Anton Pannekoek

 

Gewerkschaftliche Demokratie

(17.12.1910)


Zuerst erschienen in der Presse Korrespondenz der „Bremer Bürgerzeitung“ vom 17.12.1910.
Abgedruckt in Claudio Pozzoli (Hrsgb.): „Jahrbuch Arbeiterbewegung 1975“, Frankfurt a.M.: Fischer, 1975, S. 147-151.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


In der letzten Zeit tritt die Frage der Demokratie in den Gewerkschaften immer mehr in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Wiederholt hat sich eine Missstimmung zwischen den Beamten und den Mitgliedern gezeigt; es wird darüber geklagt, dass diese Beamtenschaft sich zu einer Bürokratie entwickelt, die sich der Arbeitermasse entfremdet und sich immer mehr Macht anmaßt. Verschiedentlich hat sich diese Missstimmung in scharfen Konflikten geäußert, wie in Mannheim, in Stettin, in Hamburg. So musste von selbst bei allen, die in der Arbeiterbewegung mitkämpfen, die Frage aufkommen, ob wir uns mit der heutigen Entwicklung auf dem richtigen Wege befinden, und mit welchen Maßnahmen künftighin solche Konflikte zu vermeiden seien.

Nun versteht es sich, dass die Entwicklung, woraus diese Konflikte entsprießen, unvermeidlich und notwendig ist. So lange die Gewerkschaften kleine Vereine bildeten, konnte jedes Mitglied sich an allen Arbeiten und allen Entscheidungen beteiligen. Als sie größer wurden, war die Leitungs- und Verwaltungsarbeit nicht mehr im Nebenamt zu besorgen; immer mehr mussten Beamte angestellt werden. Die Führer, die die Leitung der Lohnkämpfe hatten, mussten sich unabhängig von den Unternehmern völlig dieser Aufgabe widmen können. So wuchsen die Gewerkschaften zu riesigen Massenorganisationen auf, mit einer ganzen Armee von Angestellten, zentralen Vorständen, lokalen und verwaltenden Beamten. Und diese zentralen Leitungen, die all ihre Zeit und Aufmerksamkeit auf die Kriegsführung richten, gewinnen dabei so viel Erfahrung, Geschicklichkeit und Kenntnisse, dass sie allein imstand sind, alle Chancen gut abzuwägen, die auf den Erfolg Einfluss ausüben. So muss die Leitung des Kampfes sich immer mehr in ihren Händen konzentrieren; die Mitglieder werden immer mehr ausgeschaltet, da sie das Ganze doch nicht überblicken können; auch wo demokratische Vertretungen bestehen, die formell mit entscheiden, wird ihre Rolle tatsächlich darin bestehen, dass sie zustimmen, was die Zentralleitung vorschlägt. Um dieser allmählichen Ausschaltung der Mitglieder, die eine Gefährdung der Demokratie bedeutet, entgegenzuwirken, sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, so neulich in der „Neuen Zeit“ der Vorschlag, zum Versammlungszwang aller Mitglieder überzugehen. Andere dagegen nehmen die Konsequenzen dieser Entwicklung als unvermeidlich und gut an; die Massen sind zum Urteilen unfähig, daher müssen die Führer, die allein über alles urteilen können, auch die Macht dazu haben. So hat Genosse v. Elm neulich in einem Vortrage in Hamburg viele Beispiele dafür angeführt, dass die Masse launenhaft und unberechenbar ist, und es daher gefährlich ist, ihr wichtige Entscheidungen zu überlassen. Wo es Konflikte gab, war, nach dieser Auffassung, die Masse im Unrecht, handelte es sich um Auflehnung einer unwissenden Menge gegen die Vernunft der Leitung. Daher ist es vor allem nötig, dass die Massen vertrauensvoll der Führung der Vorstände gehorchen; wer die Masse verhimmelt, als wisse sie alles am besten, schädigt, die Gewerkschaftsbewegung genau so, wie derjenige, der Misstrauen gegen die Führer predigt.

Wer aber hier nichts anderes als die Frage sieht: wer ist besser befähigt, über einen Lohnkampf zu beschließen, die urteilslose Masse oder die weit blickenden Führer – der übersieht völlig den wirklichen Grund der Missstimmung und der Konflikte. Dieser Grund ist bei den Gewerkschaftsbeamten selbst zu suchen. Wenn die Arbeiter sehen würden, dass diese Beamten eines Geistes mit ihnen wären, im Denken und Fühlen völlig mit ihnen übereinstimmten, so würden sie viel mehr unbesehen und vertrauensvoll ihrer Führung folgen. Statt dessen sehen die Arbeiter, wie die Mehrzahl dieser Beamten in der Grundanschauung sich von ihnen entfernt; wie sie sich an die Politiker anlehnt, die auf ein Entgegenkommen an die bürgerliche Welt hinarbeiten; wie die Vorstände die Beamten theoretisch ausbilden lassen von Personen, die sich durch ihren bürgerlichen Standpunkt in der Partei unmöglich machten; wie sie sich gegen die Theorien und die theoretische Durchbildung, die die Arbeiter als Quelle ihrer Kraft erkennen, gleichgültig, skeptisch oder gar feindselig verhalten. Die Masse der im Kampf vornanstehenden Arbeiter ist revolutionär, will möglichst scharf den Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft führen; die Masse der Gewerkschaftsbeamten ist revisionistisch gesinnt. Das ist der tiefste Grund des Misstrauens; daher fürchten die Arbeiter, auch in Fällen, wo die Furcht grundlos ist, dass je des Mal eine allgemeine grundsätzliche Abneigung gegen den Kampf der Grund des „Bremsens“ ist. Man hat es Bebel verübelt, dass er Misstrauen gegen die Führer predigte; man sollte lieber von ihm lernen, wie er sich immer das schrankenlose Vertrauen der Massen erhielt. Trotz gelegentlicher sachlicher Differenzen blieb ihm das gesichert, weil die deutsche Arbeiterklasse immer das Beste, was in ihr lebt, ihre revolutionäre Begeisterung, in ihm verkörpert fand. Nun kann das so wenig ein persönlicher Vorwurf gegen jene Beamten bedeuten, wie der Nachweis der Ursache des Gegensatzes ihn aus dem Wege schaffen kann. Es ist schon oft dargelegt worden, wie diese revisionistischen Anschauungen notwendig aus den besonderen Verhältnissen des Gewerkschaftskampfes entstehen müssen. Mag es auch richtig sein, dass der Einzelne sich durch Pflege des theoretischen Studiums zu einem bedeutenden Teile von der Wirkung seiner unmittelbaren Verhältnisse frei machen kann, für die Masse sind diese Verhältnisse maßgebend. Die Masse der Gewerkschaftsbeamten muss die ganze Kraft und Aufmerksamkeit auf die Verwaltung der Gewerkschaften und die Führung des Lohnkampfes richten: Diese spezielle Fähigkeit müssen sie aufs höchste ausbilden; die Welt der gewerkschaftlichen Organisation, der verschiedenen Formen des Kampfes und des Vertrages mit den Unternehmerorganisationen ist ihre Welt. Auf die Masse der Arbeiter dagegen, die unmittelbar unter der Ausbeutung lebt, wirken alle Seiten des proletarischen Befreiungskampfes zugleich ein. Ihr fehlen die Fähigkeiten, die eine Spezialität der Beamten sind, weswegen diese Beamten auch notwendig sind. Dafür ist sie ihnen an allgemeiner gesellschaftlicher Einsicht, an klarem Klassenbewusstsein, an revolutionärem Empfinden überlegen.

Die Theorie, dass die urteilslose Masse vertrauensvoll der Führung der Führer folgen soll, ist daher falsch. Die Einzelheiten, die Tagespraxis der Kampfführung muss sie den Beamten überlassen, aber die allgemeine Richtung muss sie selbst bestimmen. Eine Entwicklung, wodurch die Beamten eine immer größere Macht über die Mitglieder bekommen, wäre eine verhängnisvolle Entwicklung. Insoweit sind die gelegentlichen Konflikte, wenn auch nicht die Form immer die richtige war, als Symptome erfreulich, als Beweise, dass die Mitglieder selbst die allgemeine Leitung und Richtung bestimmen wollen. Darin liegt das Problem der gewerkschaftlichen Demokratie, das für jeden Arbeiter von höchster Wichtigkeit ist: die Formen ausfindig zu machen, wodurch die Mitglieder ihre revolutionäre Anschauung in der Leitung und der Propaganda maßgebend machen können, ohne durch schwerfällige Kontrollinstanzen die Aktionsfreiheit der Beamten, wo diese nötig ist, zu beeinträchtigen.

Man hat bisweilen die Furcht geäußert, die heutige Entwicklung der Gewerkschaftsdemokratie nehme denselben Lauf, wie die der alten staatlichen Demokratien, wo auch die Beamten mit ihrer wachsenden Zahl zu einer geschlossenen Bürokratie mit eigenen Interessen und dann, wegen ihrer Notwendigkeit, allmählich von Dienern zu Herren wurden. Allein, zu einer solchen Entwicklung fehlen hier die Grundbedingungen. Die gewerkschaftliche Organisation ist keine Welt für sich; sie steht als eine kämpfende Armee mitten im Feindesland. Wie bei jeder Armee ist hier einheitliche Führung nötig, sollen nicht schwere Verluste erlitten werden. So erklärt sich die große Macht der Vorstände aus den Bedingungen des Kriegszustandes. Aber diese Bedingungen sind nicht unveränderlich. Diese ganze ausgebildete Organisationsform entspricht einer Periode des Klassenkampfes, worin das Proletariat zwar für Verbesserung seiner Lage kämpft, aber noch nicht ein ernsthaftes Ringen um die Herrschaft selbst begonnen hat. In dem Maße, wie dies anfängt, wie die Arbeiter gezwungen werden, diese große Organisationsmacht in dem Kampf um politische Grundrechte anzuwenden, treten allmählich neue Kampfbedingungen auf. Dann hilft weder die spezielle Fähigkeit der Beamten, noch die Weisheit der Führer mehr; diese politischen Massenkämpfe stellen ganz andere Aufgaben als der Lohnkampf gegen die Unternehmer; hier kommt alles auf die klare Einsicht und die Selbständigkeit der Massen an. Dann geht die Führung von selbst aus den Händen der Führer in die der Massen über. Das soll nicht besagen, dass man also alles ruhig der Zukunft überlassen kann, die alles in Ordnung bringt. Würde man eine Entwicklung, die die Massen von Leitung immer mehr ausschaltet, ruhig weiter gehen lassen, so würde ein späterer Umschwung sich nur als Katastrophe, unter schwerer innerer Schädigung der Organisation durchsetzen. Daher vor allem ist zu begrüßen, wenn die Mitglieder in Fragen der allgemeinen Richtung und Propaganda, wie z.B. in der Frage der Erörterung des Massenstreiks, gegen die Beamten ihren Willen durchsetzen. Je mehr die Mitglieder ihre revolutionären Auffassungen schon jetzt in der Leitung der Gewerkschaften zur Geltung bringen, um so besser und leichter werden sich die Organisationen neuen Kampfesbedingungen anpassen können.


Zuletzt aktualisiert am 13. Dezember 2019