Paul Mattick


[Rezension von D. B. Rjazanov „Marx und Engels nicht nur für Anfänger“]

(September 1974)


Aus: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, 10 Jg., September 1974, Heft 3, S. 376.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



RJAZANOV, David B.: Marx und Engels nicht nur für Anfänger. Nachwort von Bernd Rabehl. - Westberlin: Rotbuch Verlag 1973. 190 S. (= Rotbuch 105).


Diese Darstellung der Marxschen Theorie im Zusammenhang der internationalen Arbeiterbewegung setzt sich aus einer Reihe von Vorträgen zusammen, die Rjazanov 1922 in Moskau gehalten hat. Sie sind „nicht nur“ für Anfänger in dem Sinne, daß die einfache Art des Vortrags nicht auf Kosten des theoretischen Inhalts erreicht wird, obwohl dieser selbst notwendigerweise in bestimmten Grenzen gehalten ist. Sie haben die Form einer Doppelbiographie im Lichte der von Marx und Engels erlebten gesellschaftlichen und geschichtlichen Situationen. Rjazanov hält es für notwendig, hervorzuheben, daß es wohl nicht richtig sei, die Rolle der Massen im geschichtlichen Geschehen zu untertreiben, um der der Persönlichkeiten eine überaus große Bedeutung zuzumessen und bemüht sich, dieser Tendenz entgenzuarbeiten.

Die biographischen und geschichtlichen Daten sind aus vielen ähnlichen Arbeiten weitgehend bekannt. Doch mißt Rjazanov Marx eine größere organisatorisch-praktische Rolle in der Arbeiterbewegung zu, als es gewöhnlich der Fall ist. Die intellektuelle Entwicklung von Marx und Engels wird - im engsten Zusammenhang mit den politischen Ereignissen von der großen Französischen Revolution bis zum Revolutionsjahr 1848 — aus deren Kritik an Hegel und Feuerbach abgeleitet. Oft vernachlässigte Momente in der Geschichte des Marxismus werden hervorgehoben und bezeugen Rjazanovs Bestreben nach Objektivität. So verweist er z.B. auf die Haltung der „Neuen Rheinischen Zeitung“, die sich ausschließlich als „Organ der Demokratie“ verstehen wollte, auch um den Preis eines Konfliktes mit den mehr ausgesprochen proletarischen Bedürfnissen, wie sie im Kölner Arbeiterverein vertreten wurden. Rjazanov scheut sich auch nicht, die internationalen Londoner Zusammenkünfte , die schließlich zur Ersten Internationale führten, als Unternehmen zu bezeichnen, die „unter Beteiligung und Ermunterung der Bourgeoisie und der herrschenden Klassen vor sich gingen“. Obwohl nachträglich eingeladen, hatte Marx selbst keinen Anteil an der Bildung der Internationale.

Obwohl Rjazanov die Rolle der Massen in der Geschichte nicht untertreiben möchte, hat er als Marxforscher doch wenig Respekt für die akademisch ungebildeten Vertreter sozialistischer Ideen. Mit Bezug auf Weitling und Proudhon schreibt er, „der Autodidakt hat es, wie man sagt, immer darauf abgesehen, aus seinem eigenen Kopf etwas extra-neues herauszufinden, irgendeinen ausgeklügelten Aspekt zu finden, wobei er häufig in die Lage kommt, unter großem Kräfteverschleiß ein längst entdecktes Amerika zu entdecken“. Dies ist offensichtlich kein Privileg der Autodidakten, sondern auch unter den Gelehrten eine weitverbreitete Erscheinung. Dem Autodidakten Proudhon schreibt Rjazanov weiterhin eine „menschewistische Taktik“ zu, d.h. das Bemühen, „legale Möglichkeiten auszunutzen“. Aber diese „Taktik“ war auch dem gebildeten Menschewisten Rjazanov bis zum August 1917 nicht fremd und wurde später gegen ihn ausgenutzt, um ihn in die Verbannung und den Tod zu schicken. Bernd Rabehl tut in einem Nachwort, wenn auch in kleinerem Maßstab, was Rjazanov in diesem Buch für Marx und Engels tat.


Zuletzt aktualisiert am 16.1.2009