Parvus

Zum Fall Heine

(27. Februar 1898)


Aus: Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 48 (27. Februar 1898), Beilage.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.



Wir haben uns mit dieser Angelegenheit bisher nur soweit beschäftigt, als es eben unumgänglich war, dass man allgemein in der Partei dazu Stellung nimmt. Im Besonderen ging ja die Sache vor allem die Berliner Parteigenossen an. Der Vorwärts, der in Berlin erscheint, der den ersten Bericht über Heines Versammlungsrede brachte, der dann Herrn Rechtsanwalt Heine in sehr freigebiger Weise seine Spalten öffnete, das war der Platz, auf dem sich die literarische Diskussion abzuwickeln hatte. Nun erfahren wir aber etwas, was uns kaum glaublich erschienen wäre, hätten wir nicht die Dokumente in den Händen.

Der Vorwärts, der so entgegenkommend dem Herrn Rechtsanwalt Heine gegenüber sich erwiesen hat, verweigert das Wort einem ruhigen und sachlichen Verteidiger des bisherigen Standpunktes der Partei!

Es ist der Genosse Georg Ledebour, gegen den Heine in der Versammlung wie auch in der späteren Auslassung im Vorwärts direkt polemisierte, den aber jetzt der Vorwärts trotz alledem nicht zu Worte kommen lässt. Diese Praktik wird jetzt in unserem Zentralblatt geübt: Wer auf eine sozialreformerische Umwandlung der Parteitaktik hinarbeitet, dem wird der breiteste Raum gewährt – wer aber die sozialrevolutionäre Taktik, welche bisher die Partei zu ihren großen Siegen geführt hat, verteidigt, dem wird, und wenn er auch persönlich angegriffen ist, das Wort entzogen, oder er wird totgeschwiegen.

Formell beruft sich die Redaktion des Vorwärts auf die Entscheidung der Reichstagsfraktion. Aber hat denn die Reichstagsfraktion den Beschluss gefasst, dass der Fall Heine nicht einmal mehr erörtert werden darf? Davon hat nichts verlautet, das war also nicht der Fall. Sie hätte auch gar keine Befugnis zu einem derartigen Beschluss. Die Reichstagsfraktion hatte aber eigentlich überhaupt nichts mit der Sache zu tun. Herr Rechtsanwalt Heine ist erst Kandidat, noch nicht gewählter Abgeordneter. Gewählter Abgeordneter des 3. Berliner Wahlkreises ist Genosse Vogtherr. Hat nun die Reichstagsfraktion eine Jurisdiktion über sämtliche Wahlkandidaten der Partei, vielleicht über jene der vergangenen Wahlperioden auch noch? Haben wir keine Parteileitung mehr? Ist die Fraktion die Parteileitung? Sitzt die Reichstagsfraktion zu Gericht über sich selbst oder die ganze Partei?

Wir haben diese Schlussfolgerungen gezogen, um zu zeigen, wie widersinnig die Gründe sind, mit denen der Vorwärts die Mundtotmachung Ledebours rechtfertigt. Die Reichstagsfraktion selbst hat so viel Einsicht in ihre Stellung innerhalb der Parteiorganisation, dass sie in ihrem Beschluss korrekt erklärte, „für sie“, für die Fraktion sei der Fall erledigt — Sache der Partei sei es also dann noch, das letzte Wort zu sprechen, wenn sie es für nötig hält. Möge also die Redaktion des Vorwärts für sich selbst sprechen, ihre Berufung auf die Fraktion ist lächerlich.

Da nun aus dem oben dargelegten sich klar ergibt, dass die große Masse der Berliner Parteigenossen, welche zweifellos auf dem Boden des Parteiprogramms und der bisherigen sozialrevolutionären Parteitaktik steht, keine Möglichkeit mehr besitzt, in ihrem eigenen Organ zu Worte zu kommen, so können wir nicht umhin, nachdem man sich an uns gewandt hat, den Vertretern der Ansichten dieser Genossen den verfügbaren Raum der Sächs. Arbeiter-Ztg. zu überlassen. Viel freilich ist es nicht, was wir bieten können, wir sind in unserem eigenen Hause sehr beschränkt, aber wenn es Not tut, so muss es sein – man weiß in Dresden ebenso gut wie anderswo in Deutschland die sozialrevolutionäre Bedeutung der Berliner Arbeiterschaft zu schätzen!

Wir geben demnach anschließend die Erwiderung, welche Genosse G. Ledebour an den Vorwärts schickte. Auch für unsere Leser wird der Zusammenhang klar sein, da wir seinerzeit die wichtigsten Stellen aus der Rede Heines mitgeteilt haben.
 

„Zur Frage der Kompensationspolitik

Da ich auf einer Agitationsreise abwesend war, kann ich erst heute einige Worte der Abwehr schreiben gegen die in der Sonntagsnummer des Vorwärts mitgeteilten Auszüge aus der Rede des Genossen Wolfgang Heine im 3. Berliner Reichstagswahlkreis, worin es heißt:

“Zunächst will ich noch meine Meinung dahin aussprechen, dass die Schlagworte „Radikalismus“ einerseits, „Opportunismus“ andererseits und „Klassenkampf“, so wie der Genosse Ledebour sie braucht, ohne weiteres auch nicht den Ausschlag geben können; man muss sich erst klar machen was man darunter versteht.“

Leser dieser Zeilen müssen glauben, dass ich nicht mit Gründen, sondern mit Schlagworten gekämpft habe. Nun habe ich aber ganz bestimmte Erscheinungen in unserer jüngsten Parteientwicklung, wie Bernsteins Artikel in der Neuen Zeit, Schippels Ausführungen zur sogen. Kanonenfrage und sein Verhalten in der Handelsvertragsdebatte als Anzeichen einer opportunistischen Taktik kritisiert. Da Genosse Heine nur auf die Militärfrage eingegangen ist, werde ich mich in meinen Ausführungen gleichfalls darauf beschränken.

Genosse Heine eröffnet seine Ausführungen mit einer Polemik gegen den vor Monaten von einem harmlosen Jüngling ausgesprochenen Gedanken, die Soldaten mit Leberwürsten statt mit Waffen auszurüsten. Er findet, dass das nicht im Einklang mit den Grundsätzen unseres Parteiprogramms stehe, und versichert, dass solche Witze auf ihn keinen Eindruck machen. Ich pflichte ihm vollkommen darin bei, dass jene Redensart ein recht alberner Witz war und meine, dass jemand durch solche Geschmacklosigkeiten nur die Sache schädigt, die er zu verteidigen glaubt. Nicht billigen kann ich es aber, dass Genosse Heine diesen albernen Witz, trotzdem er auf ihn „keinen Eindruck gemacht“ hat, doch monatelang aufgespeichert hat, um dagegen bei einer ernsten Gelegenheit zu polemisieren, denn er hat dadurch bei einem weniger aufmerksamen Teil der Versammlungsteilnehmer, noch mehr wahrscheinlich bei den Lesern des Auszugs im Vorwärts, den Glauben erweckt, als ob etwas ähnliches wie jene Albernheit in der Debatte im 3. Wahlkreise selbst vorgebracht worden sei. Ich halte es für ratsam, ausdrücklich zu betonen, dass zu einer solchen Annahme von keiner Seite ein Anlass gegeben wurde.

Es handelt sich in der Frage, die uns beschäftigt, nicht darum, ob unsere Soldaten mit Leberwürsten ausgerüstet werden sollen oder mit Kanonen, sondern darum, ob die Sozialdemokratie in die Lage kommen könne, durch Bewilligung von derartigen Militärforderungen wie Kanonen die Mitverantwortung für die Fortführung des heutigen Regierungssystems, das der adäquate bürokratisch-militärische Ausdruck des bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses ist, übernehmen zu müssen. Diese Möglichkeit ist es, die Genossen Schippel vor Augen schwebte, als er von der Zwickmühle sprach, in die wir geraten könnten und Genosse Richard Fischer wiederum hat in einer Versammlung im 2. Berliner Kreise die Schippelsche Zwickmühlenbesorgnis als einen neuen Gedanken gefeiert, an den die Partei sich ebenso werde gewöhnen müssen, wie sie sich an den Gedanken der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen gewöhnt habe.

Ich halte nun diesen „neuen Gedanken“ für sehr töricht und, wenn er Anklang finden sollte, höchst schädlich für unsere Partei. Wenn wir einmal in die Lage kommen sollten, die Entscheidung in Staat und Gesellschaft in der Hand zu haben, so werden wir das Militärwesen wie manche andere Einrichtungen in unserem Sinne abändern. So lange wir aber nur eine Minoritätspartei im Reiche und im Reichstage bilden, können wir gar nicht in die Lage kommen, zu Gunsten einer militärischen Forderung oder bürokratisch-militärischen Regierung gegen eine Opposition bürgerlicher Parteien den Ausschlag zu geben. Wir werden gerade in einer solchen Frage uns immer ablehnender verhalten müssen als irgendeine bürgerliche Partei. Indem wir aber die Möglichkeit als diskutabel hinstellen, dass wir für die Regierung zu Gunsten von Militärforderungen der fraglichen Art einmal den Ausschlag geben können, übernehmen wir bereits eine Art Mitverantwortung für den Fortbestand des bürokratisch-militärischen Regierungssystems und lähmen die Aktionskraft unserer Partei. Davor habe ich als vor einer Schädigung des Klassenkampfcharakters unserer Partei gewarnt.Genosse Heine hat nun den Schippelschen „neuen Gedanken“ noch weiter ausgebaut zu einer Kompensationstheorie. Er beruft sich zunächst darauf, dass der Vorwärts die Zentrumspartei getadelt habe, weil sie durch die Erklärung, die Flottenforderung zu bewilligen, dies „wichtige Kompensationsobjekt“ aus der Hand gegeben habe. Hat die Redaktion des Vorwärts einen solchen Standpunkt eingenommen, so hat sie damit zweifellos einen Bruch mit der früher unsererseits vertretenen Auffassung vollzogen, denn wir haben bisher die Zentrumspartei dafür getadelt, weil sie überhaupt Kompensationspolitik getrieben, also ihre Zustimmung zu Regierungsforderungen sich gegen Zugeständnisse auf kirchenpolitischem Gebiete habe abhandeln lassen. Aber nicht nur bei der Zentrumspartei, sondern überall, wo sie in unserem politischen Leben zu Tage trat, haben wir solche Schacherpolitik in scharfen Worten gebrandmarkt. Wir haben Hohn und Spott ausgegossen über die Konservativen, als sie die Parole ausgaben: „Kein Kanitz [1] keine Kähne!“ wir sind auch der Regierung gegenübergetreten, als sie für die notwendige Änderung des § 8 des Vereinsgesetzes Kompensationen in anderweitigen Verschärfungen des Vereinsgesetzes verlangte. Und jetzt will Genosse Heine der sozialdemokratischen Partei als Richtschnur für ihre parlamentarische Tätigkeit ein Verfahren anempfehlen, das wir stets auf das Schärfste verurteilt haben, wenn bürgerliche Parteien und Politiker zu ihm griffen?!

Indem Genosse Heine nur notwendige Kanonen als Kompensationsobjekt behandeln will, macht er es genau wie die Regierung mit dem § 8 des Vereinsgesetzes und die Agrarier mit den „Kähnen“, die sie auch für notwendig halten. Heine irrt sich auch, wenn er sich darauf beruft, dass Bebel „treffend die Analogie hervorgehoben hat, die zwischen einer Verbesserung der Kost der Soldaten und einer Verbesserung ihrer Schutz- und Angriffswaffen besteht.“ Nicht Bebel, sondern Auer hat in Verteidigung Schippels diese Analogie vorgebracht. Bebel hat sich sogar in einer Versammlung des 2. Berliner Wahlkreises ausdrücklich dagegen verwahrt. [A] Und mit vollem Recht. Denn für das warme Abendbrot der zum Dienst in den Kasernen gezwungenen Landeskinder treten wir aus den nämlichen humanitären Gründen ein, aus denen wir jeder Zeit die Verbesserung der Kost in den Gefängnissen bewilligen würden, trotzdem wir die jetzige Strafrechtspflege grundsätzlich bekämpfen und sie ebenso von Grund auf umgestalten werden wie das Militärwesen, sobald wir die Macht dazu haben.

Für die prinzipielle Stellung zu der Kompensationsfrage macht es auch gar keinen Unterschied, dass Genosse Heine nur einer „volksfreundlichen“, nicht aber „dieser Regierung“ die Kanonen bewilligen würde. Aus seinen ganzen Ausführungen geht hervor, dass ihm als möglichen Kontrahent für das Kompensationsgeschäft eine Regierung innerhalb des Rahmens des heutigen bürokratisch-militaristischen Regierungssystems vorschwebt, also nicht die Nummer Recke-Posadowsky, aber allenfalls Caprivi-Berlepsch [2], wie sie bei einem Umschlage des Zickzackkurses jeder Zeit wieder einmal an das Ruder kommen kann. Indem Heine im Zusammenhange damit sagt, dass man auf diese Weise den Kampf um die Erringung der politischen Macht für die Arbeiterklasse führen müsse, „wie man eben Kämpfe im Leben führt“, zeigt er, dass sein Blick nicht über die Schranken des scheinkonstitutionellen Systems hinausreicht. Schon bei dem wirklichen parlamentarischen System führen auch die bürgerlichen Parteien nicht den Kampf mit den Mitteln der Kompensationspolitik. Sie haben das gar nicht nötig, denn in dem Augenblick, in dem sie die Mehrheit im Parlament haben besetzen sie auch die Regierung mit ihren Männern. Nur der demütigen Unterwerfung des deutschen Bürgertums unter das bürokratisch-militärische Regierungssystem, das aus sich heraus ohne Rücksicht auf Parlamentsmehrheiten die Regierung besetzt, ist es zu danken, dass die Kompensationspolitik sich überhaupt einbürgern konnte. Sie hat aber noch jede Partei korrumpiert, die sich in ihnen versucht hat. Die Sozialdemokratie würde ihre ganze Zukunft drangeben, wenn sie dieses kleinliche Mittel adoptieren würde, und dabei verspricht ihr diese Politik auch in der Gegenwart nicht einmal einen augenblicklichen Erfolg.

Genosse Heine schließt seine Ausführungen mit der rhetorischen Wendung: „Wer denkt, dass wir eines Morgens in der fertigen sozialistischen Gesellschaft aufwachen würden, mit dem lehne ich jede Diskussion ab, von dem trennen mich in der Tat prinzipielle Unterschiede!“ Ich brauche wohl kaum zu betonen, dass solchen Unsinn auch kein einziger der Redner in jener Versammlung im 3. Wahlkreis vorgebracht hat. Auch wir glauben, dass wir nur Schritt für Schritt und in beständigem Kampfe uns unserem Ziele nähern können. Wir wollen dazu aber nur die wirklich zweckmäßigen, unseren Zielen und unserem Parteicharakter entsprechenden Mittel gebrauchen, nicht solche Mittel wie Heine sie empfiehlt, die wir opportunistische nennen, weil sie nur zweckmäßig scheinen, tatsächlich uns aber der nämlichen Versumpfung zuführen würden, der die bürgerlichen Parteien in Deutschland verfallen sind.

Berlin-Halensee, 23. Febr.
G. Ledebour

Nachschrift. Die vorliegenden Zeilen waren geschrieben, ehe die Fraktion ihre Erklärung zu der Kompensationsfrage gefasst hatte. Diese Erklärung kann mich nicht veranlassen, von meinen Ausführungen irgendetwas zurückzunehmen. Die prinzipielle Stellung des Genossen Heine hat sich nicht um Haaresbreite dadurch geändert, dass er nicht „mit dieser Regierung“, wie er frühe sagte, sondern nicht „mit dem herrschenden System“ sich auf eine Kompensationspolitik einlassen will. Das kommt nur auf eine Wort, nicht auf eine Sinnesänderung heraus. Ich habe nachgewiesen, dass ein Kompensationshandel zwischen einer Regierung und politischen Parteien nur da vorkommen kann, wo eine bürokratische, durch unkontrollierbare Einflüsse ernannte Regierung der Volksvertretung gegenübersteht, weil ein parlamentarisches Regime die Kompensationsgeschäfte von vornherein ausschließt. Sobald man einmal die Kompensationspolitik im Prinzip als das richtige Mittel „zur Eroberung der politischen Macht“ anerkennt, hängt es nur noch von taktischen Erwägungen ab, ob das jeweilige „herrschende System“ sich „volksfreundlich“ genug ausnimmt, um einen Versuch mit dem Kompensationsgeschäft gerechtfertigt erscheinen zu lassen.

G. L.“

* * *

Anmerkungen

1. Hans Wilhelm Alexander Graf von Kanitz (1841–1913) war 1889–1913 Reichstagsabgeordneter der Deutsch-Konservativen Partei

A. Man vergleiche dazu Bebels Ausführungen in der Neuen Zeit, Nr. 4, Jahrgang 97/98. (Red. d. Sächs. Arb-.Ztg.)

2. Leo Graf v. Caprivi (1831–1899) war 1890–94 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident. Hans Freiherr von Berlepsch (1843–1926) war 1890–96 preußischer Minister für Handel und Gewerbe. Sie kamen nach der Entlassung Bismarcks an der Regierung, als Kaiser Wilhelm II. mit „sozialem Kaisertum“ kokettierte. Eberhard Freiherr von der Recke von der Horst (1847–1911) war 1895–99 preußischer Innenminister. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845–1932) war 1897–1907 Staatssekretär des Reichsamts des Innern, Vizekanzler und preußischer Staatsminister. Sie versuchten neue Unterdrückungsgesetze gegen die Arbeiterbewegung (“Umsturzvorlage“, „Zuchthausvorlage“)


Zuletzt aktualisiert am 27. April 2024