Paul Mattick


Tod im Exil

Roman Rosdolsky: Das symbolische Schicksal eines osteuropäischen Marxisten

(Oktober 1971)


Aus: Die Zukunft, Sozialistische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, Wien, Heft 19/20, 1971, S. 35f
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



Roman Rosdolsky sollte die Veröffentlichung seiner letzten größeren Arbeit, die unter dem Titel „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapitals“ bei der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt am Main kürzlich erschienen ist, nicht mehr erleben. 1898 in Lwow (Lemberg) in der Ukraine geboren, starb er im Oktober 1967 in Detroit. Der Charakter seiner letzten Arbeit und die Stadt, in der er starb, kennzeichnen sowohl den Mann wie sein Schicksal. Die scheinbare Hoffnungslosigkeit einer sozialistischen Entwicklung, wie sie sich im amerikanischen Kapitalismus darbietet, veranlaßte Rosdolsky nur dazu, den Marxismus und die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft eingehender zu untersuchen. Ein Leben voller politischer Enttäuschungen konnte bis ans Lebensende seine Überzeugung nicht erschüttern, daß dem Sozialismus die Zukunft gehöre.

Daß er in der Ukraine aufwuchs und unter dem Einfluß seines Vaters, Ossip Rozdolskyj — eines anerkannten ukrainischen Philologen — stand, erklärt hinreichend, daß die Nationalitätenfrage eine besondere Bedeutung für Roman Rosdolsky gewann und ihn zeit seines Lebens beschäftigte. Sie führte unter anderem zu der im Archiv für Sozialgeschichte veröffentlichten kritischen Arbeit über „Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen Völker’„. Marx und Engels hielten die slawischen Völker Österreich-Ungarns nicht nur für unfähig zur nationalen Selbständigkeit, sondern im Rahmen der damaligen Völkerbeziehungen und vom Standpunkt der westeuropäischen Revolution für reaktionär und konterrevolutionär. Rosdolsky wies nach, daß diese Einstellung eine Fehlprognose war, und setzte sich für den Leninschen Standpunkt des Selbstbestimmungsrechtes aller Nationen ein. Die Verschmelzung der Nationen auf lange Sicht war für ihn nur erreichbar auf dem Weg der vollen nationalen Freiheit der unterdrückten Völker, und sein Internationalismus ließ ihn nicht an dieser Befreiung zweifeln.

Während Rosdolskys Jugend gehörte ein Teil der Ukraine und die Stadt Lwow zu Österreich, fiel aber nach 1918 an Polen. Mit dem Hitler-Stalin-Vertrag wurde dieses Gebiet der Sowjetunion einverleibt. 1941 von den Nazis erobert, wurde es 1944 wieder der Sowjet-Ukraine angegliedert. Rosdolsky hatte daher verschiedene „Nationalitäten“ und nahm dementsprechend an der österreichischen sozialistischen Bewegung teil, der er sich bereits als Gymnasiast angeschlossen hatte, und später an der ukrainischen und polnischen Bewegung. Er wurde 1915 in die österreichische Armee eingezogen und schloß sich dem linken Flügel der österreichischen Sozialdemokratie an. Unter dem Einfluß von Friedrich Adler gründete Rosdolsky zusammen mit anderen eine illegale sozialistische Jugendorganisation, die nach der bolschewistischen Revolution den Kern der Kommunistischen Partei der West-Ukraine und später eine Sektion der Kommunistischen Partei Polens bildete.

Studium in Wien

Nach dem ersten Weltkrieg studierte Rosdolsky in Wien und wurde dort zum Doktor der Staatswissenschaften promoviert. Ende der zwanziger Jahre begann er als Wiener Korrespondent für das damals noch von D. Rjazanov geleitete Moskauer Marx-Engels-Institut zu arbeiten und nach Material über Marxismus und Arbeiterbewegung in den Wiener Archiven zu forschen. 1934 kehrte er nach Lwow zurück und begann dort seine akademische Laufbahn als Assistent von Professor. Franciszek Bujak, eine Position, die er bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges bekleidete. Während dieser Zeit schrieb er die von der Universität Lwow veröffentlichte Monographie „Die Dorfgemeinde in

Ost-Galizien und ihr Zerfall“ und ein zweibändiges Werk über die „Leibeigenschaft in Galizien“, welches, infolge des Krieges zerstört, 1962 in Warschau erneut herausgegeben wurde. Es war ohne Zweifel Rosdolskys intensives Interesse an der Bauernfrage des Ostens und an der Bauernbewegung, die ihn so eng mit der Leninschen Konzeption der Arbeiter- und Bauernrevolution verband und ihn zur Annahme der Leninschen Interpretation des Marxismus führte.

An der Seite der Trotzkistischen Opposition

Es war vom Standpunkt eines radikal verstandenen Leninismus, daß Rosdolsky sich gegen die Stalinistische reaktionäre Wendung der kommunistischen Parteien wandte und sich an die Seite der Trotzkistischen Opposition stellte. Nur dem Zufall, daß er nicht in der Sowjetunion lebte, war es zu danken, daß er nicht wie viele seiner Parteifreunde dem Stalinistischen Terror zum Opfer fiel. Die gesamte Führerschicht der Ukrainischen Kommunistischen Partei wurde von Stalin liquidiert. Rosdolsky entrann jedoch nicht den Nazis und verbrachte einen großen Teil der Kriegsjahre in den Konzentrationslagern von Auschwitz, Ravensbrück und Oranienburg. Nach dem Krieg leitete er für kurze Zeit eine Gewerkschaftsschule in Österreich, wanderte dann aber im Sommer 1947 nach Amerika aus.

In Amerika fand Rosdolsky vorübergehend eine Anstellung an einer Universität, hatte aber keine Chance zur Aufnahme einer zweiten akademischen Laufbahn. Dagegen sprachen nicht nur seine politische Haltung, sondern auch sein schon vorgeschrittenes Alter und eine mangelnde Kenntnis der englischen Sprache. Er arbeitete für verschiedene europäische Archive und widmete sich seiner wissenschaftlichen Arbeit. Es entstand neben den schon erwähnten deutschsprachigen Büchern ein Werk über österreichische Agrarreformen, das unter dem Titel „Die große Steuer- und Urbarialregulierung Josefs II.“ 1961 von der Akademie der Wissenschaften in Warschau veröffentlicht wurde. Unter anderem bereitete er ein Buch über den Frieden von Brest-Litowsk und die deutschösterreichische Arbeiterbewegung vor. Obwohl er durch die Umstände der amerikanischen Situation nicht mehr politisch aktiv war, blieb sein Interesse an allen Fragen der internationalen revolutionären Bewegungen lebendig. Auf Grund seiner Verbundenheit mit der Leninschen Lehre stand er in seiner Ablehnung des Kapitalismus und auch des russischen Systems bis zuletzt in der Nähe, aber nicht innerhalb der Trotzkistischen Organisation.

Ein einsamer Revolutionär

Die vom Standpunkt des Sozialismus negative russische Entwicklung und der damit zusammenhängende Zerfall der internationalen kommunistischen Bewegung konnten Rosdolskys frühe Begeisterung für die bolschewistische Revolution nicht zerstören. Während er die Verstaatlichung der Produktionsmittel als ausreichende Maßnahme zur Abschaffung des kapitalistischen Systems ansah, hielt er dies jedoch nicht für ausreichend, um die sozialistische Gesellschaft zu verwirklichen. Für ihn war die Sowjetunion kein Arbeiterstaat, sondern eine Form von Staatssozialismus, der mit dem Sozialismus selbst nicht identisch ist und der Gefahr ausgesetzt ist, zu einer neuen Klassengesellschaft zu werden. Er setzte jedoch seine Hoffnung auf sozialistische Umwälzungen in anderen Ländern, die dieser Möglichkeit eine Schranke setzen würden. So begrüßte er denn jedes Zeichen einer inneren Opposition gegen die Stalinistischen Regierungsmethoden und jede revolutionäre Gärung und Bewegung in den kapitalistischen Ländern. Da ihm die Unabhängigkeit der unterdrückten Völker besonders am Herzen lag, war sein Tun und Denken in den letzten Jahren seines Lebens der Protestbewegung gegen den amerikanischen Imperialismus in Vietnam zugewandt, und es war ihm eine große Freude, die wachsende linksgerichtete Politisierung der Jugend in allen Ländern noch mitzuerleben. Das Leben revolutionär denkender Menschen in den letzten zwei Jahrzehnten in Amerika war ein recht einsames. Obwohl er ein geselliger Mensch war, brauchte Rosdolsky keine Anerkennung, um sinnvoll zu leben und zu arbeiten. Mit der sozialistischen Bewegung entstand auch, was man einen sozialistischen Charakter nennen könnte, und Rosdolsky war nicht nur in theoretischer Hinsicht, sondern in seiner ganzen Persönlichkeit ein Sozialist. Obwohl prinzipienfest, war er doch kein Dogmatiker und eine gesunde Anlage zum Humor unterstrich noch die humanistische Seite seiner sozialistischen Überzeugung. Er stellte das Gemeinsame über das Persönliche, und eine durchaus grundlose schlichte Bescheidenheit verlieh seinen Arbeiten einen besonderen Ernst. In der Vorrede zu seiner Arbeit über Marx’ „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ schrieb er, daß er sie nicht unternommen hätte, wenn es heute noch — wie im ersten Drittel unseres Jahrhunderts — eine Schule marxistischer Theoretiker gäbe, die dieser Aufgabe gewachsen wären. Indes: Die letzte Generation namhafter marxistischer Theoretiker ist zumeist dem Hitlerischen und dem Stalinschen Terror zum Opfer gefallen. Es war auf Grund dieser Situation, daß er es für angebracht hielt, die unterbrochene Weiterbildung des Marxismus durch eigene Bemühungen zu fördern.


Zuletzt aktualisiert am 16.1.2009