Karl Radek


Bemerkungen zur Frage der
Einheit der Arbeiterklasse

(1909)


Quelle: Die neue Zeit, 27. Jg. (1908-1909), 1. Bd. (1909), H. 24, S. 868-877.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


1. Das Problem

Die Leipziger Volkszeitung brachte in der Nummer vom 2. Januar einen Aufsatz aus der Feder ihres belgischen Mitarbeiters: Die Einheit in der Konfusion, in welchem der Verfasser allgemeine Ansichten über die Taktik der Sozialdemokraten gegenüber der Arbeitermasse anspricht, welche, ohne sozialdemokratisch zu sein, verschiedene von der Bourgeoisie selbständige Organisationen schafft. Seiner Meinung nach ist es in solchen Situationen, wo noch keine einheitliche sozialdemokratische Partei besteht, am zweckmäßigsten, diese verschiedenartigen Organisationen in eine Arbeiterpartei zusammenzufassen, und er betrachtet es als Pflicht der Marxisten, nicht eine selbständige sozialdemokratische Partei zu gründen, sondern in die Reihen der allgemeinen Arbeiterpartei einzutreten. Wenn dabei die prinzipielle Klarheit seitens der Sozialdemokraten geopfert werden mufz, so wird dies doch dadurch belohnt, daß die Massen zu selbständiger politischer Tätigkeit aufgerüttelt werden; die aus dieser Tätigkeit von den Massen geschöpfte Erfahrung werde sie zum Sozialismus führen.

Im Vorwärts spricht Genosse M. Beer in seiner Auseinandersetzung mit dem englischen Genossen J.B. Askew (Vorwärts vom 30. Dezember vorigen Jahres: Die britische Arbeiterpartei und der Sozialismus) denselben Gedanken noch schärfer aus:

„Mir erscheint die Einheit der Arbeiterklasse als die wichtigste Bedingung des Sieges des Sozialismus. Und wenn ich nur die Wahl hätte zwischen einer kleinen und tüchtigen sozialiftischen Partei und einer großen nichtsozialistischen, aber politisch und ökonomisch selbständigen Arbeiterklasse, so würde ich mich ohne Zaudern für die letzte entscheiden.“

Der belgische Genosse prophezeit, daß ein anderer Weg als der von ihm befürwortete zur Bildung einer orthodoxen Sekte führen müßte. Dasselbe ist auch die Meinung des Genossen Beer, obwohl er diese Sekte euphemistisch eine „kleine, aber tüchtige sozialdemokratische Partei“ nennt; tüchtig könnte sie gewiß nach seiner Meinung nur in ihren theoretischen Grundsätze sein; sie würde jedoch offenbar viele „Worte“, aber keine Taten gebären.

Das von beiden Genossen aufgestellte Problem hat eine große praktische Bedeutung fair die internationale Arbeiterbewegung. Es steht vor den amerikanischen Sozialdemokraten; seit mehr als zwei Jahrzehnten steht es vor den englischen Sozialisten; es spielt eine große Rolle in der strittigen Frage des Verhältnisses der französischen sozialistischen Partei zur syndikalistischen Bewegung; es ist die Grundlage, auf welcher der Streit über die Neutralität der Gewerkschaften in Deutschland theoretisch ausgefochten werden kann; es kann in nächster Zukunft eine Bedeutuug für die Sozialdemokratie Rußlands haben, wie es dort schon vor zwei Jahren in der Diskussion über die Einberufung eines „allgemeinen Arbeiterkongresses“ aufgerollt wurde.

Es ist daher von Wichtigkeit, diesem bedeutenden Problem näher zu treten. Obwohl ich nicht die Möglichkeit habe, es jetzt in seiner ganzen theoretischen Tiefe, mit Bezugnahme auf die verschiedensten historischen Situationen, in denen es vor den Wortführern der Arbeiterklasse stand, zu erfassen, glaube ich doch, daß auch diese flüchtigen Bemerkungen am Platze sind, um so mehr, als nach meiner Ansicht nicht nur die beiden zitierten Genossen, sondern manche bekannten deutschen Sozialdemokraten in der Frage der Einheit der Arbeiterbewegung in England Ansichten äußern und eine Taktik befürworten, von deren Grundgedanken sie bei den praktischen Fragen der deutschen Arbeiterbewegung nicht hören wollen.

Die hier einigemal in Betracht gezogenen englischen und belgischen Verhältnisse sollen mir zur Illustration der allgemeinen Ausführungen dienen.
 

2. Die Einheit der Arbeiterklasse

Die Frage, die wir zuerst beantworten wollen, lautet: Ist eine einheitliche Arbeiterpartei – die nicht sozialistisch wäre – möglich? Wir verneinen sie.

Ohne den Sozialismus bildet die Arbeiterklasse eine Zusammenwürflung verschiedener Schichten, die teils selbständige, verschiedene Interessen haben, teils auch entgegengesetzte. Zwischen den verschiedenen Arbeiterschichten fehlt das einigende Band des Sozialismus; erst durch ihn wird die Gemeinsamkeit ihrer Interessen aufgedeckt und ihnen die Erkenntnis beigebracht, daß sie ihre bleibenden Interessen opfern, wenn sie sich wegen der augenblicklichen Differenzen, die gleichfalls unter der nivellierenden Macht der sozialen Entwicklung Verschwinden werden, nicht vereinigen. Die noch nicht sozialistische Arbeitermasse gründet ökonomische und politische Organisationen: die Gewerkschaften und die Arbeiterparteien. Aber nieder die Gewerkschaften noch politische Arbeiterparteien, solange sie sich fern vom Sozialismus halten, bilden eine bleibende Vereinigung der Klasse. In den Gewerkschaften vereinigen sich die Arbeiter geteilt nach den Gewerben, denen sie angehören. Ihre Klassenzusammengehörigkeit kommt in diesen Organisationen, wenn sie nicht vom sozialistischen Gedanken durchtränkt sind, gar nicht zum Ausdruck und die Gewerkschaften können – wie es die Geschichte der englischen Trade Unions zeigt – jahrzehntelang existieren, ohne die Arbeiterklasse in ein Ganzes zusammenzufassen. Politische Arbeiterparteien – wenn sie nicht vom Standpunkt des Sozialismus ausgehen – entstehen nur, um ein konkretes Ziel zu erringen. Nicht die steten allgemeinen Interessen verbinden die Arbeiter, die diesen Arbeiterparteien angehören, zum politischen Kampfe, denn diese existieren für das Bewußtsein der Masse so lange nicht, als sie nicht sozialistisch ist; wenn also die konkreten Ziele, zu deren Erreichung die Arbeiterpartei gegründet worden ist, erreicht werden dann verschwindet das einigende Band und damit die Arbeiterpartei. Das war zum Beispiel die Ursache, warum alle Anläufe zur Gründung einer Arbeiterpartei in England nach dem Bankrott des Chartismus bis zur Gründunng der Sozialdemokratischen Föderation erfolglos blieben. Diese Proben der Zusammenfassung der Arbeiterklasse gingen immer von konkreten Anlässen aus; wurden die von der Regierung gestellten Ziele erreicht, oder wurde die Arbeiterklasse durch die Erreichung eines Teiles der Forderungen gespalten, dann verschwand eben die Organisation. Ich will natürlich nicht behaupten, daß die Gründung einer sozialistischen Partei in England zum Beispiel zur Zeit der Internationale gleich eine mächtige Arbeitermasse um das gemeinsame Basis geschart hätte; dagegen wirkten verschiedene objektive Momente, aber es unterliegt keinem Zweifel, daß eine solche Partei das Zentrum für alle bewußtere Elemente gebildet hätte und so für die Zukunft der, englischen Arbeiterbewegung eine sozialistische Kristallisationsachse gewesen sein würde.

Man kann einwenden: es ist unmöglich, eine dauernde Vereinigung der Arbeitermasse ohne Sozialismus zu erreichen. Aber die zur Erringung konkreter Forderungen in eine Arbeiterpartei zusammengescharte Masse durchdringt dank den Erfahrungen des Kampfes der Gedanke von der Solidarität ihrer Interessen, und das beschleunigt ihre Entwicklung zum Sozialismus.

„Derartige Massen“ – schreibt Genosse Beer – „kann man von der Richtigkeit des Prinzips der Arbeiterpartei nur durch legislative Erfolge und Wahlsiege überzeugen.“

In dieser abstrakten Fassung ist der Gedanke falsch, obwohl er einen richtigen Kern enthält. Diesen richtigen Kern formulierte gut Bebel, als er einst sagte:

„Das Vertrauen des Volkes wird nur erworben durch praktische Arbeit, durch solide und harte Arbeit, durch das Bestreben, jeden Vorteil zugunsten der Arbeiterklasse wahrzunehmen.“

Das heißt, daß die Sozialdemokratie die Arbeitermassen durch bloße abstrakte Propaganda ihrer Grundsätze nicht gewinnen kann; sie muß Anteil nehmen am politischen und ökonomischen Ringen der Arbeiterklasse unt die Hebung ihrer Lage. Aber Bebel war gewiß nicht der Meinung, daß diese „praktische“ Arbeit ohne die Beleuchtung des Wertes der Errungenschaften, der Ursachen unserer Siege und Niederlagen uns eher zum Sozialismus bringt, als die Tätigkeit, der er sein ganzes Leben widmete, Die legislativen Erfolge können in gewissen Umständen das Linsengericht sein, wofür die Arbeiterklasse zeitweilig nicht nur mit dem Streben zum Sozialismus, sondern auch mit der Existenz ihrer selbständigen politischen Organisation bezahlen kann. Diese Umstände find folgende: wenn dank spezieller Momente die Bourgeoisie imstande ist, die nächsten Bedürfnisse einzelner Arbeiterschichten zu stillen – so war es in England eine Zeitlang im vorigen Jahrhundert –, und wenn dank der sozialpolitischen Verhältnisse die Klassengegensätze sich nicht im Bewußtsein der Arbeiterklasse abspiegeln. Wenn die Verhältnisse aber so geartet sind, daß die Bourgeoisie von ihrem Standpunkt aus genötigt ist, eine krasse, arbeiterfeindliche Stellung anzunehmen, wenn sie die Reformen nicht freiwillig gibt, wenn dieselben nur in bitterem Kampfe ihr abgerungen werden können, wenn sie nicht genügend groß sein können, um die Arbeiterklasse zü befriedigen und einzuschläfern, dann ist es selbstverständlich, daß die im Kampfe erreichten Erfolge das Selbstgefühl der Arbeiterklasse stärken, sie für die selbständige Arbeiterpolitik gewinnen ; aber es ist auch verständlich, daß in einer solchen Situation die weiteren Mißerfolge die Arbeitermasse zum Erkennen der Unzulänglichkeit der Reformen und der Grenzen der Reformtätigkeit im kapitalistischen Staate geneigt machen. Und hier nähern wir uns dem zur Veurteilung der Frage wichtigsten Moment.

Es ist klar, daß in einer Situation wie die zuletzt gezeichnete für das rasche Anwachsen der Sozialdemokratie der Boden sehr günstig ist. Das Leben liefert ihrer Agitation Stoff, welcher ihre allgemeinen Anschauungen den breitesten Massen verständlich macht. In einer solchen Situation wird jeder ökonomische, auch der kleinste Kampf zur Schule des Klassenkampfes, wenn die Partei konsequent alle Ereignisse von einem Standpunkt beleuchtet, wenn sie ihre Fahne offen in der Luft flattern läßt. Um die Sozialdemokratie versammeln sich dann mit jedem Tage größere Massen, und sie wird zum politischen Faktor im öffentlichen Leben, mit dem das Bürgertum und die Regierung rechnen. Dieses Wachstum kann aber nicht mit einein Schlage die Wirkungen der bisherigen Entwicklung aus der Welt schaffen. Existierte früher in dem Lande der neu erwachenden Bewegung eine auf bürgerlichem Boden stehende Arbeiterbewegung, dann wird sie ganz gewiß nicht gleich verschwinden. Jede soziale Organisation, die im Leben Wurzel hat, dauert noch lange, wenn auch die Verhältnisse, an denen sie früher ihre Kraft schöpfte, sich stark zu ihrer Ungunst geändert haben. Dabei – wozu wir noch zurückkehren werden – ist die Existenz einer bürger1ichen Arbeiterbewegung durch dauernde, nicht vorübergehende Ursachen bewirkt. Wie beeinflußt das Bestehen einer konsequenten sozialdemokratischen Partei diese Bewegung? Die politische Aktion der Sozialdemokratie, ihre Kritik der Bourgeoisie und Regierung und ihrer Schutztruppen in der Arbeiterklasse, bilden für die bürgerliche Arbeiterbewegung einerseits ein Zersetzungselement, zweitens drängen sie diese auf die Bahn des Kampfes gegen das Kapital, wobei zu bemerken ist, daß dieser Kampf zaghaft, widerspruchsvoll bleibt. Gibt es eine Möglichkeit, das Element des Klassenkampfes in der bürgerlichen Arbeiterbewegung zu stärken, Teile von ihr in die sozialistische Bewegung einzuverleiben, so ist es der ununterbrochene Kampf gegen diese Bewegung. Das Gesagte gilt nicht nur gegenüber verschiedenen von bürgerlichen Parteien gegründeten Organisationen, wie zum Beispiel in Deutschland gegenüber den christlichen und Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften, nicht nur gegenüber selbständigen, aber auf dem Boden bürgerlicher Anschauungen stehenden Organisationen, wie die Trade Unions in England, sondern auch gegenüber allen in sozialistischer Kleidung hervortretenden Richtungen, die aber bürgerlicher Herkunft sind. Diese Politik, die augenblicklich das Proletariat spaltet, bereitet seine spätere Vereinigung unter dem Banner der Sozialdemokratie, als die einzige dauernde Vereinigung vor.

Welche Resultate bringt jedoch der Weg, den der belgische Genosse und Genosse Beer für den einzig richtigen betrachten? Schauen wir uns die Frage erstens vom allgemeinen Standpunkt an. Die Sozialdemokraten treten in die Kuddelmuddelarbeiterpartei ein. Sie haben den besten Willen, auf diesem Boden Agitation und Propaganda für ihren Standpunkt zu treiben. Aber schon zeigen sich die Konsequenzen ihres Eintritts: sie wollen doch nicht die dem Sozialismus feindlichen Elemente vor den Kopf stoßen. Sie sind doch nicht mit:dieser Absicht in die Partei hinuntergetaucht. Wo sie also fürchten, böses Blut zu erregen, „opfern sie der Einheit der erwachenden Arbeiterklasse in der Aktion die prinzipielle Klarheit“ – um die Worte des belgischen Genossen zu gebrauchen. Statt für die soziale Revolution, agitieren sie für die verschwommene „Arbeitersache“. Aber was Worte – um dem Genossen Beer das Wort zu geben – an Taten glauben sie! Ein Arbeiterpartei ist aber kein Diskussionsklub, sie ist eine Partei der Aktion. Die theoretische Unsicherheit der Partei bleibt natürlich nicht ohne Einfluß auf ihr Stellung in den politischen Fragen. Die Feindlichkeit einer solchen Partei gegenüber dem Sozialisuius bedeutet doch nicht, daß ihre Mitglieder nur aus Unbekanntheit mit ihm gegen ihn eingenommen sind. Sie bedeutet, daß sie bürgerlichen Anschauungen huldigen und nach ihnen ihre Politik einrichten wollen. Und die Führer einer solchen Masse – wie die Shackletons und Crooms – sind nicht Lämmlen, die ein Keir Hardie am Bande führen könnte. Sie lassen sich gängeln, aber nur von der Bourgeoisie, denn dies entspricht ihren Ansichten. Es kann also bei einer solchen Arbeiterpartei von selbständiger Politik nicht. die Rede sein. Sie beginnt, Konjunkturenpolitik zu treiben, einmal wendet sie sich nach rechts, einmal nach links. Es ist selbstverständlich, daß die Sozialdemokraten, die aus Rücksicht auf die Aktion ihre prinzipielle Klarheit geopfert haben, jetzt die Aktion durch einen Disziplinbruch nicht lahmlegen können, und so müssen sie den Veitstanz mitmachen.

Wie wirkt das auf die Arbeiterbewegung ein? Die Arbeitermasse, die noch nicht sozialistisch ist, wird in ihrer Entwicklun, zum Sozialismus aufgehalten. Die. Sozialdemokraten, die einer solchen Partei beigetreten sind, um den objektiven, die Masse zum sozialdemokratischen Standpunkt führenden Tendenzen, dem Wirken der Bewegung freien Rauni zu machen, legen eine Tendenz lahm, die von großer Bedeutung für das von ihnen erstrebte Ziel ist: unsere bewußte Tätigkeit für den Sozialismus. Statt also die Entwicklung der ganzen Masse zum Sozialismus zu beschleunigen, halten sie dieselbe auf.

Und welchen Einfluß übt eine solche Politik auf die sozialdemokratischen Elemente? Die Führer demoralisieren sich; die Politik der Kompromisse entrückt ihnen unter den Füßen jeden festen Grund, denn diesen bildet nur die prinzipielle Haltung, sie werden an sich selber irre; Was ein schlauer Trick sein sollte, um die Geschichte zum schnelleren Laufe zu bewegen, wird zu ihrer Grundanschauung. und der Teil d er Arbeiter, der sich schon zum Sozialismusg bekannte, er sinkt von den erreichten Höhen in den Sumpf der „Arbeiterpolitik“ hinunter. Die sozialdemokratische Gesinnung ist für die Arbeitermasse kein Schwert, das man, wenn es nicht nötig ist, an den Nagel hängen und später, wenn die ganze Masse schon „reif“ ist, vom Nagel herunterholen kann; das Schwert wird schartig und rostig. Die Gesinnung der Arbeiterklasse hängt von ihtem täg lichen Kampfe ab, und die sozialdemokratischen Arbeiter können nicht eine Wanderung durch den Sumpf mitmachen, ohne dabei ihre Anschauungen einzubeißen.

Und hier einige Illustrationen zu dem oben Gesagten.

Der belgische Genosse gibt in seinem Aufsatz selber Beispiele der Einwirkung der Sammlungspolitik, welche die belgischen Sozialdemokraten im Jahre 1885 mitgemacht haben. Sie haben nicht einmal die Einheit der Aktion erreicht. Er bekundet,

„daß keiue Arbeiterbewegung eine größere Verschiedenheit und Zersplitterung der Tendenzen aufweist, als gerade die Belgiens; ... in jeder Frage der praktischen Politik gab es darum bis jetzt tiefgehende Meinungsunterschiede, die zu wiederholten Konflikten Anlaß boten“.

Die Einigkeit war also scheinbar – sagt der Artikelschreiber – die Konfusion aber wirklich.

„Die theoretische Konfusion in ihrem Schoße (der belgischen Arbeiterpartei, die aus Sozialdemokraten, Proudhonisten, Genossenschaftlern, bürgerlichen Quacksalbern bestand. K.R.) ist kaum geringer, ja sie ist inzwischen eher mannigfaltiger geworden ... Viele Genossen, die vom wissenschaftlichen Sozialismus genug verstehen, um von der Notwendigkeit einer intensiveren Durchdringung der belgischen Arbeiterbewegung mit dem Geiste der modernen Sozialdemokratie, das heißt des Marxismus, überzeugt zu sein haben durchaus im Sinne des Kongresses von 1885 die prinzipielle Klärung der Anschauungen stets der Einheit der Aktion oder vielmehr dem Scheine dieser Einheit geopfert“.

Und das Endresultat:

Der Kampf der Tendenzen trug stets dazu bei, die praktische Zerrissenheit der Aktion zu verschlimmern, jedoch fast nie dazu, die Einsicht der Genossen in die theoretische Grundlage der Meinungskämpfe zu vermehren.“

Natürlich kann ich jetzt hier nicht untersuchen, ob auf der Eintritt der Marxisten in die belgische Arbeiterpartei das Fehlen marxistischer Organisationen einwirkte, noch auseinandersetzen, daß jetzt ein Austritt aus ihr gar nicht am Platze wäre. Die englischen Erfahrungen sind noch ärger. Zu den Tatsachen, die der Londoner Korrespondent der Leipzige Volkszeitung in seinem Aussatz Die Ausartung der englischen Arbeiterpartei (Leipziger Volkszeitung vom 4. Januar 1909) bringt, möchte ich noch zwei Zitate beilegen, die Genosse Th. Rothftein in seinem sehr bemerkenswerten Aufsatz Englische Wandlungen (Neue Zeit, Nr. 1 vom 2. Oktober 1908) aus der New Age bringt.

„Ich glaube“ – schreibt in dieser jungfabianistischen Wochenschrift Genosse Hobson, ein bekanntes Mitglied der Fabiangesellschaft und der Unabhängigen Arbeiterpartei –, „kein aufmerksamer Beobachter wird die Tatsache bestreiten, daß die Arbeiterpartei mit jedem Monat immer mäßiger und reaktionärer wird.“

Es unterliegt keiner Frage, daß das Fehlen einer konsequenten gegen sie gerichteten Aktion seitens der sozialistischen Parteien daran schuld ist. Was sagt aber Hobson über die Resultate dieser Politik des Zusammengehens der Schlaumeier aus der sozialistischen „Unabhängigen Arbeiterpartei“ mit der „Arbeiterpartei“?

... Sie haben erwartet, die Trade Unionisten zu beherrschen, aber ihre Erwartungen haben sich nicht erfüllt ... Sie predigen den Sozialismus in den öffentlichen Versammlungen, im Parlament aber dürfen sie nicht frei reden.“

Die Einwirkung dieser Politik auf die Anschauungen der Mitglieder der sozialistischen „Unabhängigen Arbeiterpartei“ konnte sich zwar noch nicht zeigen, weil die „Arbeiterpartei“ noch jung und fast nur die Zusammenfassung der Spitzen von selbständigen Organisationen ist, was die Wirkungen abschwächt; dabei hat die „Unabhängige Arbeiterpartei“ nicht viel zu verlieren, weil ... sie selbst sehr krausen Anschauungen huldigt.

Das sind die Resultate des Bemühens, „die Arbeiter einheitlich zusammenzufassen, ehe wir sie für Auffassungen gewinnen, die ihrer Vernunft noch fern liegen“, um die Worte des Genossen Beer zu gebrauchen.
 

3. Die Sekte

Der belgische Genosse stellt die Frage so: Entweder betreten die Sozialdemokraten den Weg, dessen Unrichtigkeit wir oben bewiesen zu haben zu glauben oder sie müßten „ihr (der Arbeiterbewegung) den Rücken kehren und sich darauf beschränken, von außen her als streng orthodoxe Sekte für ihre Gedanken Propaganda zu treiben“. Das ist natürlich eine Verschiebung der Streitfrage.

Worin besteht das Merkmal einer Sekte? Daß sie ihren Glauben und ihre Anschauungen als der Weisheit letzten Schluß betrachtet und, ohne auf die Fragen des Lebens eine Antwort zu geben, sie durch Propaganda den leuten einzupauke sucht. Welcher Marxist hat jemals solche Taktik befürwortet? Welcher Marxist predigte die Abwendung von der Arbeiterbewegung? Am meisten von allen sozialistischen Parteien wurde derb Sektencharakter der englischen Sozialdemokratie, den französischen Guesdisten und den russischen Sozialdemokraten nachgesagt. Ich beschränke mich und gehe auf das Beispiel der englischen Sozialdemokratie ein, gegen welche diesen Vorwurf kein Geringerer als Friedrich Engel erhob.

„Die Sozialdemokratische Föderation“, schrieb er im Jahre 1893 an Sorge, „teilt mit den deutsch-amerikanischen Sozialisten die Auszeichnung, die einzigen Parteien zu seine die es fertig gebracht haben, die Marxsche Theorie der Entwicklung auf eine starre Orthodoxie heruntergebracht zu haben, zu der die Arbeiter sich nicht aus ihrem eigenen Klassengefühl heraus emporarbeiten sollen, sondern die sie als Glaubensartikel sofort und ohne Entwicklung herunterzuwürgen haben.“

Ich kann in diesem Aufsatz nicht die Frage erörtern, welche Umstände solch ein Urteil Engels’ veranlaßte, aber ich betrachte es als unrichtig. Ich brauche auch nicht zu beweisen, daß die englische Sozialdemokratie solche Anschauungen nicht hatte, denn da zeigen am besten ihre Taten.

Die Sozialdemokratische Föderation nahm Anteil an allen politischen und ökonomischen Kämpfen der englischen Arbeiterklasse, sie bemühte sich, ihr die sozialdemokratischen Anschauungen nicht nur durch Agitation und Propaganda, sondern auch durch Aktion beizubringen. Ihr Anteil an den Gemeinde- und Parlamentswahlen, ihr Anteil an der Bewegung der Arbeitslosen usw. zeigt, daß von einem Abwenden von der Arbeiterbewegung bei ihr keine Rede war. Das soll natürlich nicht bedeuten, daß wir ihre ganze Taktik (zum Beispiel den Trade Unions und den Konservativen gegenüber) für richtig betrachten. Aber geben wir das Wort einem Gegner der Föderation, dem Genossen William Sanders, einem Mitglied der Unabhängigen Arbeiterpartei, welcher in seinem Vortrag über Die gegenwärtige Lage der sozialistischen Bewegung in England, den er in Fürth am 18. September 1908 hielt (er ist abgedruckt in der Fränkischen Tägespost, Nr. 280 bis 236 des vorigen Jahres), folgendes erklärte:

„Die Sozialdemokratische Föderation oder Partei ist die Bahnbrecherin des modernen Sozialismus unter den englischen Arbeitern. Sie steht auf streng marxistischem Boden, und ihre Politik zielt auf die Verwirklichung des Sozialismus ab. In manche Beziehungen hat sie der Sache der Arbeiter große Dienste geleistet. Obschon sie immer wieder nachdrücklich ihren revolutionären Charakter betont, hat sie sich doch für verschiedene sogenannte Palliativmittel fest ins Zeug gelegt und zu ihrer Einführung viel beigetragen. So war es zum Beispiel die Sozialdemokratische Föderation, die zuerst die Frage der Schulkinderspeisung auf öffentliche Kosten aufgegriffen hat; sie propagierte diese Forderung so lange im Lande bis endlich die Regierung, die jetzt am Ruder ist, ein Gesetz durchbracht, das den Schulbehörden das Recht gibt, dort, wo es nötig ist die Schulkinderspeisung einzuführen. Andere Maßnahmen, wie zum Beispiel die gesetzliche Einführung des Achtstundentags, wurden zuerst in früherer Zeit von der Sozialdemokratischen Föderation vertreten, und das Gesetz über den Achtstundentag der Bergarbeiter, das die jetzige Regieruug eingebracht hat und das zurzeit dem Parlament vorliegt, ist zum Teil zweifellos der energischen Agitation dieser sozialistischen Partei zu verdanken. Gerade in der Agitation hat die Sozialdemokratische Föderation ihr Bestes geleistet. In den achtziger und anfangs der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war ihr Einfluß weit stärker als ihr Mitgliederbestand, der damals sehr gering war und es bis zum heutigen Tage geblieben ist ... Ohne die eifrige, ja fanatische Agitationsarbeit der Sozialdemokratischen Föderation wären die Schollen gewiß nicht aufgebrochen worden, in die der Same der modernen sozialistischen Bewegung in England gesät ist.“

Daß die Sozialdemokratische Föderation sich nicht zu einer wichtigen Arbeiterpartei entwickelte, das lag nicht an ihrer mangelhaften Taktik, sondern an dem Umstand, daß es in England dank den speziellen ökonomischen und politischen Umständen, die in der marxistischen Literatur schon oft erläutert wurden, überhaupt keine sozialistische oder auch nur ökonomisch und politisch von der Bourgeoisie selbständige Arbeiterbewegung entstehen konnte. Den besten Beweis lieferte die von Engels gelobte Independent Labour Party (Unabhängige Arbeiterpartei), welche die Taktik befolgte, die Engels fü richtig hielt und die mit den Anschauungen unseres belgischen Genofsen identisch ist. Die Independent Labour Party kann keine größeren Erfolge ihrer fünfzehnjährigei Arbeit aufzeigen. Von beiden Organisationen zählte die Sozialdemokratische Föderation am Ende des vorigen Jahrhunderts 5.000 bis 6.000 Mitglieder und die Unabhängige Arbeiterpartei 10.000 bis 12.000; im vorigen Jahre zählte die Sozialdemokratie 13.000 und die Unabhängige Arbeiterpartei 20.000 Mitglieder. Die „gute“ Taktik gab den weitherzigen Sozialisten keinen großen Vorsprung vor den „Sektierern“ aus der Sozialdemokratie.

Wenn die Sozialdemokratische Föderation sektenhafte Charakterzüge aufweisen würde, dann wäre es erklärlich durch die englischen Verhältnisse, welche ein Aufkommen einer breiten Arbeiterbewegung zurückhielten und dadurch der auf kleine Gruppen beschränkten Tätigkeit der Föderation die Merkmale der Sekte aufdrängten und bei manchem ihrer Mitglieder sektenhafte Ansichten hervorriefen.

Wenn überhaupt sektiererische Merkmale bei einer sozialistischen Partei vorkommen, dann find sie selbst nur Produkte des Fehlens eine breiten Arbeiterbewegung in diesem Land. Es besteht also kein Gegensatz hier breite Arbeiterpartei – dort marxistische Sekte, sondern wo eine „breite Arpeiterpartei möglich ist, dort kann auch eine konsequente marxistische Massenpartei entstehen. Und wir glauben nicht fehlzuschlagen, wenn wir annehmen, daß die sozialdemokratische Partei Englands vor der Periode einer gesunden Entwicklung steht, wenn sie weiter eine energische, konsequente sozialdemokratische Politik treibt, ohne sich in die Sammlungspolitik einzulassen.
 

4. Die Einheit der Arbeiterklasse und der Sozialismus

Genosse Beer schreibt:

„Mir erscheint die Einheit der Arbeiterklasse als die wichtigste Bedingung des Sozialismus ... Was ist das wirkliche Hindernis der deutschen Sozialdemokratie? Ist es die preußisch-deutsche Verfassung? Sind es die Junker? Ist es der Marxismus, wie die Revisionisten sagen, oder der Revisionismus, wie die Marxisten sagen? [1] Nein! Nichts von alledem. Es ist die Zerklüftung der Arbeiterklasse: es sind die Zentrumsarbeiter, die liberalen Arbeiter, die indifferenten Arbeiter, die das wahre Hindernis der deutschen Sozialdemokratie bilden. Bildeten sie eine einzelne moderne Arbeiterarmee, so würden wir alle anderen Hindernisse im Nu überwinden. Wir würden den Wirbelwind reiten und den Sturm beherrschen. Ebenso ist es in Frankreich, Italien usw.“

Und Beer zieht die Konsequenzen seiner Ansicht und schlägt der deutschen Sozialdemokratie eine Taktik vor, deren Verfehltheit hier zu beweisen gar nicht notwendig ist:

„Wenn ich die Taktik der deutschen Sozialdemokratie beeinflussen könnte“ – schreibt er in der Fränkischen Tagespost vom 1. Februar 1909 –, „würde ich sie nach folgende Richtung beeinfluffen. Feindliche oder freundliche Selbständigkeit gegenüber den bürgerlichen Parteien und Elementen, je nach ihrer Haltung zum Fortschritt und zur Demokratie; aber liebevolle Toleranz und zeitweilige und lokale Einverständnisse mit den nichtsozialistischen und ehrlichen Arbeiterorganisationen, je nach dem Grade ihres proletarischen Fühlens.“

Aus seinen anfangs zitierten Ausführungen spricht die Ansicht, als ob das gänzliche Verschwinden der bürgerlichen Arbeiterbewegung möglich wäre vor der sozialen Revolution. Wenn es auch der Fall wäre, so würde es noch nicht beweisen, daß die Kuddelmuddelpolitik, die Beer befürwortet, das beste Mittel zur Beschleunigung dieses Prozesses ist. Aber wir verneinen diese Möglichkeit überhaupt.

Zum Entstehen der bürgerliche Arbeiterbewegung tragen hauptsächlich zwei Momente bei: einerseits schreitet zur Gründung von Arbeiterorganisationen die Bourgeoisie, um sich einen Schutzwall gegen die sozialistische Arbeiterbewegung zu errichten; andererseits aber erwacht in den neu vom Lande zugeflossenen oder aus frisch proletarisierten Schichten bestehenden Teilen der Arbeiterklasse der Drang zur Organisation zwecks Hebung ihrer Lage. Diese zwei Momente kreuzen sich stets, wirken stets aufeinander ein; einerseits weckt das Bestreben der Bourgeoisie noch schlafende Arbeiterschichten auf, andere seits nötigt der Drang der erwachenden Arbeiterschichten zur Organisation die Bourgeoisie, die entstehenden Organisationen in ihre Hände zu nehmen, damit sie nicht unter den Einfluß der Sozialdemokraten geraten. Dieser Prozeß wird so lange dauern, solange der Proletarisierungsprozeß dauem wird. Und da wir nicht der Schulmeistermeinung sind, daß die Stunde der sozialen Revolution erst dann schlagen wird, wenn der letzte Kleinbürger in die Fabrik wandert, so sind wir der Ansicht, daß das Zusammenschweißen der gesamten Arbeiterklasse in eine Arbeitsarmee erst das Werk der Kampfestage der sozialen Revolution sein wird, wenn er überhaupt vor dem Sozialismus eintritt.

Von diesem Standpunkt aus sollte die Ansicht des Genossen beer, daß die Zerklüftung der Arbeiterklasse das wahre Hindernis der deutschen, französischen, italienischen usw. Sozialdemokratie bildet, bedeuten: Das wahre Hindernis der internationalen Sozialdemokratie bildet die Tatsache, daß wir noch nicht in der sozialen Revolution stehen. Wollte dies Genosse Beer sagen, damit sind wir mit ihm einverstanden. [2]

Zum Schlusse eine Einschränkung. Es soll aus diesen Ausführungen nicht herausgelesen werden, als ob wir die Bedeutung der Einigkeit der Arbeiterklasse nicht einzuschätzen wüßten. Wir wollten nur erstens die Methoden ihrer teilweisen Erlangung untersuchen und zweitens die Unmöglichkeit ihrer gänzlichen Erreichung unterstreichen.

In der ersten Frage betrachten wir den Weg der Sammelpolitik als nicht entsprechend und für die Sozialdemokratie gefährlich, in der zweiten glauben wir, daß, wer sich von Illusionen in dieser Hinsicht gefangen nehmen läßt, der nicht den Sturmwind reitet, sondern die Wolken, von denen er in das Fahrwasser eines kraftlosen Opportunismus leicht hineinfallen kann.


Fußnoten

1. Wir brauchen nicht zu erklären, daß diese Behauptung die Marxisten nicht verbrochen haben. Vielleicht wird uns Genosse Beer ein Exempel eines solchen miserablen Marxist auf den Tisch legen, dessen geistiges Eigentum diese Anschauung wäre. Trotzdem würden wir uns hüten, dem Genossen Beer vorzuwerfen – wie er es gegenüber dem Genossen Askew tut – „daß er nicht so weit ist, über den Stand der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung ein umfassendes und weitsichtiges Urteil abgeben zu können“.

2. Ich kann mir natürlich das Eingehen auf die Frage einsparen, was das „Hindernis“ der deutschen Sozialdemokratie ist, denn sie wurde nach dem bekannten Ausdruck Jaurès’ über die Ohnmacht der deutschen Sozialdemokratie, den auf dem Amsterdamer Kongreß geprägt hat, ausführlich in der radikalen Parteipresse besprochen.


Zuletzt aktualiziert am 20.08.2010