G.W. Plechanow


Über die Aprilthesen von W.I. Lenin

(9. bis 12. April 1917)

Auszug


W. Hedeler, H. Schützler, S. Striegnitz (Hrg.): Die Russische Revolution. Wegweiser oder Sackgasse, Berlin 1997, S.238-241.
Kopiert mit Dank von der nicht mehr vorhandenen Webseite Marxistische Bibliothek.
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In dem Artikel über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution (Prawda, Nr.26) hielt es Lenin zum Schluß, nachdem er seine jetzt berühmt gewordenen Thesen dargelegt hatte, für erforderlich, gegen mich armen Sünder zu Felde zu ziehen. Warum er das für notwendig erachtete, weiß ich nicht. Doch sehen Sie, wie kühn er seine Kavallerieattacke gegen mich führt:

„Herr Plechanow hat in seiner Zeitung meine Rede als ‚Fieberphantasie‘ bezeichnet. Sehr gut, Herr Plechanow! Doch wie plump, ungeschickt und begriffsstutzig sind Sie in Ihrer Polemik! Wenn ich in meiner Rede zwei volle Stunden lang wie im Fieber phantasierte, warum duldeten dann Hunderte von Zuhörern diese ‚Fieberphantasie‘? Weiter. Warum widmet Ihre Zeitung der Wiedergabe einer ‚Fieberphantasie‘ eine ganze Spalte? Fürwahr, das reimt sich nicht, das reimt sich bei Ihnen ganz und gar nicht.“

Ich hatte überhaupt keine Lust, ein publizistisches Geplänkel zu beginnen. Ich habe jetzt andere Sorgen. Zudem würde eine Polemik in dem Geist, von dem die von mir zitierten Zeilen Lenins durchdrungen sind, unweigerlich in einen Hahnenkampf ausarten, der nur in Zeiten politischer Stille und gesellschaftlichen Niedergangs – und dann einzig und allein für Liebhaber dieses Vergnügens – von gewissem Interesse sein kann. Wir durchleben jetzt aber eine Periode des Aufschwungs, und Personen, die an literarischen Hahnenkämpfen teilnehmen, müssen bei den Lesern auf ein Gefühl des Abscheus stoßen. Doch ich kann nicht schweigen. Erstens, weil die biederen Anhänger Lenins denken könnten, ich hätte absolut nichts, womit ich seine kühne Attacke parieren könnte, und zweitens aus dem Grund, weil diese Attacke nur eine militärische Demonstration darstellt, die das Ziel verfolgt, die Hauptposition, auf der die Leninschen Thesen beruhen, zu verteidigen. Daher beginne ich bei der Attacke. [...]
 

Lenins erste These

Es gibt Menschen, denen die Liebe zur Internationale den Horizont so stark vernebelt hat, daß sie nicht in der Lage sind und auch nicht den Wunsch haben, sich Klarheit zu verschaffen, wer denn eigentlich die Verantwortung für den gegenwärtigen Krieg zu tragen hat. [...] Lenin war nie ein Mensch von starker Logik. Doch er hat sehr wohl bemerkt, daß dieses Argument logisch unhaltbar ist. Das geht aus den folgenden Zeilen seiner ersten These hervor:

„In unserer Stellung zum Krieg, der von seilen Rußlands auch unter der neuen Regierung Lwow und Co. – infolge des kapitalistischen Charakters dieser Regierung – unbedingt ein räuberischer imperialistischer Krieg bleibt, sind auch die geringsten Zugeständnisse an die ‚revolutionäre Vaterlandsverteidigung‘ unzulässig.“

Sie sehen: Der Krieg ist von Seiten Rußlands ein räuberischer imperialistischer Krieg. Und wie sieht die Sache von seifen Deutschlands aus? Darüber ist bei Lenin nichts gesagt. Wenn aber von zwei Personen, die aneinander geraten sind, eine räuberische Absichten offenbart, so kann man natürlich annehmen, daß die andere Person Gefahr läuft, ausgeraubt zu werden. Das heißt, Deutschland ist Gefahr gelaufen, von Rußland ausgeraubt zu werden. Und wenn das so ist, so besteht für das russische Proletariat keinerlei Notwendigkeit, aktiv am gegenwärtigen Krieg teilzunehmen. [...]

Wem ist wohl nicht bekannt, daß nicht Rußland Deutschland den Krieg erklärt hat, sondern umgekehrt: Deutschland Rußland. Zwar hat Bethmann Hollweg behauptet, Rußland habe durch seine Mobilmachung Deutschland gezwungen, ihm den Krieg zu erklären. Doch kann Lenin denn diese Behauptung des deutschen Kanzlers ernst nehmen, die der Verfasser des bekannten Buches J‘accuse seinerzeit erfolgreich widerlegt hatte? Das kann man doch keinesfalls annehmen. Es geht überhaupt nicht darum, ob Lenin diesen oder jenen Einzelfakt kennt oder nicht, ob ihm diese oder jene Behauptung bekannt ist oder nicht. Er urteilt außerhalb der Bedingungen von Ort und Zeit. Er operiert ausschließlich mit seinen abstrakten Formeln. Und wenn diese Formeln den Fakten widersprechen, desto schlimmer für die Fakten. Und welche Bedeutung können schon Fakten haben wo es weder Tag noch Monat gibt und wo nur etwas ganz Phantastisches existiert? [...]
 

Die übrigen Thesen Lenins

Marx sagt in dem berühmten Vorwort zu dem weniger berühmten Buch Zur Kritik der politischen Ökonomie:

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ [...]

Nun fragt es sich, wie es um den Kapitalismus in Rußland bestellt ist. Haben wir Grund zu behaupten, daß er sein Lied bei uns schon ausgesungen hat, d.h., daß er jene höchste Stufe erreicht hat, auf der er schon nicht mehr der Entwicklung der Produktivkräfte des Landes dient, sondern, im Gegenteil, diese Entwicklung hemmt? Ich habe oben gesagt, daß Rußland nicht nur darunter leidet, daß es Kapitalismus hat, sondern auch darunter, daß die kapitalistische Produktionsweise in Rußland ungenügend entwickelt ist. Und diese unbestreitbare Wahrheit hat noch keiner der sich Marxisten nennenden Russen je bestritten. Wenn eine neue Bestätigung derselben vonnöten wäre, so könnte man dies aus den Erfahrungen des gegenwärtigen Krieges schöpfen, der gezeigt hat, wie sehr ein ökonomisch so rückständiger Staat wie Rußland Gefahr läuft, von einem ökonomisch so entwickelten Staat wie Deutschland ausgebeutet zu werden. Wenn dem so ist, so ist völlig klar, daß bei uns niemand, der sich die Lehre von Marx auch nur ein bißchen angeeignet hat, von einer sozialistischen Umwälzung reden kann. [...]

Das hat bisher auch keiner der russischen Marxisten bestritten. Auch Lenin hat dies, nebenbei bemerkt, nicht bestritten. Diese unter den russischen Marxisten weitverbreitete Überzeugung kommt ihm von Zeit zu Zeit in Erinnerung.

In seiner achten These sagt er:

„Nicht ‚Einführung‘ des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern augenblicklich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten.“

Hier zollt Lenin seiner Vergangenheit als russischer Marxist Tribut. Doch er zollt ihr mit der einen Hand Tribut, und mit der anderen Hand versucht er ihn wieder zurückzunehmen. Natürlich, es ist eine Sache, den Sozialismus einzuführen, und eine andere Sache ist die Kontrolle. Es fragt sich jedoch: Was will denn Lenin eigentlich kontrollieren? Die Antwort lautet: die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse. Das ist leider aber eine recht unbestimmte Antwort. Die Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse, die in der sozialistischen Gesellschaft notwendig ist, ist in bestimmtem und sogar recht bedeutendem Maße auch im Kapitalismus möglich. Das hat der gegenwärtige Krieg wiederum sehr überzeugend bewiesen. Und während Lenins achte These nur eine unbestimmte Antwort auf die uns interessierenden Fragen gibt, so fordert die erste These ganz unzweideutig den „tatsächlichen und völligen Bruch mit allen Interessen des Kapitals“ Wer tatsächlich und völlig mit allen Interessen des Kapitals bricht, der vollzieht die sozialistische Revolution. Somit ist der in der achten These enthaltene Vorbehalt (nicht „Einführung“ des Sozialismus, sondern Kontrolle usw.) nur ein schwacher Versuch unseres „Kommunisten“, sein marxistisches Gewissen zu beruhigen. Tatsächlich bricht er völlig mit allen auf der Theorie von Marx beruhenden Voraussetzungen einer sozialistischen Politik und geht mit seinem gesamten Troß und der Artillerie ins Lager der Anarchisten über, die die Arbeiter aller Länder unermüdlich zur sozialistischen Revolution aufgerufen haben, ohne zu untersuchen, welche Phase der ökonomischen Entwicklung das eine oder andere Land durchläuft.

[...] Einer unserer Genossen, die Lenins Thesen im Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten anzweifelten, erinnerte ihn an die zutiefst wahren Worte von Engels, daß es für diese Klasse kein größeres historischen Unglück geben könne als die Machteroberung zu einem Zeitpunkt, da das Endziel wegen unüberwindlicher objektiver Bedingungen unerreichbar bleibt. In seiner gegenwärtigen anarchistischen Stimmung kann eine derartige Mahnung Lenin natürlich nicht zur Vernunft bringen. Alle, die ihm im Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten widersprachen, hat er durchweg als Opportunisten bezeichnet, die dem Einfluß der Bourgeoisie erlegen seien und deren Einfluß auf das Proletariat übertragen würden. Das ist wieder die Stimme eines Anarchisten.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008