Die Regierung muß den Krieg beendigen oder der Armee zur Hilfe kommen ...“

Dann ein Redner, der für die Sechsundvierzigste Sibirische Artillerie sprach:

„Die Offiziere lehnten es ab, mit unsern Komitees zu arbeiten, sie verraten uns an den Feind, sie verhängen über unsere Agitatoren die Todesstrafe; die konterrevolutionäre Regierung unterstützt sie Wir glauben, daß die Revolution den Frieden bringen wird. Jetzt aber verbietet die Regierung, von solchen Dingen auch nur zu reden, während sie uns gleichzeitig hungern läßt und die Munition nicht liefert, die wir brauchen, wenn wir kämpfen sollen....“

Dazu kamen aus Europa Gerüchte über einen Friedensschluß auf Kosten Rußlands. [6*]

Die allgemeine Unzufriedenheit wurde noch gesteigert durch die Nachrichten über die Behandlung der russischen Truppen in Frankreich. Die 1. Brigade hatte dort versucht, ihre Offiziere durch Soldatenkomitees zu ersetzen, wie das ihre Kameraden zu Hause getan hatten, und sich geweigert, einem Befehl Folge zu leisten, der sie nach Saloniki beorderte. Sie verlangte, nach Rußland geschickt zu werden. Man hatte die Brigade daraufhin eingeschlossen und ausgehungert, dann unter Artilleriefeuer genommen, wobei viele Soldaten getötet wurden. [7*]

Am 29. Oktober hörte ich in dem weißmarmornen, rotdekorierten Saal des Marienpalastes die von dem erschöpften und nach Frieden lechzenden Lande mit Ungeduld erwartete Erklärung Tereschtschenkos über die Außenpolitik der Regierung.

Diese äußerst sorgfältig vorbereitete, ganz unverbindliche Rede [8*] brachte indessen nichts als die sattsam bekannten Phrasen über die Zerschmetterung des deutschen Militarismus mit Hilfe der Alliierten, über das Staatsinteresse Rußlands, über die durch Skobelews „Nakas„ verursachten Verlegenheiten. Der Schluß war bezeichnend:

„Rußland ist mächtig, es wird mächtig bleiben, was auch geschehen mag. Wir müssen Rußland verteidigen. Wir müssen zeigen, daß wir die Vorkämpfer eines großen Ideals sind und Kinder einer großen Nation.“

Befriedigt war niemand. Den Reaktionären war es um eine starke imperialistische Politik zu tun, und die demokratischen Parteien wollten die Garantie haben, daß die Regierung nichts unversucht lassen würde, um zum Frieden zu gelangen. Hier ein Artikel aus „Rabotschi i Soldat“ (Arbeiter und Soldat), dem Organ des bolschewistischen Petrograder Sowjets:

„Was die Regierung den Schützengräben zu sagen hat!

Der schweigsamste unserer Minister, Herr Tereschtschenko, hat endlich die Sprache gefunden, um den Schützengräben das Folgende mitzuteilen:

  1. Wir sind auf das engste verbündet mit unseren Alliierten (nicht mit den Völkern, sondern mit den Regierungen).
  2. Es ist zwecklos für die Demokratie, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Winterfeldzuges zu diskutieren. Darüber entscheiden die Regierungen unserer Verbündeten.
  3. Die Julioffensive war nützlich, und sie war eine sehr glückliche Sache. (Kein Wort über die Folgen!)
  4. Es ist nicht wahr, daß sich unsere Verbündeten nicht um uns sorgen. Der Minister ist im Besitz sehr wichtiger Erklärungen. (Erklärungen? Wie ist’s mit den Taten? Das Verhalten der britischen Flotte? [9*] Die Unterredung des englischen Königs mit dem landesflüchtigen konterrevolutionären General Gurko? Alles dies ließ der Minister unerwähnt.)
  5. Der Nakas Skobelews taugt nichts; unsere Verbündeten wollen davon nichts wissen, auch die russischen Diplomaten wollen ihn nicht. In der Alliiertenkonferenz müssen alle eine Sprache sprechen.

Und das ist alles? – Das ist alles. Wo ist der Ausweg? – Vertrauen zu den Alliierten und zu Tereschtschenko! Wann wird der Friede kommen? – Wenn die Alliierten es erlauben!

Das ist die Antwort der Regierung auf die Frage der Schützengräben nach dem Frieden.“
 

Da tauchte – vorläufig noch in unklaren umrissen – im Hintergrunde der russischen Politik eine gefährliche Macht auf: die Kosaken. Nowaja Shisn (Neues Leben), die Zeitung Gorkis, machte auf ihre Tätigkeit aufmerksam:

„Zu Beginn der Revolution weigerten sich die Kosaken, auf das Volk zu schießen. Als Kornilow auf Petrograd marschierte, folgten sie ihm nicht. In der letzten Zeit hat sich ihre Rolle etwas geändert. Von der passiven Loyalität zur Revolution sind sie zu einer aktiven politische Offensive (gegen sie ) übergegangen ...“

Kaledin, der Ataman der Donkosaken, von der Provisorischen Regierung wegen seiner Beteiligung an dem Kornilowabenteuer seines Postens enthoben, weigerte sich zu gehen, und von drei riesigen Armeen umgeben, lagerte er intrigierend und drohend bei Nowotscherkassk. So groß war seine Macht, daß die Regierung seiner Gehorsamsverweigerung gegenüber die Augen verschließen mußte. Ja, mehr als das, sie sah sich gezwungen, den Rat des Verbandes der Kosakenarmee anzuerkennen und die neugebildeten Kosakensektionen der Sowjets für ungesetzlich zu erklären.

In der ersten Oktoberhälfte erschien eine Kosakendelegation bei Kerenski, die in arrogantem Ton die Niederschlagung der gegen Kaledin gerichteten Anklagen forderte und dem Ministerpräsidenten den Vorwurf machte, zu nachgiebig gegenüber den Sowjets gewesen zu sein. Kerenski erklärte sich bereit, Kaledin ungeschoren zu lassen. Außerdem soll er sich wie folgt geäußert haben:

„In den Augen der Sowjetführer bin ich ein Despot und Tyrann ... Die Provisorische Regierung hängt nicht nur nicht von den Sowjets ab, sie bedauert im Gegenteil, daß diese überhaupt existieren.“

Gleichzeitig erschien eine andere Kosakenabordnung bei dem englischen Gesandten und hatte die Kühnheit, mit ihm als Vertreter des „freien Kosakenvolkes“ zu verhandeln.

Im Dongebiet war eine Art Kosakenrepublik gebildet worden. Das Kubangebiet proklamierte sich als unabhängiger Kosakenstaat. Die Sowjets von Rostow am Don und Jekaterinenburg waren von bewaffneten Kosaken auseinandergejagt und der Hauptsitz des Bergarbeiterverbandes in Charkow überfallen worden. In allen diesen Manifestationen zeigte die Kosakenbewegung ihren antisozialistischen und militaristischen Charakter. Ihre Führer waren Adlige und große Grundbesitzer von der Art Kaledins, Kornilows, des Generals Dutow, Karaulows und Bardishis, sie hatten die Unterstützung der mächtigen Kaufleute und Bankiers Moskaus ...

Das alte Rußland begann mit großer Schnelligkeit auseinanderzufallen. In Finnland, in Polen, in der Ukraine und Weißrußland wuchsen die nationalistischen Bewegungen und wurden kühner. Die unter dem Einfluß der besitzenden Klassen stehenden lokalen Regierungen forderten Autonomie und weigerten sich, den Anordnungen Petrograds Folge zu leisten. In Helsingfors lehnte das finnische Parlament es ab, der Provisorischen Regierung Geld zu leihen, proklamierte die Selbstständigkeit Finnlands und verlangte die Zurückziehung der russischen Truppen. Die bürgerliche Rada in Kiew zog die Grenzen der Ukraine so weit, daß sie die reichsten Agrargebiete Südrußlands, östlich bis zum Ural hin, umfaßten, und begann mit der Aufstellung einer eigenen Armee. Ihr Ministerpräsident Winnitschenko arbeitete auf einen Sonderfrieden Mit Deutschland hin, und die Provisorische Regierung war hilflos. Sibirien und der Kaukasus forderten ihre besonderen konstituierenden Versammlungen, und in allen diesen Ländern begann ein verzweifelter Kampf zwischen den Regierungen und den lokalen Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.

Die Verwirrung wurde mit jedem Tag größer. Die Soldaten desertierten zu Hunderttausenden und begannen in ungeheuren Wellen plan- und ziellos über das Land zu fluten. Die Bauern der Gouvernements Tambow und Twer, des langen Wartens auf das ihnen versprochene Land müde und durch die Gewaltmaßregeln der Regierung in Verzweiflung gebracht, brannten die Gutshäuser nieder und massakrierten die Gutsbesitzer. In Moskau, Odessa und in den Kohlebergwerken des Donezbeckens mächtige Streiks und Aussperrungen. Der Transport war lahmgelegt, die Armee hungerte, und in den großen Städten gab es kein Brot.

Die Regierung, hin- und hergerissen zwischen den reaktionären und demokratischen Parteien, konnte nichts tun, und wo sie gezwungenermaßen eingriff, geschah es stets im Interesse der besitzenden Klassen. Sie bot die Kosaken auf, um die Bauern zur Räson zu bringen und die Streiks niederzuschlagen. In Taschkent unterdrückten die Behörden den Sowjet. In Petrograd hatte sich der Wirtschaftsrat, dessen Aufgabe es sein sollte, das Wirtschaftsleben des Landes wiederherzustellen, zwischen den feindlichen Kräften von Kapital und Arbeit festgefahren und wurde von Kerenski aufgelöst. Die Militärs des alten Regimes, die von den Kadetten gestürzt wurden, forderten strenge Maßnahmen, um die Disziplin in Armee und Flotte wiederherzustellen. Umsonst wiesen der Marineminister, Admiral Werderewski, und der Kriegsminister, General Werchowski, darauf hin, daß nur neue, freiwillige, auf der Zusammenarbeit mit den Soldaten- und Matrosenkomitees basierende demokratische Disziplin die Armee und die Flotte retten könnte. Ihre Vorschläge wurden nicht beachtet.

Die Reaktion war offenbar darauf aus, die Volksmassen zu provozieren. Der Kornilow-Prozeß rückte näher und näher; immer unverhüllter nahm die bürgerliche Presse für den General Partei. Sie sprach von ihm als von dem „großen russischen Patrioten“. Burzews Zeitung Obschtscheje Delo (Die gemeinsame Sache) erhob offen den Ruf nach einer Diktatur „Kornilow–Kaledin–Kerenski“.

Mit Burzew, einem kleinen, gebückt gehenden Mann mit einem Gesicht voller Runzeln und kurzsichtigen Augen hinter dicken Brillengläsern, struppigem Haar und ergrautem Bart, hatte ich eines Tages eine Unterredung in der Pressegalerie des Rates der Republik.

„Hören Sie mir zu, junger Mann! Was Rußland braucht ist ein starker Mann. Wir sollten unser Denken endlich von der Revolution frei machen und auf die Deutschen konzentrieren. Politische Pfuscher haben Kornilow gestürzt; aber hinter diesen Pfuschern stehen deutsche Agenten. Ah! Kornilow hätte gewinnen sollen ...“

Auf der Äußersten Rechten traten die Organe der kaum verhüllten Monarchisten, Purischkewitschs Narodny Tribun (Der Volkstribun), Nowaja Rus (Das neue Rußland), Shiwoje Slowo (Lebendiges Wort), offen für die Ausrottung der revolutionären Demokratie ein.

Am 23. Oktober fand im Golf von Riga eine Seeschlacht mit einem deutschen Geschwader statt. Unter dem Vorwand, daß Petrograd in Gefahr sei, bereitete die Regierung die Räumung Petrograds vor. Zuerst sollten die großen Munitionswerke verlegt und über das ganze Rußland verteilt werden; dann wollte die Regierung selbst nach Moskau gehen. Die Bolschewiki wiesen sofort darauf hin, daß die Regierung die rote Hauptstadt nur preisgebe, um die Revolution zu schwächen. Man hatte Riga an die Deutschen verkauft; jetzt sollte Petrograd verraten werden!

Die bürgerliche Presse jubelte. „In Moskau“, so erklärte das Kadettenblatt Retsch (Die Rede), „wird die Regierung in einer ruhigeren Atmosphäre arbeiten können, ohne fortwährend von Anarchisten gestört zu werden.“ Rodsjanko, der Führer des rechten Flügels der Kadetten, erklärte in Utro Rossii (Rußlands Morgen), daß die Einnahme Petrograds durch die Deutschen ein Segen wäre, da diese die Sowjets zerstören und die revolutionäre Baltische Flotte erledigen würden.

Petrograd ist in Gefahr“, schrieb er. „Ich sage mir, ‚überlassen wir Petrograd unserem Herrgott‘. Sie fürchten, wenn Petrograd verloren ist, dann werden auch die zentralen revolutionären Organisationen vernichtet werden. Dazu sage ich, daß ich überglücklich sein werde, wenn all diese Organisationen vernichtet sind; denn sie werden nichts als Unglück über Rußland bringen ...

Mit dem Fall Petrograds wird auch die Baltische Flotte vernichtet werden ... Aber das braucht uns nicht leid zu tun; die meisten Kriegsschiffe sind ohnehin völlig demoralisiert ...“

Angesichts des Protestes der Volksmassen mußte die Regierung ihren Plan, Petrograd zu verlassen, jedoch aufgeben.

Währenddem hing, einer von Blitzen durchzuckten Gewitterwolke gleich, drohend über Rußland der Kongreß der Sowjets, bekämpft nicht nur von der Regierung, sondern auch von allen „gemäßigten“ Sozialisten. Die zentralen Armee- und Flottenkomitees, die Zentralkomitees einiger Gewerkschaften, die Bauernsowjets, vor allem aber das Zentralexekutivkomitee der Sowjets selbst sparten keine Mühe, um das Zustandekommen des Kongresses zu verhindern. Die Zeitungen Iswestija und Golos Soldata (Die Stimme des Soldaten), ursprünglich von dem Petrograder Sowjet gegründet, aber jetzt im Besitz des Zentralexekutivkomitees der Sowjets, griffen ihn heftig an; die gesamte sozialrevolutionäre Presse, Delo Naroda (Die Sache des Volkes) und Wolja Naroda (Volkswille), entfesselten ein wahres Trommelfeuer gegen ihn.

Der Telegraf arbeitete, Delegierte wurden im Land umhergeschickt, mit Anweisungen für die Komitees der lokalen Sowjets, für die Armeekomitees, die Wahlen für den Kongreß einzustellen oder zu verzögern. Feierliche öffentliche Resolutionen gegen den Kongreß wurden gefaßt, Erklärungen, daß die demokratischen Elemente sich der Abhaltung des Kongresses so unmittelbar vor dem Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung widersetzten; Vertreter der Frontsoldaten, der Semstwoverbände, der Bauern, des Verbandes der Kosakenarmeen, des Offiziersbundes, der „Ritter des heiligen Georg“, der „Todesbataillone“ [C] – alle waren sie vereinigt in einem einzigen großen Protest ... Im Rat der Russischen Republik gab es nicht eine Stimme, die sich für den Kongreß einsetzte. Der ganze, von der russischen Märzrevolution geschaffene Apparat funktionierte, um die Abhaltung des Sowjetkongresses zu verhindern.

Demgegenüber stand der vorläufig noch formlose Wille des Proletariats – der Arbeiter, einfachen Soldaten und armen Bauern. Viele der lokalen Sowjets waren bereits bolschewistisch; daneben bestanden die Organisationen der Industriearbeiter, die Fabrikkomitees, und die revolutionären Organisationen der Armee und Flotte. In einigen Orten hielten die Massen, an der regulären Wahl ihrer Sowjetdelegierten verhindert, Rumpfversammlungen ab, in denen sie aus ihrer Mitte heraus einen bestimmten, der nach Petrograd zu gehen hatte. In anderen jagten sie die alten, Obstruktion treibenden Komitees auseinander und bildeten neue. Die Kruste, die sich an der Oberfläche der seit Monaten schlummernden revolutionären Glut gebildet hatte, kam in Bewegung und begann bedenklich zu krachen. Nur eine solche spontane Massenbewegung konnte den Gesamtrussischen Sowjetkongreß bringen.

Und die bolschewistischen Redner schleuderten Tag für Tag in allen Kasernen und Fabriken die heftigsten anklagen gegen die „Regierung des Bürgerkrieges“. Eines Sonntags fuhren wir auf einem über Ozeane von Schmutz rumpelnden ungefügen Straßenbahnwagen, an steif dastehenden Fabriken und riesigen Kirchen vorbei, zum Obuchow – Werk, einer staatlichen Munitionsfabrik jenseits des Schlüsselburg-Prospekts.

Die Versammlung fand zwischen den ungeputzten Mauern eines mächtigen, im Bau unterbrochenen Hauses statt. Wohl an die Zehntausend dunkelgekleidete Männer und Frauen drängten sich um eine rotdrapierte Tribüne, saßen auf Balken oder Steinhaufen oder thronten auf hohen Gerüsten, voll grimmiger Entschlossenheit und ihren Willen mit Donnerstimme hinausschreiend. Durch den trüben, wolkenschweren Himmel brach dann und wann die Sonne und goß durch die leeren Fensteröffnungen einen rötlichen Schimmer über die zu uns aufgekehrten einfachen Gesichter.

Lunatscharski, eine schmächtige, studentenhafte Erscheinung mit einem sensitiven Künstlerantlitz, setzte auseinander, warum die Sowjets unter allen Umständen die Macht übernehmen müßten. Niemand anders könnte die Revolution gegen ihre Feinden schützen, die mit Vorbedacht das Land und die Armee zugrunde richteten und einem neuen Kornilow das Feld bereiteten.

Ein Soldat sprach, von der rumänischen Front, abgemagert, voll bebender Leidenschaft:

„Genossen, wir hungern an der Front, wir frieren, wir sterben und wissen nicht wofür. Ich bitte die amerikanischen Genossen, es in Amerika zu sagen, daß wir Russen unsere Revolution bis zum Tode verteidigen werden. Wir werden alles daran halten, unsere Feste zu halten, bis die Massen der ganzen Welt sich erheben werden, um uns zu Hilfe zu eilen. Sagt den amerikanischen Arbeitern, daß sie aufstehen mögen zum Kampf für die soziale Revolution!“

Petrowski redete, hart, unerbittlich:

„Jetzt ist keine Zeit für Worte, jetzt muß gehandelt werden. Die ökonomische Situation ist schlecht, aber wir müssen uns daran gewöhnen. Sie versuchen uns auszuhungern, im Frost umkommen zu lassen. Sie wollen uns provozieren. Aber sie sollen wissen, daß sie darin zu weit gehen können – daß, wenn sie es wagen sollte, an die Organisationen des Proletariats zu rühren, wir sie vom Antlitz der Erde wegfegen werden!“

Die bolschewistische Presse wuchs plötzlich an. Neben den zwei Parteizeitungen Rabotschi Put und Soldat erschien eine neue Zeitung für die Bauern, Derewenskaja Bednota (Die Dorfarmut), die in eine Auflage von einer halben Million herauskam, und am 17. Oktober Rabotschi i Soldat. Dessen Leitartikel faßte den bolschewistischen Standpunkt wie folgt zusammen:

„Ein viertes Kriegsjahr wird die Vernichtung der Armee und des Landes bedeuten ... Petrograd ist bedroht ... Die Konterrevolution freut sich über das Unglück des Volkes ... Die zur Verzweiflung gebrachten Bauern gehen zum offenen Aufstand über; die Großgrundbesitzer und die Regierungsbehörden schicken blutige Strafexpeditionen gegen sie aus; Betriebe werden geschlossen, den Arbeiter droht der Hungertod ... Die Bourgeoisie und ihre Generale wollen eine blinde Disziplin in der Armee wiederherstellen ... Von der Bourgeoisie unterstützt, bereiten sich die Kornilowleute offen darauf vor, den Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung zu verhindern ... Die Kerenskiregierung ist gegen das Volk. Sie wird das Land zugrunde richten ... Wir stehen auf seiten des Volkes und bei dem Volk – bei den besitzlosen Klassen, den Arbeitern, Soldaten und Bauern. Das Volk kann nur durch die Vollendung der Revolution gerettet werden....Und zu diesem Zweck muß die gesamte Macht in die Hände der Sowjets übergehen ... Wir treten für folgende Forderungen ein:

Hier noch eine interessante Stelle aus demselben Organ der Bolschewiki, die in der ganzen Welt als deutsche Agenten bezeichnet wurden:

„Der deutsche Kaiser, an dessen Händen das Blut von Millionen Gefallener klebt, will seine Armee gegen Petrograd schicken. Man muß an die deutschen Arbeiter appellieren, an die Soldaten und Bauern, die den Frieden nicht weniger wünschen als wir, daß sie aufstehen mögen gegen diesen verdammten Krieg!

Das kann jedoch nur eine revolutionäre Regierung tun, die wirklich im Namen der Arbeiter, Soldaten und Bauern Rußlands spricht, die über die Köpfe der Diplomaten hinweg sich direkt an die deutschen Truppen wendet, die die deutschen Schützengräben mit Proklamationen in deutscher Sprache überschwemmen würde ... Unsere Flieger würden diese Proklamationen in ganz Deutschland abwerfen ...“

Im Rat der Russischen Republik vertiefte sich der Riß mit jedem Tage mehr.

„Die besitzenden Klassen“, erklärte Karelin für die linken Sozialrevolutionäre, „sind bestrebt , den revolutionären Staatsapparat auszunützen, um Rußland an den Kriegswagen der Alliierten zu binden. Die revolutionären Parteien sind entschiedene Gegner dieser Politik ...“

Der alte Nikolai Tschaikowski, der Vertreter der Volkssozialisten, sprach gegen die Übergabe des Landes an die Bauern und stellte sich auf die Seite der Kadetten:

„In der Armee muß sofort die straffeste Disziplin hergestellt werden ... Ich habe seit dem Beginn des Krieges nicht aufgehört zu erklären, daß ich es als ein Verbrechen betrachte, soziale und wirtschaftliche Reformen durchzuführen, solange der Krieg währt. Wir begehen jetzt dieses Verbrechen. Trotzdem bin ich kein Gegner dieser Reformen; denn ich bin Sozialist.“

Von links antworten ihm heftige Zurufe: „Wir glauben Ihnen nicht.“ Rechts findet er mächtigen Beifall.

Für die Kadetten erklärte Adshemow, daß es nicht notwendig sei, den Soldaten zu sagen, wofür sie kämpften, da jeder Soldat wissen müsse, daß es vor allem darauf ankomme, die Feinde Rußlands aus dem Land zu jagen.

Kerenski selber erschien zweimal, um einen leidenschaftlichen Appell für die nationale Einheit an die Kammer zu richten, einmal sogar am Schlusse seiner Rede in Tränen ausbrechend. Er wurde mit Eiseskälte angehört und oft durch ironische Zwischenrufe unterbrochen.
 

Das Smolny-Institut, der Hauptsitz des Zentralexekutivkomitees der Sowjets und des Petrograder Sowjets, lag einige Kilometer außerhalb der Stadt, am Ufer der mächtigen Newa. Ich fuhr dorthin in einer Art Omnibus, der in schneckengleichem Tempo und knarrend über das miserable und schmutzige Pflaster der kolossal belebten Straße holperte. Am Ende des Weges erhob sich in wunderbarer Grazie die rauchblaue, mit mattem Gold verzierte Kuppel des Smolny-Klosters; daneben die an eine Kaserne erinnernde Fassade des Smolny-Instituts, sechshundert Fuß lang und drei mächtige Stockwerk hoch, über dem Eingang immer noch riesengroß das in Stein gehauene kaiserliche Wappen.

Unter dem alten Regime eine berühmte Klosterschule für die Töchter des russischen Adels und unter dem Patronat der Zarin selber stehend, wurde das Institut nach der Umwälzung von den revolutionären Organisationen der Arbeiter und Soldaten übernommen. In seinem Innern befinden sich über hundert große Zimmer, weiß und schmucklos. Kleine weiße Emailleschildchen weisen den Vorübergehenden darauf hin, welcher Bestimmung einst die einzelnen Zimmer dienten. „Damenklassenzimmer Nr.4“, lese ich, oder „Büro für das Lehrpersonal“ usw. Darüber aber hängen mit ungeschickten Schriftzeichen Tafeln, die Merkmale der neuen Ordnung: „Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets“, „Zentralexekutivkomitee der Sowjets“ und „Büro des Auswärtigen“, „Verband sozialistischer Soldaten“, „Zentralrat der Gesamtrussischen Gewerkschaften“, „Fabrikkomitees“, „Zentrales Armeekomitee“ und das Zentralbüro und Fraktionszimmer der politischen Parteien.

In den langen, gewölbten, von wenigen elektrischen Birnen erhellten Korridoren geschäftig hin- und hereilende Soldaten und Arbeiter, einige tief gebeugt unter der Last riesiger Bündel Zeitungen, Proklamationen, Propagandaschriften aller Art; mit dem Aufklappen ihrer schweren Stiefel verursachten sie ein tiefes, unaufhörliches Getöse auf dem hölzernen Fußboden. Überall waren Plakate: „Genossen! Im Interesse eurer Gesundheit, achtet auf Reinlichkeit!“ In jeder Etage, auf allen Treppenabsätzen standen lange Tische, bedeckt mit Flugschriften und Literatur der verschiedenen politischen Parteien, die zum Verkauf auslagen.

Der im Erdgeschoß gelegene, sehr geräumige, aber niedrige Speisesaal des einstigen Klosters diente auch jetzt seinem alten Zweck. Für zwei Rubel kaufte ich einen Bon, der mir Anrecht auf ein Mittagessen gab, und schloß mich einer wohl tausend Personen langen Reihe an, um Schritt für Schritt den großen Serviertischen näher zu kommen, wo zwanzig Männer und Frauen aus mächtigen Kesseln Kohlsuppe, Fleisch, ganze Berge Kascha (Brei) und Stücke schwarzen Brotes verteilten. Für fünf Kopeken gab es einen Zinnbecher Tee. Einem zur Hand stehenden Korb entnahm man einen fettigen Holzlöffel ... An den hölzernen Tischen drängten sich auf den Bänken hungrige Proletarier, die ihr Brot verzehrten, diskutierten und den weiten Raum mit ihren derben Späßen erfüllten.

In der oberen Etage war ein weiterer Eßraum für das Zentralexekutivkomitee der Sowjets reserviert, wenngleich hinging, wer wollte. Hier gab es dick mit Butter belegtes Brot und Tee in unbeschränkten Mengen.

Im Südflügel befand sich in der zweiten Etage der große Sitzungssaal, der ehemalige Ballsaal des Instituts. Ein prächtiger, ganz in weiß gehaltener Raum, von weißglasierten Leuchtern mit Hunderten elektrischer Lampen erhellt und durch zwei Reihen massiver Säulen geteilt; an dem einen Ende eine Balustrade, von zwei hohen, vielverzweigten Leuchtern flankiert, dahinter ein goldener Rahmen, aus dem man das Porträt des Zaren herausgeschnitten hatte. Hier hatten bei festliche Anlässen in fürstlicher Umgebung die Galauniformen und geistliche Gewänder geprangt.

Auf der anderen Seite des Saals befand sich das Büro der Mandatsprüfungskomission für den Sowjetkongreß. Hier stand ich und musterte die neuangekommenen Delegierten: bärtige Soldaten, Arbeiter in schwarzen Blusen, einige wenige langhaarige Bauern. Das den Dienst versehende Mädchen, ein Mitglied der Plechanowgruppe [D], lächelte verächtlich. „Wie verschieden sind diese Leute von den Delegierten des ersten Kongresses“, bemerkte sie. „Sehen Sie nur, wie roh und unwissend sie aussehen. Das sind die dunkelsten Schichten des russischen Volkes ...“ Sie hatte recht. Rußland war bis zum Grunde aufgewühlt, und das unterste war zuoberst gekehrt. Die Mandatsprüfungskomission, noch von dem alten Zentralexekutivkomitee der Sowjets eingesetzt, wies einen nach dem anderen die Delegierten als nicht ordnungsgemäß gewählt zurück. Aber Karachin vom Zentralkomitee der Bolschewiki lächelte nur: „Unbesorgt, wenn die Zeit herankommt, werden wir schon sehen, daß ihr eure Sitze bekommt.“

Rabotschi i Soldat schrieb:

„Die Aufmerksamkeit der Delegierten zum Gesamtrussischen Kongreß sei auf die Versuche gewisser Mitglieder des Organisationskomitees gelenkt, das Stattfinden des Kongresses zu hintertreiben, indem sie behaupten, daß er nicht stattfinden werde und daß die Delegierten gut daran tun würden, Petrograd zu verlassen ... Schenkt diesen Lügen keinen Glauben ... Große Tage nahen heran ...“

Da es mittlerweile zweifellos war, daß der Kongreß bis zum 2. November nicht vollständig beisammen sein würde, vertagte man seine Eröffnung auf den 7. November. Das ganze Land war jetzt aber in Bewegung, und die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, als sie ihre Niederlage erkannten, änderten plötzlich ihre Taktik und gaben ihren Provinzialorganisationen telegrafische Anweisungen, soviel gemäßigte sozialistische Delegierte zum Kongreß zu wählen, wie ihnen noch möglich wäre. Gleichzeitig berief das Exekutivkomitee der Bauernsowjets einen außerordentlichen Bauernkongreß für den 13. Dezember ein, der alle eventuellen Aktionen der Arbeiter und Soldaten wieder abbiegen sollte.

Die Frage war: Was werden die Bolschewiki tun? Gerüchte liefen um, daß sie eine bewaffnete Demonstration der Arbeiter und Soldaten planten. Die bürgerliche und reaktionäre Presse sagte einen Aufstand voraus und forderte von der Regierung die Verhaftung des Petrograder Sowjets oder zum mindesten die Verhinderung des Kongreßzusammentritts. Blätter wie Nowaja Rus gingen bis zur Aufforderung zu einem Bolschewistengemetzel.

Gorkis Blatt Nowaja Shisn war ebenso wie die Bolschewiki der Meinung, daß die Reaktionäre die Revolution zunichte machen wollten und daß man ihnen, falls notwendig, bewaffneten Widerstand entgegensetzen müsse; alle revolutionären demokratische Parteien Müßten jedoch als eine geeinte Front auftreten.

„Solange die Demokratie ihre Hauptkräfte noch nicht mobilisiert hat, solange der Widerstand gegen ihren Einfluß noch stark ist, sollte man nicht zum Angriff übergehen. Wenn aber die gegnerischen Kräfte zur Gewalt greifen, dann sollte die revolutionäre Demokratie den Kampf um die Macht aufnehmen, dann wird sie von den breitesten Schichten des Volkes unterstützt werden.“

Gorki stellte fest, daß sowohl die reaktionäre als auch die Regierungspresse die Bolschewiki zur Gewalt provozierten. Indessen konnte seiner Meinung nach der Aufstand nur einem neuen Kornilow nützlich sein, und er forderte die Bolschewiki auf, die umlaufenden Gerüchte zu dementieren. Im menschwistischen Den (Der Tag) veröffentlichte Potressow einen sensationell aufgemachten Bericht mit einer Karte, der angeblich den geheimen bolschewistischen Kriegsplan enthüllen sollte.

Wie durch Zauberei waren alle Straßenzüge mit Warnungen, Proklamationen, Aufrufen [10*] der Zentralkomitees der „gemäßigten“ und konservativen Parteien und des Zentralexekutivkomitees der Sowjets bedeckt, die die Demonstration verurteilten und die Arbeiter und Soldaten dringend aufforderten, den Hetzern keine Folge zu leisten. Hier ein solcher Aufruf der Militärabteilung der Sozialrevolutionären Partei:

„Wieder gehen in der Stadt Gerüchte um über eine beabsichtigte bewaffnete Demonstration. Wo ist die Quelle dieser Gerüchte? Welche Organisation ermächtigt diese Agitatoren, den Aufstand zu predigen? Die Bolschewiki leugneten auf eine im Zentralexekutivkomitee an sie gerichtete Frage, daß sie irgend etwas damit zu tun hätten ... Doch diese Gerüchte bergen eine große Gefahr in sich. Es kann leicht geschehen, daß einzelne unverantwortliche Hitzköpfe, die keine rechte Vorstellung von der geistigen Verfassung der Mehrheit der Arbeiter, Soldaten und Bauern haben, die Arbeiter und Soldaten auf die Straße rufen und sie zu einer Erhebung aufhetzen ... In dieser fürchterlichen Zeit, die das revolutionäre Rußland durchlebt, kann jede Erhebung leicht zum Bürgerkrieg führen und das Ergebnis die Zerstörung aller mit so viel Arbeit aufgebauten Organisationen des Proletariats sein ... Die konterrevolutionären Verschwörer wollen die Erhebung ausnutzen, um die Revolution zu zerstören, im Interesse Wilhelms die Front zu öffnen und die Konstituierende Versammlung zu verhindern ... Bleibt auf euren Posten! Geht nicht auf die Straße!“

Am 28. Oktober sprach ich in dem Korridor des Smolny Kamenew, einen kleinen Mann mit rötlichem Spitzbart und gallischer Beweglichkeit. Er war noch keineswegs sicher, ob genug Delegierte zum Kongreß erscheinen würden:

„Sollte der Kongreß zustande kommen, dann wird er auch die überwältigende Mehrheit des Volkes repräsentieren. Und ist die Mehrheit eine bolschewistische, wie ich überzeugt bin, daß sie es sein wird, dann werden wir die Übernahme der Macht durch die Sowjets fordern, und die Provisorische Regierung wird zurücktreten müssen.“

Wolodarski, ein hochgewachsener blasser Jüngling mit einer Brille und ungesunder Gesichtsfarbe, war in seinen Äußerungen bestimmter:

„Liber, Dan und die anderen Kompromißler sabotieren den Kongreß. Sollte es ihnen gelingen, sein Zusammentreten zu verhindern, nun – dann werden wir real genug sein, nicht von ihm abzuhängen.“

In meinen Papieren finde ich unter dem 24. Oktober folgende, den Zeitungen vom gleichen Tage entnommene Notizen:

Mogiljow (Generalstabsquartier). Konzentrierung treuer Garderegimenter, der ‚Wilden Division‘, der Kosaken und der Todesbataillone.

Die Offiziersschüler von Pawlowsk, Zarskoje Selo und Peterhof von der Regierung nach Petrograd beordert. Ankunft der Schüler von Oranienbaum in der Stadt.

Teilweise Stationierung der Panzerwagendivision der Petrograder Garnison im Winterpalast.

Auf Befehl Trotzkis Auslieferung einiger Tausend Gewehre an die Delegierten der Petrograder Arbeiter durch die staatliche Waffenfabrik in Sestrorezk.

Annahme einer Resolution in einer Versammlung der Stadtmiliz des unteren Litejnyviertels, die die Übergabe der gesamten Macht an die Sowjets fordert.“

Das sind nur einige Proben von den verwirrenden Ereignissen jener fiebrigen Tage, da jeder ahnte, daß sich etwas vorbereitete, aber niemand wußte, was.

In einer Sitzung des Petrograder Sowjets im Smolny, in der Nacht des 30. Oktober, brandmarkte Trotzki die Behauptungen der bürgerlichen Presse, daß der Sowjet den bewaffneten Aufstand plane, als „einen Versuch der Reaktion, den Sowjetkongreß zu diskreditieren und zu verhindern ... Der Petrograder Sowjet“, erklärte er, „hat keine Aktion angeordnet. Sollte dies notwendig werden, werden wir es tun, und wir werden die Unterstützung der Petrograder Garnison haben ... Sie (die Regierung) bereitet die Konterrevolution vor; wir werden darauf mit einer Offensive antworten, die erbarmungslos und entscheidend sein wird.“

Es ist richtig, daß der Petrograder Sowjet keine bewaffnete Demonstration angeordnet hatte, aber das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei diskutierte die Frage des Aufstandes.

Am 23. Oktober tagte das Zentralkomitee die ganze Nacht. Anwesend waren alle Intellektuellen der Partei, die Führer, und die Delegierten der Petrograder Arbeiter und der Garnison. Von den Intellektuellen waren nur Lenin und Trotzki für den Aufstand.

Selbst die Militärfachleute lehnten ihn ab. Es wurde eine Abstimmung vorgenommen und der Aufstand verworfen.

Da aber erhob sich mit wutverzerrten Zügen ein Arbeiter: „Ich spreche für das Petrograder Proletariat“, stieß er rauh hervor. „Wir sind für den Aufstand, macht, was ihr wollt. Aber das eine sage ich euch, wenn ihr gestattet, daß die Sowjets auseinandergejagt werden, dann sind wir mit euch fertig.“ Einige Soldaten schlossen sich dieser Erklärung an ... Eine zweite Abstimmung wurde vorgenommen und – der Aufstand beschlossen.

Der rechte Flügel der Bolschewiki unter Rjasanow, Kamenew und Sinowjew fuhr trotzdem fort, gegen die bewaffnete Erhebung zu polemisieren. Am Morgen des 31. Oktober [5] erschien im Rabotschi Put der erste Teil von Lenins Brief an die Genossen [11*], eine der kühnsten politischen Propagandaschriften, die die Welt je gesehen. Als Text die Einwendungen Kamenews und Rjasanows nehmend, trug Lenin hier alle Argumente zusammen, die zugunsten des Aufstandes sprachen.

„Entweder“, schrieb er, „offener Verzicht auf die Losung ‚Alle Macht den Sowjets‘ oder Aufstand. Einen Mittelweg gibt es nicht.“

Am selben Nachmittag hielt in dem Rat der Russischen Republik der Kadettenführer Miljukow eine scharfe Rede [12*], in der er den „Nakas„ Skobelews als „prodeutsch“ bezeichnete und erklärte, daß die „revolutionäre Demokratie“ im Begriff sei, Rußland zugrunde zu richten. Er machte sich über Tereschtschenko lustig und sprach es offen aus, daß er die deutsche Diplomatie der russischen vorziehe. Während seiner ganzen Rede herrschte auf den linken Bänken wilder Tumult.

Die Regierung ihrerseits konnte sich der Bedeutung des Erfolges der bolschewistischen Propaganda nicht verschließen. Am 29. Entwarf eine gemeinsame Komission der Regierung und des Rates der Russischen Republik in aller Hast zwei neue Gesetze, deren eines die vorübergehende Übergabe des Landes an die Bauern bestimmte, während das andere die Einleitung einer energischen auswärtigen Friedenspolitik bedeuten sollte. Einen Tag darauf beseitigte Kerenski die Todesstrafe in der Armee. Am selben Nachmittag erfolgte die feierliche Eröffnung der ersten Sitzung der „Kommission zur Festigung des republikanischen Regimes und Bekämpfung der Anarchie und Konterrevolution“, die allerdings in der ferneren Entwicklung nicht die geringsten Spuren hinterlassen hat ... Am folgenden Morgen interviewte ich, zusammen mit zwei anderen Journalisten, Kerenski [13*] – das letztemal, daß dieser Journalisten empfing.

„Das russische Volk“, meinte er bitter, „leidet unter seiner ökonomische Ermattung und den Enttäuschungen, die die Alliierten ihm bereiteten! Die Welt gibt sich dem Wahn hin, daß die russische Revolution zu Ende sei. Irre man sich nicht. Die russische Revolution steht erst an ihrem Beginn.“

Worte, prophetischer, als er es selbst geahnt haben mochte.

Am 30. Oktober fand eine die ganze Nacht währende ungemein stürmische Sitzung des Petrograder Sowjets statt, auf der ich zugegen war. Die „gemäßigten“ sozialistischen Intellektuellen, Offiziere, Armeekomitees, das Zentralexekutivkomitee der Sowjets waren zahlreich erschienen. Gegen sie erhoben sich, leidenschaftlich und einfach, die Arbeiter, Bauern und niederen Soldaten.

Ein Bauer berichtete von den Unruhen in Twer, die, wie er sagte, durch die Verhaftung des Bodenkomitees verursacht waren.

„Dieser Kerenski“, rief er, „ist nichts anderes als ein Schild für die Grundbesitzer, die wissen, daß auf der Konstituierenden Versammlung wir uns das Land irgendwie nehmen werden, und die diese darum unmöglich machen wollen.“

Ein Maschinist aus den Putilow-Werken schilderte, wie die Direktion die Abteilungen, eine nach der anderen, schließe, unter dem Vorwande, daß man weder Feuerung noch Rohmaterialien habe, währenddessen die Fabrikkomitees riesige Mengen an Materialien entdeckt hätten, die versteckt worden waren.

„Das ist Provokation“, sagte er, „Man will uns aushungern oder zur Gewalt treiben!“

Ein Soldat begann mit den Worten:

„Genossen! Ich überbringe euch Grüße von dorther, wo Männer ihre eigenen Gräber schaufeln und diese Schützengräben nennen.“

Dann erhob sich, von mächtigem Beifallssturm begrüßt, ein langer, hagerer, noch junger Soldat. Es war Tschudnowski, als in den Julikämpfen gefallen gemeldet und jetzt mit einem Male von den Toten auferstanden:

„Die Soldatenmassen trauen ihren Offizieren nicht mehr. Sogar die Armeekomitees, die es ablehnten, unsern Sowjet einzuberufen, haben uns verraten. Die Massen der Soldaten bestehen auf dem Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung genau an dem Tag, für den sie einberufen war. Die es wagen sollten, sie hinauszuschieben, werden ihre Strafe finden, und nicht nur platonisch - die Armee hat auch Kanonen.“

Er berichtete von der im Augenblick in der Fünften Armee geführten Wahlkampagne für die Konstituierende Versammlung.

„Die Offiziere, und besonders die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, tun alles, um die Wahltätigkeit der Bolschewiki unmöglich zu machen. Man verbietet die Verbreitung unserer Zeitungen in den Schützengräben und verhaftet unsere Redner.“

„Warum sprichst du nicht davon, daß wir kein Brot haben?“ rief ein anderer Soldat dazwischen.

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, antwortete Tschudnowski streng. Ihm folgte ein Offizier und menschewistische Sozialpatriot des Witebsker Sowjets.

„Es handelt sich nicht darum, in wessen Händen die Macht liegt. Nicht die Regierung ist das Problem, sondern der Krieg ..., und der muß gewonnen werden, bevor an irgendeine Änderung zu denken ist.“ (Lärm und ironische Beifall.) „Die bolschewistischen Agitatoren sind Demagogen.“ (Allgemeines Gelächter.) „Laßt uns nur einen Augenblick den Klassenkampf vergessen.“

Weiter kam er jedoch nicht. Laut rief eine Stimme: „Das könnte dir wohl so passen!“

Petrograd bot in jenen Tagen ein eigenartiges Schauspiel, die Komiteeräume in den Fabriken starrten vor Waffen, Kuriere kamen und gingen, die Roten Garden [E] exerzierten ... In den Kasernen Abend für Abend Versammlungen und tagsüber heiße Diskussionen. In den Straßen drängten sich gegen Abend riesige Menschenmassen, den Newski auf- und niederflutend und sich um die herauskommenden Zeitungen reißend ...

Raubüberfälle mehrten sich in einem Maße, daß es gefährlich war, sich in die Nebenstraßen zu wagen. Auf der Sadowaja sah ich eines Nachmittags, wie eine Volksmenge von einigen hundert Menschen einen beim stehlen erwischten Soldaten niederschlug und zu Tode trampelte. Geheimnisvolle Individuen strichen um die in der Kälte stundenlang nach Brot und Milch anstehenden, vor Frost zitternden Frauen herum, tuschelnd, daß die Juden die Lebensmittel auf die Seite brächten und daß, während das Volk hungere, die Sowjetmitglieder im Luxus schwelgten.

Der Smolny wurde aufs schärfst bewacht. Niemand kam hinein und heraus, der keinen Passierschein hatte. In allen Komiteeräumen herrschte geschäftiges Leben den ganzen Tag hindurch, und auch des Nachts waren dort Hunderte von Arbeitern und Soldaten, die auf dem nackten Boden schliefen, wo immer sich ein Plätzchen bot. Oben, in dem großen Saal, strömten die Menschen zu den lärmerfüllten Sitzungen des Petrograder Sowjets.

In der Stadt taten sich zahllose Spielklubs auf, die bis zum Morgengrauen in Betrieb waren, wo der Champagner in Strömen floß und Einsätze von zwanzigtausend Rubeln keine Seltenheit waren. Im Zentrum der Stadt promenierten Dirnen, juwelen- und pelzgeschmückt, und drängten sich in die Cafés.

Monarchistenverschwörungen, Schmuggler, deutsche Spione, die ihre Unternehmungen vorbereiteten.

Und in dem kalten Regen, unter einem unfreundlichen grauen Himmel, die große pulsierende Stadt, die rascher und rascher dahinstürmt – wohin?

Fußnoten des Autors

A. Siehe Einführende Bemerkungen und Erklärungen – J.R.

B. Mitglieder des revolutionären internationalistischen Flügels der Sozialisten Europas, mit diesem Namen bezeichnet, weil sie an der Internationalen Konferenz in Zimmerwald (Schweiz) 1915 teilnahmen. – J.R.

C. Siehe Einführende Bemerkungen und Erklärungen – J.R.

D. Siehe Einführende Bemerkungen und Erklärungen – J.R.

E. Siehe Einführende Bemerkungen und Erklärungen – J.R.



Redaktionelle Fußnoten

1. August (alten Stils).

2. Zum provisorischen Direktorium gehörten: Kerenski, Nikitin, Tereschtschenko, Werchowski und Werderewski.

3. Die Konferenz fand infolge des Sturzes der Provisorischen Regierung nicht statt.

4. Englischer konservativer Politiker, 1917 Schatzkanzler in der Koalitionsregierung Lloyd Georges und Führer im Unterhaus.

5. Beim Autor nicht genau. Diese Nummer erschien am 1. November (19. Oktober).





Zuletzt aktualisiert am 15.7.2008