John Reed

Zehn Tage, die die Welt erschütterten


Vorwort des Autors

Dieses Buch ist ein Stück geballte Geschichte – Geschichte wie ich sie selbst erlebt habe. Es will nichts anderes sein als ein eingehender Tatsachenbericht der Novemberrevolution [1], in der die Bolschewiki an der Spitze der Arbeiter und Soldaten die Staatsmacht in Rußland ergriffen und in die Hände der Sowjets legten.

Natürlich beschäftigt es sich zum größten Teil mit dem „Roten Petrograd“,der Hauptstadt und dem Herzen des Aufstandes. Aber der Leser muß verstehen, daß alles, was in Petrograd geschah, früher oder später, mehr oder weniger machtvoll, überall in Rußland seine Wiederholung fand.

In diesem Buch, dem ersten einer Serie, an der ich arbeite, muß ich mich auf eine Chronik jener Ereignisse beschränken, die ich selbst gesehen und erlebt habe oder von denen ich zuverlässige Berichte erhielt. An den Anfang stelle ich zwei Kapitel, die in großen Zügen den Hintergrund und die Ursachen der Novemberrevolution umreißen. Ich bin mir darüber klar, daß diese beiden Kapitel schwer zu lesen sind, aber sie sind notwendig, um die späteren Ereignisse zu verstehen.

Beim Leser werden eine ganze Reihe Fragen auftauchen. Was ist Bolschewismus? Wie sah die von den Bolschewiki aufgestellte Regierung aus? Wenn die Bolschewiki vor der Novemberevolution die Konstituierende Versammlung forderten, warum lösten sie sie nachher mit Waffengewalt auf? Und wenn die Bourgeoisie gegen die Konstituierende Versammlung war, bevor die Gefahr des Bolschewismus für sie offensichtlich wurde, warum setzte sie sich nachher so energisch dafür ein?

Diese und viele andere Fragen können in diesem Buch nicht beantwortet werden. In einem weiteren Band, Von Kornilow bis Brest-Litowsk [2], verfolge ich den Lauf der Revolution bis zum Friedensschluß mit Deutschland. Dort erkläre ich auch den Ursprung und die Tätigkeit der revolutionären Organisationen, die Entwicklung im Denken und Fühlen der Massen, die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, die Struktur des Sowjetstaates, den Verlauf und das Ergebnis der Verhandlungen von Brest-Litowsk ...

Wenn wir den Aufstieg der Bolschewiki betrachten, müssen wir verstehen, daß das Wirtschaftsleben Rußlands und die russische Armee nicht am 7. November 1917 desorganisiert wurden, sondern schon Monate früher, als logisches Ergebnis eines Prozesses der schon 1915 einsetzte. Die korrupten Reaktionäre, die am Zarenhof das Regiment führten, untergruben Rußland ganz systematisch, um einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland herbeizuführen. Der Waffenmangel an der Front, der im Sommer1915 zum großen Rückzug führte, der Lebensmittelmangel an der Front und in den Großstädten, der Zusammenbruch der Industrie und des Verkehrswesens 1916 – all das waren, wie wir heute wissen, einzelne Phasen einer gewaltigen Sabotageaktion. Allein die Märzrevolution [3] schob ihr in letzter Minute einen Riegel vor. Bei einer großen Revolution, in der hundertsechzig Millionen der am schwersten unterdrückten Menschen in der Welt plötzlich ihre Freiheit errangen, konnte es begreiflicherweise nicht ohne Verwirrung abgehen. Und dennoch besserte sich in den ersten Monaten des neuen Regimes die innere Lage und erhöhte sich auch die Kampfkraft der Truppen.

Aber die „Flitterwochen“ waren kurz. Die besitzenden Klassen wollten eine ausschließlich politische Revolution, die dem Zaren die Macht nähme und sie ihnen gäbe. Sie wollten aus Rußland eine konstitutionelle Republik machen wie Frankreich oder die Vereinigten Staaten; oder eine konstitutionelle Monarchie wie England. Die Massen des Volkes dagegen wollten eine wirkliche Revolution in Industrie und Landwirtschaft. William English Walling beschreibt in seinem Buch Rußlands Botschaft [4] die Stimmung der russischen Arbeiter, die später fast ausnahmslos den Bolschewismus unterstützten.

„Sie (die Arbeiter) sahen, daß sie selbst unter einer freien Regierung, wenn sie in die Hand anderer Gesellschaftsklassen fiel, unter Umständen weiter Hunger leiden würden ...

Der russische Arbeiter ist revolutionär, aber er ist weder gewalttätig noch dogmatisch, noch unintelligent.

Er ist bereit, auf die Barrikaden zu gehen, aber er hat die Barrikaden auch studiert, und er als einziger unter den Arbeitern der ganzen Welt hat sie aus eigener Erfahrung kennengelernt. Er ist bereit und gewillt, seinen Unterdrücker, die Kapitalistenklasse, bis zum Ende zu bekämpfen. Aber er übersieht nicht das Bestehen anderer Klassen ,nur verlangt er, daß die anderen Klassen sich in dem herannahenden erbitterten Kampf klar auf die eine oder andere Seite stellen. Sie (die Arbeiter) waren sich darüber einig, daß unsere (die amerikanischen) politischen Institutionen besser sind als ihre eigenen, aber sie hatten keine Lust, einen Despoten gegen einen anderen (d.h. die Kapitalistenklasse)auszutauschen ...

Die Arbeiter Rußlands ließen sich nicht dafür zu Hunderten erschießen und hinrichten, in Moskau, in Riga, in Odessa, ließen sich nicht zu Tausenden in jedes russische Gefängnis sperren, in die schlimmsten Einöden und arktischen Gebiete verbannen, um dafür das zweifelhafte Glück eines Arbeiters in Goldfields oder Cripple Creek [5] einzutauschen ...“

Und so entwickelte sich in Rußland, inmitten eines Weltkrieges, aus der politischen Revolution heraus die soziale Revolution, die mit dem Sieg der Bolschewiki ihren Höhepunkt erreichte.

Mr. A.J. Sack, der Direktor des russischen Informationsbüros in den Vereinigten Staaten und ein Gegner der Sowjetregierung, hat in seinem Buch Die Geburt der russischen Demokratie folgendes zu sagen:

„Die Bolschewiki bildeten ihr eigenes Kabinett mit Nikolaj Lenin als Premier und Leo Trotzki als Außenminister: Schon bald nach der Märzrevolution war es klar, daß es so kommen mußte. Die Geschichte der Bolschewiki nach der Revolution ist eine Geschichte ihres ständigen Wachstums ...“

Ausländer, ganz besonders die Amerikaner, sprechen gern von der „Unwissenheit“ der russischen Arbeiter. Es ist wahr, sie hatten nicht die politischen Erfahrungen der Völker des Westens, aber sie waren Meister im freiwilligen Zusammenschluß.1917 gab es mehr als zwölf Millionen Mitglieder der russischen Konsumgenossenschaften; und die Sowjets selbst sind ein hervorragender Beweis für ihr Organisationstalent. Außerdem gibt es wahrscheinlich in der ganzen Welt kein anderes Volk, das so gut in der sozialistischen Theorie und ihrer praktischen Anwendung geschult ist. William English Walling charakterisierte es folgendermaßen:

„Die russischen Werktätigen können meist lesen und schreiben. Seit langem herrscht im Land eine so große Unzufriedenheit, daß die Arbeiter ihre Führer nicht nur unter den intelligentesten aus ihrer eigenen Mitte suchen müssen ,sondern auch auf einen großen Teil der nicht minder revolutionären gebildeten Klasse rechnen können, die sich mit ihren Gedanken über die politische und soziale Umgestaltung Rußlands den Arbeitern zugewandt hat ...“

Viele Schriftsteller und Journalisten behaupten, um ihre Gegnerschaft zur Sowjetregierung zu begründen ,die letzte Phase der Revolution sei nichts anderes gewesen als ein Kampf der „anständigen“ Elemente gegen die brutalen Angriffe der Bolschewiki. Tatsächlich war es aber so, daß die besitzenden Klassen, als sie die ständig steigende Macht der revolutionären Organisationen des Volkes erkannten, alles versuchten, um sie zu vernichten und der Revolution Einhalt zu gebieten. Dazu war ihnen jedes, auch das verzweifeltste Mittel recht. Um die Kerenskiregierung und die Sowjets zugrunde zu richten, wurde das Verkehrswesen desorganisiert, wurden innere Unruhen heraufbeschworen. Um die Fabrikkomitees zu vernichten, wurden Fabriken geschlossen, Brennstoff und Rohmaterial beiseite geschafft. Um die Armeekomitees an der Front zu sprengen, wurde die Todesstrafe wieder eingeführt und alles getan, um eine militärische Niederlage heraufzubeschwören .Das alles war ein guter Nährboden für die Bolschewiki. Sie riefen zum Klassenkampf auf und verkündeten die Überlegenheit der Sowjets. Zwischen diesen beiden Extremen standen die sogenannten gemäßigten Sozialisten, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, und einige kleinere Parteien und Splittergruppen, die sie aus ganzem oder halbem Herzen unterstützten. Auch diese Gruppen wurden von den besitzenden Klassen angegriffen, aber durch ihre Theorien hatten sie selbst ihre Widerstandskraft gelähmt.

Allgemein kann man sagen, daß die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Meinung vertraten, Rußland sei für eine soziale Revolution wirtschaftlich noch nicht reif – nur eine politische Revolution sei möglich. Ihrer Meinung nach waren die russischen Massen noch zu ungebildet , um die Macht zu übernehmen; jeder Versuch in diese Richtung müsse unvermeidlich eine Reaktion hervorrufen, die von skrupellosen Opportunisten dazu ausgenutzt werden könnte, das alte Regime wieder herzustellen. Als nun die „gemäßigten“ Sozialisten zwangsläufig die Macht übernehmen mußten, konnte es unter diesen Umständen nicht ausbleiben, daß sie sich fürchteten, sie auszuüben.

Sie glaubte, Rußland müsse alle Phasen der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung durchlaufen, die auch Westeuropa durchgemacht hatte, um schließlich zusammen mit der ganzen Welt in den fertigen Sozialismus einzutreten. So stimmten sie natürlich mit den besitzenden Klassen darin überein, daß Rußland zunächst einmal ein parlamentarischer Staat werden müsse – allerdings mit gewissen Fortschritten gegenüber den westlichen Demokratien. Deshalb bestanden sie auch auf Teilnahme der besitzenden Klassen an der Regierung. Von einer solchen Position zur eindeutigen Unterstützung der Besitzenden war nur noch ein Schritt. Die „gemäßigten“ Sozialisten brauchten die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie dagegen brauchte die „gemäßigten“ Sozialisten nicht. So mußten also die sozialistischen Minister nach und nach ihr gesamtes Programm preisgeben, während die besitzenden Klassen immer mehr verlangten. Und schließlich, als die Bolschewiki diesem ganzen faulen Kompromiß den Todesstoß versetzten, standen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre im Kampf auf der Seite der besitzenden Klassen...In fast jedem Land der Welt erleben wir heute das gleiche. Statt, wie so oft behauptet wird, eine zerstörende Kraft zu sein, waren die Bolschewiki meines Erachtens die einzigen in Rußland, die ein konstruktives Programm aufzuweisen hatten und auch über die Macht verfügten, um es durchzusetzen. Hätten sie nicht in dem Augenblick die Regierungsgewalt ergriffen, zweifle ich nicht im mindesten daran, daß die Truppen des deutschen Kaiserreiches noch im Dezember in Petrograd und Moskau einmarschiert wären und Rußland wieder den Zaren auf dem Nacken gehabt hätte ...

Noch heute, ein Jahr nach der Konstituierung der Sowjetregierung, gehört es zum sogenannten guten Ton, den bolschewistischen Aufstand ein „Abenteuer“ zu nennen. Ein Abenteuer war es, und eines der herrlichsten, das die Menschheit aufzuweisen hat. Die arbeitenden Massen haben die Geschichte in die Hand genommen und alles ihren gewaltigen und doch leichtverständlichen Wünschen untergeordnet. Der Apparat war vorhanden, mit dessen Hilfe der Großgrundbesitz unter die Bauern aufgeteilt werden konnte. Es gab die Fabrikkomitees und Gewerkschaften, um die Kontrolle der Arbeiter über die Industrie in Gang zu bringen. In jedem Dorf, in jeder Stadt, in jedem Bezirk, in jedem Gouvernement gab es Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, bereit, die örtliche Verwaltung in die Hand zu nehmen. Was man auch vom Bolschewismus denken mag, unbestreitbar ist, daß die russische Revolution eine der größten Taten in der Geschichte der Menschheit ist und der Aufstieg der Bolschewiki ein Ereignis von weltweiter Bedeutung. Ebenso wie die Historiker jeder Einzelheit aus der Pariser Kommune nachspüren, werden sie auch wissen wollen, was sich im November 1917 in Petrograd zutrug, welcher Geist die Menschen beseelte, wie ihre Führer aussahen, wie sie sprachen und wie sie handelten. Das hat mich bewogen, dieses Buch zu schreiben.

Im Kampf waren meine Sympathien nicht neutral. Aber in meiner Schilderung der Geschichte dieser großen Tage habe ich versucht, die Ereignisse mit den Augen eines gewissenhaften Reporters zu sehen, der nichts anderes will als die Wahrheit schreiben.

New York, 1. Januar 1919
J.R.

Redaktionelle Fußnoten

1. Sämtliche Daten, die von John Reed geführt werden, entsprechen dem neuen Kalenderstil. Die Daten in Klammern entsprechen dem alten Kalenderstil.

2. Dieses Buch ist nicht erschienen. John Reed hat es nicht beenden können.

3. Februarrevolution (alten Stils).

4. William English Walling (1877-1936), amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe, Verfasser mehrere Arbeiten über die Arbeiterbewegung und über den Sozialismus. For von John Reed zitierte Arbeit Wallings Rußlands Botschaft ist 1908 in den USA veröffentlicht worden.

5. Grubenstädte im Westen der USA, in denen die streiks der Bergarbeiter blutig niedergeschlagen wurden.





Zuletzt aktualisiert am 14.7.2008