Paul Mattick

Der Leninismus und die Arbeiterbewegung des Westens

1970


Veröffentlicht: in Lenin. Revolution und Politik. Aufsätze von Paul Mattick, Bernd Rabehl, Juri Tynjavow und Ernest Mandel, Frankfurt am Main, 1970.
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Der Leninismus umfaßt die Theorie und Praxis der russischen Revolution. Lenin und die Bolschewiki machten ihre Revolution jedoch im Namen des Marxismus. Ihr Erfolg führte zu dem Begriff Marxismus-Leninismus als Ausdruck der modernen Theorie und Praxis der Weltrevolution und damit auch der proletarischen Revolutionen in Westeuropa und Nordamerika. Die Synthese der bolschewistischen Praxis mit der Marxschen Theorie enthielt von Lenins Seite her jedoch nur organisatorische Neuerungen, und auch dies nur im Sinne eines Rückgriffs auf frühere, schon überholte Organisationsformen revolutionärer Minderheiten im Kampf um die politische Macht. Lenin selbst hielt sich für einen orthodoxen Marxisten und erhob keinen Anspruch auf Originalität. Seiner Auffassung nach war es nicht möglich, über Marx hinauszugehen, und so bemühte er sich in seinen theoretischen Arbeiten um nichts weiter als den Nachweis, daß die Marxschen Lehren mit der wirklichen Entwicklung im Einklang standen.

Marx hatte seine Theorie der proletarischen Revolution zu einer Zeit entwickelt, in der die dafür notwendigen objektiven Bedingungen noch nicht vorhanden waren. Die Möglichkeit einer solchen Revolution war jedoch in den sozialen Widersprüchen des kapitalistischen Systems enthalten. Das 19. Jahrhundert stand noch im Zeichen der unvollendeten bürgerlichen Revolution. Der proletarische Klassenkampf war damit zugleich Teilnahme an der bürgerlichen Revolution, und zwar in einem doppelten Sinn: einerseits zur Förderung der kapitalistischen Entwicklung, als notwendige Vorbedingung der proletarischen Revolution, andererseits zur Ausnutzung der kapitalistischen Institutionen für die Erkämpfung besserer Lebensbedingungen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Diese zwiespältige Haltung der bürgerlichen Entwicklung gegenüber charakterisierte die marxistische Arbeiterbewegung. Allerdings gewann das bejahende Element die Oberhand, als die rapide kapitalistische Entfaltung zu einer temporären Stabilisierung der Gesellschaft führte und dem proletarischen Klassenbewußtsein die revolutionäre Pointe nahm.

Als die russische sozialistische Bewegung in Erscheinung trat, hatte die westeuropäische Arbeiterbewegung bereits ihren revolutionären Elan verloren. Abgesehen von rein ideologischen Bekenntnissen zum Sozialismus, begnügte sich deren Tätigkeit mit der im kapitalistischen System möglichen Sozialpolitik und der Verteidigung der Arbeiterinteressen auf dem Arbeitsmarkt. Die diesbezüglichen Erfolge nährten die wachsende Illusion einer friedlichen Verwandlung des Kapitalismus in eine sozialistische Gesellschafts-ordnung, die sich im Rahmen der parlamentarischen Demokratie vollziehen sollte. Diese Verwandlung der Arbeiterbewegung fand ihren theoretischen Ausdruck im sozialdemokratischen Revisionismus und ihre praktische Auswertung in der „rein ökonomistischen” Gewerkschaftsbewegung. Für eine gewisse Zeit wurde dieser Vorgang ideologisch verdeckt, und zwar durch den Scheinkampf der „Marx-Orthodoxie” gegen den Revisionismus, der allerdings nur mit dem Sieg der revisionistischen Praxis enden konnte.

SPONTANEITÄT UND ORGANISATION

Das mangelnde revolutionäre Interesse des Proletariats konnte verschieden ausgelegt werden. Im allgemeinen war es die gesellschaftliche Lage der Arbeiter, der Grad ihrer Ausbeutung und das Erziehungsmonopol der bürgerlichen Herrschaft, die für das mangelnde Klassenbewußtsein verantwortlich gemacht wurden. Oft wurde den Arbeitern überhaupt die Fähigkeit abgesprochen, selbst Mittel und Wege zu ihrer Befreiung zu finden. Nach Karl Kautsky z.B. war die Idee des Sozialismus, der allerdings das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit zugrunde lag, nicht aus der Arbeiterschaft hervorgegangen, sondern von bürgerlichen Intellektuellen geformt worden. In Übereinstimmung mit ihm erklärte Lenin, daß die Arbeiter im allgemeinen nur die Fähigkeit haben, ein gewerkschaftliches Bewußtsein zu entwickeln, nicht aber die revolutionäre Theorie, ohne die es keine revolutionäre Bewegung geben könne. Hier lag die Aufgabe der revolutionären Intelligenz und der von ihr bestimmten Organisationen.

Für Marx war es selbstverständlich, daß der Sozialismus nicht das ausschließliche Privileg der arbeitenden Klasse ist. Auch zu anderen Klassen gehörende Personen konnten aus humanistischen oder Erkenntnisgründen Sozialisten werden und sich auf die Seite des Proletariats stellen. Das Hinüberwechseln von der Bourgeoisie zum Proletariat ist ebenso möglich wie die Verbürgerlichung vieler Arbeiter. Das ändert jedoch nichts an der gesellschaftlichen Klassenteilung und den Klassenkämpfen als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung. Und hier wird die Theorie des Sozialismus zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Arbeiter selbst haben den Sozialismus zu verwirklichen, und Marx zweifelte nicht daran, daß sich die Arbeiterklasse durch die moderne Industrie und die kapitalistischen Arbeitsbedingungen zur revolutionären Klasse entwickeln würde.

Der Kapitalismus war jedoch lebensfähiger, als Marx es erwartet hatte, und ohne gesellschaftlichen Zwang zu revolutionärem Handeln erschöpft sich der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit in Fragen der Verteilung und läßt die Produktionsverhältnisse unangetastet. Das Proletariat blieb bei dem Gewerkschafts-bewußtsein und der Sozialpolitik stehen, nicht weil ihm die Fähigkeit fehlte, revolutionär zu denken und zu handeln, sondern weil es vorerst keine Neigung hatte, seine Lebensbedingungen auf revolutionärem Wege zu ändern. Man riskiert Leben und Freiheit nur in ausweglosen Lagen, nicht aber unter Bedingungen, die als erträglich gelten. Der Opportunismus und Reformismus um die Jahrhundertwende entsprach nicht nur den direkten Interessen der Partei und Gewerkschaftsbürokratie, sondern auch denen der organisierten arbeitenden Bevölkerung.

Daß die Zeit der Zweiten Internationale keine revolutionäre war, obwohl die westeuropäische Arbeiterbewegung in ihr groß wurde, erwies sich in höchst dramatischer Weise durch ihren Zusammenbruch zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Es waren nicht nur die Führer, die sich vom Sozialismus zum Imperialismus wandten, sondern auch die ihnen nachfolgenden Massen. Die Intellektuellen, die angeblichen Träger der revolutionären Theorie, verfielen dem nationalen Chauvinismus nicht weniger als die sich auf die täglichen Lohnkämpfe beschränkenden Arbeiter. Aber da Lenin von den letzteren nicht mehr erwartete, ja in der sogenannten „Arbeiteraristokratie” eine Stütze des kapitalistischen Imperialismus sah, richtete sich sein Zorn über den „Verrat” der Zweiten Internationale vornehmlich gegen deren Führung und hier im besonderen gegen ihren „orthodoxen” Flügel, mit dem sich Lenin in der Vorkriegszeit solidarisch erklärt hatte. Nicht die Arbeiterklasse, sondern die Arbeiterführer hatten versagt; sie hatten den Marxismus und das Proletariat verraten. Sie mußten durch bessere Führer, andere Parteien und eine neue Internationale ersetzt werden, um den proletarischen Kampf erneut aufzunehmen.

Fast das ganze schriftstellerische Werk Lenins ist polemischer Natur. Es spiegelt einen dauernden Kampf gegen alle von den eigenen Interpretationen des Marxismus und der geschichtlichen Situation abweichenden Einstellungen und Richtungen wider. Unablässig attackiert Lenin die Wortführer anderer und gegnerischer Organisationen und kämpft für die theoretische Vorherrschaft in der eigenen Partei. Es geht um die richtige Theorie und damit um die richtige Strategie und Taktik der revolutionären Bewegung — vornehmlich in Rußland, später aber auch im internationalen Maßstab.

Lenins Arbeiten richten sich gegen verräterische Führer, Konterrevolutionäre, Opportunisten, Revisionisten. Obwohl an sich nichts dagegen einzuwenden ist, bleibt diese Beschränkung auf die führenden Gruppen der sozialistischen oder pseudosozialistischen Bewegung doch merkwürdig. Die Masse der Arbeiter und Bauern sowie deren soziales Streben bilden für Lenin sozusagen nur den selbstverständlichen Hintergrund des politischen Kampfes um die Führung der erwarteten Revolution. Obwohl ohne diese Massen die Revolution nicht gemacht werden kann, ist es für ihn doch klar, daß sie die Revolution nicht allein machen können. Da sie der politischen Führung bedürfen, liegt das entscheidende Moment der Revolution nicht bei den Massen selbst, sondern bei der führenden Partei und der Führung dieser Partei.

Die Geschichte der Arbeiterbewegung hatte allerdings gezeigt, daß die revolutionäre Führung von heute die konterrevolutionäre Führung von morgen sein kann, und daß Klassenkampforganisationen leicht in ihr Gegenteil umschlagen. Nach Lenin kam es darauf an, eine Organisationsform zu schaffen, die einer solchen Verwandlung nicht nachgab und deren Führung ihren revolutionären Charakter garantierte: eine Partei, deren Mitglieder in der Revolution ihre wirkliche Berufung sahen und deren Führung tatsächlich in den Händen von Berufsrevolutionären lag. Die Partei konnte nicht (und sollte auch nicht) versuchen, die Massen in sich zu vereinigen. Jedes Streben in dieser Richtung führte nur zu ihrer Verwässerung und schließlich zum Verlust ihres revolutionären Willens. Nicht der demokratischen Massenpartei, in der sich der opportunistische Reformismus nur zu leicht durchsetzen konnte, sondern allein einer aus überzeugten Revolutionären zusammengesetzten disziplinierten und zentralistisch geleiteten Kampfpartei konnte die Führung der Revolution überlassen werden.

Es ist in der Tat nicht möglich, im Kapitalismus revolutionäre Massenorganisationen aufzubauen, da es der organisatorische Erfolg selbst ist, der die ursprüngliche revolutionäre Ideologie zerstört. Revolutionäre Organisationen müssen sich, um solche zu bleiben, von der ordinären Tagespolitik frei halten, was jedoch wiederum ihre eigene Entwicklung hindert. Das Dilemma der Arbeiterbewegung scheint demnach unlösbar, da beides, die aktive Anteilnahme an der gegebenen gesellschaftlichen Praxis und deren prinzipielle Verneinung, zur revolutionären Entmachtung führt. Diesem Dilemma kann man nur durch die spontane Bildung revolutionärer Organisationen entgehen, die innerhalb des Kapitalismus nicht von Dauer sein können. Mit anderen Worten: es ist die spontane Organisation der Revolution selbst, die das Dilemma der revolutionären Bewegung im Kapitalismus zu lösen vermag.

Die etablierte westeuropäische sozialdemokratische Massenpartei und die mit ihr lose verbundenen Gewerkschaften hatten durch ihre organisatorischen Erfolge ihr ideologisches Endziel in der unbegründeten Erwartung preisgegeben, daß das eigene Wachstum und die fortgesetzten Errungenschaften des Tageskampfes zu einer gesellschaftlichen Umwandlung in Richtung auf den Sozialismus führen würden. Allerdings war diese Auffassung nicht allgemein; es bildete sich in der Sozialdemokratie zu gleicher Zeit ein radikaler linker Flügel, der die Partei ins revolutionäre Fahrwasser zurückzubringen versuchte. Obwohl die sozialdemokratische Bewegung in Rußland noch schwach war, spiegelten sich in ihr doch alle Differenzen, die innerhalb der westeuropäischen Arbeiterbewegung auftraten, in modifizierter Form wider. Lenin repräsentierte hier den radikalen linken Flügel der russischen Sozialdemokratie.

Die linke Opposition der westeuropäischen Sozialdemokratie unterschied sich von der russischen im wesentlichen durch eine andere Bewertung der Spontaneität und der Rolle der Partei in der Revolution. Lenin wandte den Begriff der Spontaneität in einem doppelten Sinne an: einmal im allgemeinen, das andere Mal spezifisch — als die aus dem Proletariat selbst hervorgehenden temporären oder permanenten Organisationsfovmen, die sich auf die unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiter beschränkten. Der Streik, die Streikorganisation und die gewerkschaftliche Vereinigung waren die Organisationen, die spontan aus dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit erwuchsen, aber auch in diesen Verhältnissen hängenblieben. Das politische Klassenbewußtsein, d.h. die sozialistische Zielsetzung, kann nach Lenin „dem Arbeiter nur von außen beigebracht werden, d.h. außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern”.[1] Und da nach Lenin ”von einer selbständigen, durch die Arbeitermassen selbst im Verlaufe der Bewegung ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein kann, so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie”.[2] Die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung kann nur zur Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie führen, es sei denn, daß es der Partei gelingt, „die Arbeiter für die revolutionäre Sozialdemokratie zu gewinnen”.[3]

Die Partei ist also für Lenin nicht ein Teil der arbeitenden Bevölkerung, sondern eine besondere Macht, die mit der Bourgeoisie um die Gefolgschaft der Arbeiter ringt. Da seiner Ansicht nach die Selbstentwicklung der Arbeiter nur dazu führen kann, daß sie die bürgerliche Ideologie übernehmen, muß die Partei „den Kampf gegen die Spontaneität” aufnehmen, was allerdings nicht mehr bedeutet, als daß die Partei gegen die bürgerliche Ideologie in der Arbeiterbewegung kämpfen muß. Daß diese Selbstverständlichkeit von Lenin als „Kampf gegen die Spontaneität” aufgefaßt wird, läßt sich nur aus der spezifischen russischen Situation erklären, deren gesellschaftliche Bedingungen für eine proletarische Revolution noch nicht reif sind, nicht aber aus der dem Proletariat unterstellten Unfähigkeit, politisches Klassenbewußtsein zu entwickeln.

Die zu erwartende russische Revolution konnte vom Marxschen Standpunkt aus nur eine bürgerliche sein, die die feudalistischen Hemmungen des Kapitalisierungsprozesses durchbrechen würde. Um die Jahrhundertwende wurde deutlich, daß die russische Entwicklung sich auf dem Wege zum Kapitalismus befand — eine Tatsache, der Lenin sein Buch über Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland (1899) widmete. Mit der unabwendbaren, wachsenden Industrialisierung und dem Übergang zur kapitalistischen Landwirtschaft entwickelten sich ein industrielles Proletariat und eine kapitalistische Mittelschicht, die vorerst allerdings nichts an dem reaktionären, autokratischen Regime zu ändern vermochten. Trotz landwirtschaftlicher Reformen und der Herausbildung eines kapitalistisch orientierten Bauerntums blieb der bäuerliche Landmangel akut, und die Not der landwirtschaftlichen Bevölkerung drängte auf die Enteignung des Großgrundbesitzes. Die klassengeteilte Majorität der Bevölkerung — Arbeiter, Bauern und Bürger — hoffte auf die Beseitigung der bestehenden Zustände und war potentiell revolutionär. Es war anzunehmen, daß die kommende Revolution den Charakter einer Volkserhebung haben würde. Unter diesen Umständen hielt es Lenin für verfehlt, die sozialdemokratische Bewegung als reine Arbeiterbewegung anzusehen oder, wie er es ausdrückte, sie zu einer ”einfachen Dienerin der Arbeiterbewegung”[4] herabzuwürdigen. Sich auf die Arbeiter und deren besondere Interessen zu beschränken, bedeutete für ihn, auf die Führung der erwarteten Revolution von vornherein zu verzichten.

Analog zur Marxschen Haltung in der Revolution von 1848 sollte sich die Sozialdemokratie nach Lenin an alle aufsässigen Schichten der Bevölkerung wenden, wenn auch an erster Stelle an die Bauern und Arbeiter. Aber die Partei war mit keiner der existierenden Klassen wirklich identisch. Wenn sie sich nicht von den Massen unterschiede, meinte Lenin, dann könnte sie nicht die Rolle des „Vorkämpfers” spielen. Aber da sie sich als „Vorkämpferin der Revolution” ausgab, mußte sie notgedrungen von einer „Vorkämpfer-Theorie” ausgehen, nämlich von der Inanspruchnahme der Führung der Revolution. Um dies erfolgreich zu tun, mußte die Partei selber von einem einheitlichen Willen beseelt sein — ein Zustand, der seinen organisatorischen Ausdruck in der zentralistisch dirigierten und, wo nötig, konspirativen, semi-militärischen Organisationsform findet. Man versuchte den Gegensatz von Zentralismus und Demokratie durch den Begriff „demokratischer Zentralismus” theoretisch aufzuheben. Mehrheitsbeschlüsse sollten der Zentralleitung zur unbestrittenen Ausführung überlassen werden. In der Praxis jedoch bedeutete der demokratische Zentralismus nichts anderes als die autoritäre Leitung der Partei durch die Zentrale.

Im Anschluß an Marx und Engels sah Lenin die bürgerliche Revolution als Vorbedingung einer proletarischen Revolution. Es bestand jedoch die Gefahr, daß, ähnlich wie 1848 in Deutschland, die bürgerliche Revolution auf halbem Wege stehenbleiben und in einen Kompromiß mit dem Zarismus einmünden würde. Eine wirkliche revolutionäre Umwälzung verlangte deshalb die breiteste Teilnahme der Arbeiter und Bauern und die konsequente revolutionäre Führung durch die Sozialdemokratie. Ebenfalls im Anschluß an Marx und Engels (und später im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg) hielt Lenin es für möglich, daß die russische Revolution zum Ausgangspunkt einer westeuropäischen, wenn nicht weltweiten Revolution würde. In solchem Falle war es nicht ausgeschlossen, daß die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung Rußlands durch die Internationalisierung der europäischen sozialistischen Wirtschaft übersprungen werden konnte. Wie dem auch sei, die Führung der Revolution durch die Sozialdemokratie war unerläßlich, um die russische Revolution zur vollen Entfaltung zu bringen, vor allem deshalb, weil die Spontaneität der revolutionären Ausbrüche ohne eine zielsichere zentralisierte Leitung zum Untergang verurteilt sein würde.

Die westeuropäische Arbeiterbewegung stand allerdings nicht mehr im Zeichen der bürgerlichen Revolution, und ihr revolutionärer Flügel sprach nicht von einer von verschiedenen Klassen getragenen Volksrevolution, sondern von der erhofften proletarischen Revolution. Hier war die Arbeiterklasse die objektiv einzige revolutionäre Klasse, und ihr ein politisches Bewußtsein absprechen hieß, die Möglichkeit der Revolution selbst leugnen. Es stimmte zwar, daß die Arbeiterbewegung im Sumpf des Reformismus steckengeblieben war; aber anzunehmen, daß das so bleiben würde, bedeutete, dem Kapitalismus Ewigkeitswert zuzuschreiben. In Wirklichkeit und aufgrund der in ihm liegenden Widersprüche würde der Periode des Aufstiegs des Kapitalismus die seines Verfalls folgen. Nur ein reformierbarer Kapitalismus erlaubt die reformistische Arbeiterbewegung; ein krisenzerrütteter Kapitalismus erheischt revolutionäre Lösungen für die unmittelbaren und für die geschichtlichen Aufgaben der Arbeiterklasse.

Die Organisationen der Arbeiterklasse waren den Händen der Arbeiter entglitten und zu Instrumenten ihrer Beherrschung geworden. Aber auch das drückte nichts weiter aus als die aktuelle Lebensfähigkeit des Kapitalismus und die Möglichkeit der Immunisierung des Klassenkampfes durch die Institutionalisierung der Arbeiterbewegung. Nichtsdestoweniger, mit oder ohne Klassenkampf organisationen, würde dem Proletariat letzten Endes nichts anderes übrigbleiben, als den Kampf für die Abschaffung des Kapitalismus erneut aufzunehmen, der aber zugleich ein Kampf gegen die kapitalisierten Arbeiterorganisationen sein würde. Das Augenmerk des Revolutionärs richtete sich nicht so sehr auf eine bestimmte Organisationsform als auf die Selbstbestimmung der arbeitenden Massen in den zu erwartenden revolutionären Kämpfen.

Lenins negative Einstellung zum Problem der Spontaneität konnte in der linken Opposition des Westens nur befremdend wirken. Hier wurde gerade auf die Spontaneität gehofft, nicht um ihrer selbst Willen, sondern um dem entnervenden Einfluß der offiziellen Arbeiterbewegung die revolutionäre Frische proletarischer Selbstinitiative entgegenzusetzen. Das Leninsche Verlangen nach der dem Kapitalismus entliehenen ultrazentralistischen Partei konnte dort kein Verständnis finden, wo die existierende Zentralisation der Arbeiterorganisationen bereits zum Hemmschuh des proletarischen Klassenkampfes geworden war.

Lenins Organisationsprogramm hatte auf dem zweiten Parteitag der russischen Sozialdemokratischen Partei bereits zu ihrer Spaltung geführt. Da die „Bundisten” die Konferenz verließen, erhielten Lenins Anhänger eine zufällige Majorität und nannten sich dementsprechend die Mehrheit (Bolschewiki), während die Minderheit fortan als Menschewiki bezeichnet wurde. Lenin sah in der Ablehnung seines Parteiprogramms nur einen weiteren Ausdruck des um sich greifenden Opportunismus in der russischen wie in der sozialistischen Bewegung im allgemeinen. Unablässig verteidigte er seinen eigenen als den einzig richtigen revolutionären Standpunkt[5], und die Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Sozialdemokratie griffen auf die westeuropäische Bewegung über.

Rosa Luxemburg als Wortführerin des linken Flügels der deutschen Sozialdemokratie hatte, wie Lenin selbst, dem Opportunismus den Kampf angesagt. Doch glaubte sie nicht, daß man ihn „durch ein Organisationsstatut von der Arbeiterbewegung fern halten kann”.[6] Obwohl sie für eine einheitliche Organisation eintrat, um geschlossene politische Aktionen der Massen zu ermöglichen, hatte dies ihrer Meinung nach nichts mit einer Organisationsform zu tun, in der „das Zentralkomitee als der eigentliche aktive Kern der Partei, alle übrigen Organisationen lediglich als seine ausführenden Werkzeuge gelten”.[7] Im Gegenteil, die Arbeiter selbst müssen bestimmen und handeln lernen, selbst wenn dies mit vielen falschen Schritten verbunden sein sollte. „Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees”.[8]

DIE RUSSISCHE REVOLUTION

Angesichts der Schwäche der sozialistischen Bewegung in Rußland hatte der Streit um den Charakter der revolutionären Organisation — ob demokratische Massenpartei oder zentralistische Elitepartei — wenig mit der Realität zu tun. Die trotz des Mangels an Arbeiterorganisationen ausbrechende Revolution von 1905 schuf sich ihre eigene Organisationsform in den sich spontan bildenden Aktionsausschüssen und Arbeiterräten (Sowjets). Die Räte sahen sich selbst als temporäre Organisationen zur Durchsetzung von Forderungen, die sich auf Lohn und Arbeitsbedingungen bezogen und auf das mehr allgemeine politische Verlangen na.ch einer Konstituierenden Versammlung. Mit dem Zusammenbruch der Revolution verschwanden die Räte, um in der Revolution von 1917 erneut in Erscheinung zu treten.

Die russischen Massenstreiks, die in ihnen entstehenden Räte und die enge Verknüpfung der unmittelbaren mit den politischen Forderungen zwangen Lenin, sich mit diesem neuen Phänomen in der revolutionären Bewegung auseinanderzusetzen. Er sah die Räte der Arbeiterdeputierten als „Organe des unmittelbaren Klassenkampfes. Sie entstanden als Organe des Streikkampfes. Sie wurden sehr rasch, unter dem Druck der Notwendigkeit, zu Organen des allgemeinen revolutionären Kampfes gegen die Regierung. Sie verwandelten sich unwiderstehlich, kraft der Entwicklung der Ereignisse und des Übergangs vom Streik zum Aufstand, in Organe des Aufstands (...). Nicht irgendeine Theorie, nicht irgend jemandes Aufruf, nicht eine von irgend jemand entdeckte Taktik, keine Parteidoktrin, sondern die Wucht der Tatsachen hat diese (...) Massenorgane von der Notwendigkeit des Aufstandes überzeugt und sie zu Organen des Aufstandes gemacht”.[9]

All dies widersprach Lenins Ansichten von der Unzulänglichkeit spontaner Aktivität und der Unerläßlichkeit der in der Partei verkörperten Theorie. Unbekümmert blieb Lenin gleichwohl dabei, „daß ‚Räte’ und ähnliche Massenkörperschaften für die Organisierung des Aufstandes noch nicht genügen. Sie sind erforderlich, um die Massen zusammenzuschweißen, sie für den Kampf zu vereinigen, ihnen die von der Partei aufgestellten (oder von den Parteien gemeinsam ausgegebenen) Losungen der politischen Führung zu übermitteln, das Interesse der Massen zu wecken und die Massen in den Kampf zu ziehen. Aber sie reichen nicht aus, die Kräfte des unmittelbaren Kampfes zu organisieren, den Aufstand in der eigentlichen Bedeutung des Wortes zu organisieren”.[10] Um authentisch zu sein, muß der Aufstand Parteiprodukt sein.

Lenin erkannte allerdings, daß die Arbeiterräte 1905 „in Wirklichkeit Keimzellen der provisorischen Regierung (waren); unvermeidlich wäre ihnen die Macht im Falle des Sieges des Aufstands zugefallen. (Deshalb) muß das Schwergewicht auf das Studium der Bedingungen ihrer Arbeit und ihres Erfolges verlegt werden”.[11] Wenn auch nur sporadisch, so kam Lenin doch immer wieder auf das Problem von Partei und Räte zurück. Obwohl der Arbeiterdeputiertenrat für ihn „kein Organ der proletarischen Selbstverwaltung, überhaupt kein Organ der Selbstverwaltung, sondern eine Kampforganisation zur Erreichung bestimmter Ziele”[12] war, hatte er nichts gegen die „Teilnahme der Organisation der Sozialdemokratischen Partei an allgemeinparteilichen Räten von Arbeiterbevollmächtigten und Deputierten und an den Kongressen ihrer Vertreter, sowie die Schaffung solcher Körperschaften, (...) vorausgesetzt, daß hierbei die Interessen der Partei auf das strengste gewahrt werden und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gestärkt und gefestigt wird”.[13]

Nach 1906 lag die organisatorische Initiative wieder bei den politischen Parteien und den Gewerkschaften. In Erwartung der bürgerlichen Revolution sahen die Reformsozialisten die Sowjets lediglich als Verlegenheits-organisationen an, die ihre Existenzberechtigung durch die Legalisierung traditioneller Arbeiter-organisationen verlieren würden. Anders dachten Lenin und die Bolschewiki, da sie bereit waren, selbst im Rahmen der bürgerlichen Revolution die politische Macht zu ergreifen. Sich selbst als „Vorkämpfer” des Proletariats und die Arbeiterklasse als „Vorkämpferin” der Volksrevolution betrachtend, begriff Lenin, daß die politische Machtübernahme neben der Partei auch Organisationen wie die der Räte benötigte. Aber erst 1917 wurde der Begriff „Diktatur des Proletariats” als Diktatur der Sowjets aufgefaßt.

Die Februar-Revolution 1917 war ebenfalls das Resultat spontaner Erhebungen, obwohl politische Parteien und Gewerkschaften eine größere Rolle in ihr spielten als 1905. Die Revolution fand die Unterstützung der liberalen Bourgeoisie, aus deren Kreisen eine provisorische Regierung gebildet wurde. Unter zunehmenden Schwierigkeiten wurden später Vertreter der Menschewisten und rechten Sozialrevolutionäre in die Regierung einbezogen. Die sich spontan bildenden Arbeiter- und Soldatenräte akzeptierten vorerst die provisorische Regierung, kamen aber im Laufe der Zeit mit ihr in Konflikt. Die politische Macht lag teils in den Händen der Regierung, teils in denen der Räte. Es war dieser Umstand, der den Bolschewisten in ihrem Kampf gegen die Regierung die Losung „Alle Macht den Räten!” darbot. Die Regierung hatte nicht die Absicht, über die sozialen Möglichkeiten eines bürgerlich-demokratischen Regimes hinauszugehen. Sie war deshalb auch nicht bereit, für einen sofortigen Frieden und eine radikale Enteignung des Großgrundbesitzes einzutreten. Die Bolschewiki dagegen forderten, daß der Krieg sofort beendet und das Land unter die Bauern verteilt werde (was auch den Forderungen der breiten Massen entsprach), und gewannen damit in verhältnismäßig kurzer Zeit eine Mehrheit in den ausschlaggebenden Sowjets — ein Umstand, der Lenin ermutigte, durch einen coup d’état dem bürgerlich-demokratischen Regime ein Ende zu machen.

Die russische Revolution war zugleich eine bürgerliche, proletarische und Bauern-Revolution, aber es war die letzte, die vorerst den Ausschlag’ gab und der Revolution als Ganzes den Erfolg sicherte. Die Interessen der Bauern wurden von der Sozialrevolutionären Partei vertreten, einer Organisation, die sich ebenfalls in einen rechten und linken Flügel (Maximalisten) gespalten hatte. Die Sozialrevolutionäre forderten, daß alles Land gleichmäßig an die Bauern verteilt werden sollte — ein Standpunkt, den Lenin als Marxist zurückweisen mußte und in seinen Auseinandersetzungen mit den Sozialrevolutionären auch verwarf. Der Marxismus richtet sich gegen die private, parzellierte Bauernwirtschaft im Interesse der kollektiven Großraumwirtschaft. Es wurde allerdings angenommen, daß die kapitalistische Entwicklung selbst die kleine private Bauernwirtschaft vernichten werde, so daß dieses Problem größtenteils noch vor der sozialistischen Revolution gelöst sein würde. In Rußland aber entwickelte sich die bäuerliche Einzeiwirtschaft aus dem feudalen Großgrundbesitz. Um die Bauern für den Bolschewismus zu gewinnen, war es erforderlich, den zögernden Sozialrevolutionären dadurch den Wind aus den Segeln zu nehmen, daß man die Bauern aufforderte, sich das Land anzueignen.

Bereits bei seiner Ankunft in Rußland im April 1917 erklärte Lenin, daß das Sowjetsystem über die Forderung nach der bürgerlich-demokratischen Republik hinausgehe. Die Partei müsse die Macht übernehmen. Mit einer bolschewistischen Mehrheit in den Sowjets würde die neue Regierung eine bolschewistische sein. Allerdings war er auch bereit, die Macht ohne Mehrheit zu ergreifen. „Es wäre naiv”, schrieb er, „eine ‚formelle’ Mehrheit der Bolschewiki abzuwarten. Keine Revolution wartet das ab.”[14] Begünstigt durch eine Reihe von Umständen, auf die ich hier nicht eingehen kann, gelang die Bildung der ersten, von den Bolschewiki dominierten Arbeiter- und Bauernregierung. Um aber diese dominante Position zu sichern, war es notwendig, daß die Arbeiter und Bauern auch in Zukunft Bolschewisten in die Sowjets wählten. Dafür gab es keine Garantie. So wie die Menschewisten und Sozialrevolutionäre, einst die Mehrheit in den Sowjets, zur Minderheit wurden, so konnten auch die Bolschewiki ihre momentane Mehrheit wieder verlieren. Man mußte daher der Partei das Regierungsmonopol sichern.

Für Lenin war dies selbstverständlich. Genauso wie er seine Partei als die Verkörperung des proletarischen Klassenbewußtseins auffaßte, war für ihn die Herrschaft der Partei identisch mit der der Räte. Er sah nur die Wahl zwischen kapitalistischer Diktatur in demokratischer Verkleidung und der Diktatur der Arbeiterklasse unter Führung der bolschewistischen Partei. Sich selbst überlassen, konnten die Sowjets nur zu leicht den Versprechungen der liberalen Bourgeoisie und deren Handlangern zum Opfer fallen und sich schließlich selbst entmachten. Die Partei hatte die wirklichen Interessen der Räte zu vertreten, wenn notwendig selbst gegen die Räte, was aber nur dadurch möglich war, daß die Partei eine Kontrolle über sie ausübte. Nur so konnte der sozialistische Charakter der Revolution gewährleistet werden. Durch die Unterdrückung aller anti-bolschewistischen Kräfte wandelte sich in kurzer Zeit das Rätesystem zur Diktatur der bolschewistischen Partei.

Die revolutionäre Parole „Alle Macht den Räten!” verkümmerte zu einem bolschewistischen Regierungserlaß über Arbeiterkontrolle. Die Unverträglichkeit kapitalistischer Produktion mit einer Arbeiterkontrolle zwang die Bolschewiki, zur Nationalisierung der Industrien überzugehen — von der Arbeiterkontrolle, wie Lenin es ausdrückte, zur Administration der Betriebe durch die Arbeiter. Diese Wendung von der Kontrolle zur Administration entpuppte sich jedoch als die Abschaffung jeder direkten Teilnahme der Arbeiter an der Bestimmung der Produktion und der Arbeitsbedingungen in den Betrieben. Sie nahm geraume Zeit in Anspruch und vollzog sich auf dem Umweg der Betriebs- und Produktionskontrolle durch die Gewerkschaften im Zeichen der Verwandlung der Gewerkschaften in Kontrollorgane der Regierung über die Arbeit und die Arbeiter.

Der wirtschaftliche Zusammenbruch durch Krieg und Bürgerkrieg, die zerrüttete Wirtschaft und der Widerstand der Bauern gegen die erforderlichen Abgaben zur Sicherstellung der Ernährung zwangen die Bolschewiki zu den widerspruchsvollsten Maßnahmen — vom sogenannten Kriegskommunismus bis zur Neuen Ökonomischen Politik. Lenin hielt es für wichtig, an der Macht zu bleiben, selbst wenn das mit der Verletzung sozialistischer Prinzipien und mit peinlichen Kompromissen erkauft werden mußte. Er war sich der objektiven Unreife Rußlands für den Sozialismus völlig bewußt, und es war für ihn klar, „daß ohne die Unterstützung der internationalen Weltrevolution der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Vor der Revolution, und auch nachher, dachten wir: entweder gleich oder wenigstens sehr schnell kommt die Revolution in den übrigen Ländern, oder wir müssen zugrunde gehen. Trotz dieses Bewußtseins taten wir alles, um das Sowjetsystem unter allen Umständen unbedingt aufrechtzuerhalten, denn wir wußten, daß wir nicht nur für uns, sondern auch für die internationale Revolution arbeiten”. [15]

Wenn Lenin nicht an die Beständigkeit der russischen Revolution glaubte, es sei denn, daß sie zur internationalen Revolution wurde, so deshalb, weil er annahm, daß die internationale Bourgeoisie das bolsche’wistische Regime vernichten würde. Seine Befürchtungen bezogen sich nicht auf die Situation im Innern Rußlands; hier hielt er es durchaus für möglich, durch die Diktatur der Partei und die notwendigen Konzessionen an die Bauern an der Macht zu bleiben. 1921 konnte man jedoch mit einer längeren Atempause rechnen. Der Bürgerkrieg war beendet, und dank den internen Gegensätzen im imperialistischen Lager war der Angriff von außen höchst unwahrscheinlich. Lenins Meinung nach „mußte mit der Tatsache gerechnet werden, daß heute unstreitig ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte, die offen, mit der Waffe in der Hand, gegeneinander den Kampf um die Herrschaft der einen oder anderen maßgebenden Klasse führten, eingetreten ist — ein Gleichgewicht zwischen der bürgerlichen Gesellschaft, der internationalen Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit einerseits und Sowjetrußlands anderseits”.[16]

Der Aufbau in einem vorübergehend von äußeren Eingriffen ungestörten, aber isolierten Rußland bedeutete natürlich, daß die Partei die historische Rolle der Bourgeoisie übernehmen mußte, allerdings ohne die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft und mit einer anderen Ideologie. Es kam darauf an, die Produktion wieder in Gang zu bringen und zu erweitern. Da die Arbeiter nicht geneigt waren, sich über das gewohnte Maß hinaus selbst auszubeuten, waren die Bolschewiki gezwungen, die Rolle einer herrschenden Klasse zu übernehmen, um den Akkumulationsprozeß zu inaugurieren. Damit richtete sich die Diktatur der Partei nicht nur gegen die Kapitalisten, sondern auch gegen die Arbeiter und Bauern. All das hatte nichts mit Sozialismus und nichts mit Kapitalismus im herkömmlichen Sinne zu tun. Lenin bezeichnete diesen Zustand als Staatskapitalismus, allerdings als einen „ungewöhnlichen, sogar ganz und gar ungewöhnlichen Staatskapitalismus”[17], der aber den herrschenden Zuständen in Rußland vorzuziehen sei und der eine Transformation zum Sozialismus darstellte. „Die Arbeiterklasse”, schrieb er, „die es gelernt hat, die Staatsordnung gegen die Anarchie des Kleinbürgertums zu verteidigen, die es gelernt hat, eine große staatliche Organisation der Produktion auf staatskapitalistischer Grundlage zustande zu bringen, wird dann alle Trümpfe in den Händen haben, und die Festigung des Sozialismus wird gesichert sein.”[18] Der russische Staatskapitalismus unterschied sich vom „gewöhnlichen” Staatskapitalismus und enthielt deshalb für die Sowjetmacht nichts Gefährliches, weil „der Sowjetstaat ein Staat ist, in dem die Macht der Arbeiter und der Dorfarmut gesichert ist. ”[19]

So wie für Lenin die Revolution nicht ohne die Partei siegen konnte, so war der Weg zum Sozialismus nur über die zur Staatsmacht gewordene Partei möglich. Es war der bolschewistische Staat, der die wirklichen Interessen der Arbeiter kannte und vertrat, auch dann, wenn dies den Arbeitern selbst nicht bewußt sein sollte. Wenn notwendig, mußten die Interessen der Arbeiter gegen die Arbeiter selbst verteidigt werden, und hier besonders in bezug auf die erforderlichen Maßnahmen zur Steigerung der Produktion. „Wir müssen daran denken”, erklärte Lenin, „daß wir in einem Lande leben, das große Verluste erlitten hat und verarmt ist, und wir müssen es lehren, Versammlungen so abzuhalten, daß dabei auseinandergehalten wird, was zur Versammlung und was zum Regieren gehört. Mache Versammlungen, aber regiere ohne geringste Schranken, regiere mit festerer Hand, als vor Dir der Kapitalist regiert hat.”[20] Er wies darauf hin, „daß in der Geschichte der revolutionären Bewegungen durch die Diktatur einzelner Personen sehr oft die Diktatur der revolutionären Klassen zum Ausdruck gebracht wurde”.[21] Das treffe vor allem für die Wirtschaft zu. Die maschinelle Großindustrie erfordere eine unbedingte und strenge Einheit des Willens, „der die gemeinsame Arbeit von hunderten, tausenden und zehntausenden leitet (...). Aber wie kann die strengste Einheit des Willens gesichert werden? Durch die Unterordnung des Willens von Tausenden unter den Willen eines einzigen. Diese Unterordnung kann bei idealer Zielbewußtheit und Diszipliniertheit der an der gemeinsamen Arbeit Beteiligten mehr an die milde Leitung eines Dirigenten erinnern. Sie kann scharfe diktatorische Formen annehmen, wenn keine ideale Diszipliniertheit und Zielbewußtheit vorhanden ist. Aber, wie dem auch sein mag, die unbedingte Unterordnung unter einen einzigen Willen ist für den Erfolg der Arbeitsprozesse (...) eine absolute Notwendigkeit” [22]

Nimmt man diese These ernst, so müssen die russischen Arbeiter völlig ohne Disziplin und Zielbewußtsein gewesen sein, denn die diktatorische Kontrolle der Arbeiter nahm Formen an, die alles Vergleichbare in den kapitalistischen Ländern in den Schatten stellten. Aber die Verwandlung Rußlands in einen autoritären Staatskapitalismus änderte nichts an der Tatsache, daß die Arbeiter und Bauern den Zarismus und die Bourgeoisie vernichtet hatten. Die Entmachtung der Räte durch die Partei war zweifellos der objektiven Unreife Rußlands für den Sozialismus zuzuschreiben, doch auch der Tatsache, daß weder die Sowjets noch die bolschewistische Partei eine klare Vorstellung von dem Aufbau der neuen Gesellschaft hatten. Man hatte in der sozialistischen Bewegung wenig darüber gesprochen, oder nur in der allgemeinen Formel der Ubernahme der Produktionsmittel durch den Staat. Die Reformsozialisten bildeten sich ein, den bereits innerhalb des Kapitalismus auf dembkratischem Wege eroberten Staat zu diesen Zwecken verwenden zu können. Lenin indes hielt es für unerläßlich, jede Art von bürgerlichem Staat zu zerschlagen und einen neuen Staatsapparat zu formen, der nicht mehr ein Staat im alten Sinne war. Dieser neue Staat wäre identisch mit der Diktatur des Proletariats.

Auch hier stützte sich Lenin auf Marx und Engels, speziell auf deren Beschreibung der Pariser Kommune als eines Beispiels der proletarischen Diktatur. Nach Marx und Lenin war es die große Lehre der Kommune, daß man den bürgerlichen Staat nicht übernehmen konnte, sondern daß er zerstört werden mußte, um einem neuen Arbeiterstaat Platz zu machen, der dann im Laufe der sozialistischen Entwicklung von selbst absterben und damit die klassenlose kommunistische Gesellschaft enthüllen würde. „Stürzt man die Kapitalisten”, schrieb Lenin in Staat und Revolution, „schlägt man mit der eisernen Faust der bewaffneten Arbeiter den Widerstand dieser Ausbeuter nieder, zerbricht man die bureaukratische Maschinerie des modernen Staates — so hat man einen von dem ‚Parasiten’ befreiten Mechanismus von hoher technischer Vollkommenheit vor sich, den die vereinigten Arbeiter sehr wohl selbst in Gang bringen können, indem sie Techniker, Aufseher, Buchhalter anstellen und sie alle, wie überhaupt alle ‚Staatsbeamten’, für Arbeiterlohn ihre Tätigkeit ausüben lassen. Das ist die konkrete, sofort ausführbare Aufgabe gegenüber allen Trusts, die die Werktätigen von der Ausbeutung befreit und die Erfahrungen verwertet, die die Kommune (insbesondere auf dem Gebiet des Staatsaufbaus) praktisch bereits zu machen begonnen hatte.”[23]

In Wahrheit waren die Erfahrungen der Pariser Kommune sehr beschränkter Natur: einerseits bestimmt durch die Umstände, die zu ihrer Bildung führten, andererseits durch die Zerrissenheit und Zielunsicherheit der Kommunarden selbst. Nur ein kleiner Bruchteil ihres Ausführenden Komitees bestand aus Arbeitern, und nur eine Handvoll aus Marxisten. Die Mehrheit ihrer Führer stammte aus dem Kleinbürgertum und zerfiel in Anhänger Proudhons, Blanquis und Neo-Jakobiner. Sie waren vornehmlich politisch interessiert und vertraten den Kleinbesitz ebensosehr, wie sie die Ausbeutung der Arbeiter verwarfen. Sie waren im Sinne Proudhons antistaatlich eingestellt und hofften auf eine nationale freie Föderation autonomer Kommunen. Doch die Mehrheit der Pariser Arbeiter setzte sich für die Kommune ein.

Für Marx war die Kommune „wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse; (...) die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeiter sich vollziehen konnte”.[24] Trotz all den ihnen vom Marxschen Standpunkt aus noch anhaftenden Mängeln war die Kommune gegen die Bourgeoisie gerichtet: eine Regierungsform, in der Arbeiter ihre Fähigkeit zur gesellschaftlichen Herrschaft demonstrierten. Sie hatte zwar noch keinen sozialistischen Charakter, aber die politische Herrschaft der Arbeiter mußte nach Marx entweder zu deren Emanzipation führen oder wieder in sich zusammenbrechen. Marxens Einstellung zur Kommune wurde von seinen anarchistischen Gegnern als reiner Opportunismus ausgelegt. „Der Eindruck des kommunistischen Aufstandes war so gewaltig”, schrieb Bakunin, „daß selbst die Marxisten, deren Ideen durch diesen Aufstand über den Haufen geworfen waren, sich gezwungen sahen, vor ihm den Hut abzuziehen: Sie taten noch mehr, im Widerspruch mit aller Logik und mit all ihren eigensten Gefühlen machten sie das Programm der Kommune und ihr Ziel zu dem ihrigen. Es war eine komische, aber erzwungene Travestie. Sie mußten sie machen, sonst wären sie abgestoßen und von allen verlassen worden, so mächtig war die Leidenschaft gewesen, die diese Revolution in der ganzen Welt hervorgerufen hatte.”[25]

Die großen Leidenschaften, die die Kommune bei Bourgeoisie und Proletariat zugleich hervorrief, zeigten an, daß die gesellschaftliche Klassenteilung in ihrem Wirkungsvermögen all die ideologischen und sogar materiellen Differenzen, die jeder besonderen Klasse eigen sind, weit überragt. Es war nicht das spezielle Programm der Kommune, ob föderalistisch oder zentralistisch, die aktuelle oder nur potentielle Enteignung der Bourgeoisie, was den entfachten Leidenschaften zugrunde lag, sondern die einfache Tatsache, daß ein großer Teil der Arbeiterklasse die bürgerliche Herrschaft ablehnte, sich bewaffnete und sich anschickte, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. In der brutalen Antwort der Bourgeoisie auf diesen ersten, noch schwachen Versuch proletarischer Selbstbestimmung erkannten die Arbeiter der ganzen Welt, nicht nur die in Paris, die grenzenlose Wut und Unversöhnlichkeit des Klassenfeindes. Überall standen sie solidarisch hinter den Pariser Arbeitern in völliger Unabhängigkeit von allen existierenden theoretischen und praktischen Differenzen innerhalb der Arbeiterbewegung. Es war deshalb überflüssig, nach den Motiven zu suchen, die Marx zum Verteidiger der Kommune machten. Was Marx von den Kommunarden trennte, war angesichts des nackten Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat völlig unerheblich. Was Marx mit der Kommune verband, war die Tatsache dieser direkten Auseinandersetzung, die nichts anderes zuließ als die Verteidigung der Kommune — so wie sie war.

Marx’ in großer Eile verfaßte Denkschrift zum Bürgerkrieg in Frankreich kann nicht als Anleitung zur proletarischen Revolution und für den Aufbau eines sozialistischen Staates angesehen werden — um so weniger, als Marx vor, während und nach dem Fall der Kommune ihr jede Erfolgsmöglichkeit abgesprochen hatte. Zehn Jahre später schrieb er an Nieuwenhuis: „Sie werden mich vielleicht auf die Pariser Kommune verweisen; aber abgesehen davon, daß dies bloß Erhebung einer Stadt unter ausnahmsweisen Bedingungen war, war die Majorität der Kommune keineswegs sozialistisch, konnte es auch nicht sein. Mit geringem Quantum common sense hätte sie jedoch einen der ganzen Volksmasse nützlichen Kompromiß mit Versailles — das allein damals Erreichbare —erreichen können. Die Appropriation der Banque de France allein hätte der Versailler Großtuerei ein Ende mit Schrecken gemacht, etc. etc.”[26]

So hoffnungslos der Kampf der Kommune war, so deutete er doch auf die Notwendigkeit der proletarischen Diktatur zur Zerstörung des bürgerlichen Staates hin. Aber die Kommune kann nicht, wie Lenin behaup187tet, als Modell eines kommunistischen Staates angesehen werden, schon deshalb nicht, weil das eigentliche „Endziel des proletarischen Klassen-kampfes nicht irgendein noch so ‚demokratischer’, ‚kommunaler’ oder auch ‚rätemäßiger’ Staat, sondern die klassenlose und staatenlose Gesellschaft[27] ist. Für Lenins Staatstheorie war die Kommune von ausschlaggebender Bedeutung nicht aufgrund ihres wirklichen Inhalts, sondern weil sie in Marx’ und Engels’ Rhetorik als proletarische Diktatur gefeiert worden war und Lenin es für richtig hielt, sich auf deren Autorität zu berufen. Angefeuert durch die Revolution, und im Widerspruch zu der bisherigen Uberzeugung, daß den Arbeitern nicht die Fähigkeit des selbständigen revolutionären Handelns gegeben ist, sprach er nun in Staat und Revolution von der Möglichkeit, „das ‚Kommandieren’ zu beseitigen und die Staatsverwaltung auf die Organisation der Proletarier (als herrschende Klasse) zu reduzieren”.[28]

Der Staat, den Lenin im Auge hat, ist jedoch der antizipierte bolschewistische Staat, der die Interessen der Arbeiter vertritt und sich auf die bewaffnete Arbeiterklasse stützt. Dieser Staat macht nach Lenin alle Menschen zu Angestellten der Staatsmacht und verwandelt damit die ganze Gesellschaft in ein Bureau und eine Fabrik, mit gleicher Arbeit und gleichen Löhnen für alle. Lenin weiß natürlich, daß nach Marx die sozialistische Organisation der Produktion und Verteilung nicht Sache des Staats, sondern die der assoziierten Produzenten ist, die den Staat durch die Konsolidierung der klassenlosen Gesellschaft überflüssig machen. Lenin sah jedoch das „Absterben” des Staates in einem anderen Licht. „Von dem Augenblick an”, schreibt er, „wo alle Mitglieder der Gesellschaft oder wenigstens ihre übergroße Mehrzahl selbst gelernt haben, den Staat zu regieren, selbst diese Angelegenheit in ihre Hand genommen haben, die Kontrolle ‚in Gang’ gebracht haben über die verschwindende Minderheit der Kapitalisten, (...) über die Arbeiter, die durch den Kapitalismus tief demoralisiert worden sind, von diesem Augenblick an beginnt die Notwendigkeit irgendeines Regierens überhaupt zu verschwinden.”[29] Mit anderen Worten: Der Staat stirbt nicht während des Sozialisierungsprozesses ab, sondern er ermöglicht erst die Sozialisierung — ein Zustand, der so lange dauert, bis die große Mehrheit gelernt hat, „den Staat zu regieren”, womit sich dann der Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft verwischt. Die Identifizierung der Partei mit dem Proletariat, der Parteidiktatur mit der proletarischen Diktatur wurde so zur Identifizierung von Staat und Gesellschaft ausgeweitet. Was im Kommunismus erlischt, ist nicht der Staat als Organisationsprinzip der Gesellschaft, sondern nur die staatliche Diktatur, die in der klassenlosen Gesellschaft überflüssig ist.

Lenin war der Uberzeugung, daß die Industrialisierung Rußlands nicht von der liberalen Bourgeoisie abhängig war, sondern ebensogut, wenn nicht besser, durch die Initiative des Staates erreicht werden konnte. Die Zentralisation der Kommandogewalt über die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse erschien ihm nicht nur notwendig, um die dem Sozialismus widerstehenden oder entgegenarbeitenden Kräfte lahmzulegen, er hielt die Zentralisation darüber hinaus für die unerläßliche Voraussetzung der modernen Industriegesellschaft, sei sie kapitalistisch oder kommunistisch orientiert. Im Kommunismus allerdings diente sie nicht länger einer besonderen Klasse, sondern der Gesellschaft als Ganzes und hörte damit auf, ein Herrschaftsverhältnis zu sein. In der Zwischenzeit war die zentrale Bestimmungsgewalt Ausdruck der proletarischen Diktatur, und Lenin erwartete, daß die Arbeiterklasse sich mit dem bolschewistischen Staat genau so identifizieren würde, wie dieser Staat sich mit den Arbeitern identifizierte.

Mit den Bauern stand es jedoch anders. Sie ließen sich nicht in die „eine große Fabrik” eingliedern und zu „Angestellten des Staates” machen. Sie hatten ihre Revolution gemacht, um sich Land als Privateigentum anzueignen, unberührt von der Tatsache, daß dem Namen nach alles Land der Nation gehörte. Die Konzessionen an die Bauern waren der Preis, den die Bolschewiki für die Staatsmacht zu zahlen hatten und der ihnen zwar die politische, aber nicht die wirtschaftliche Unterstützung der Bauern sicherte. Die Aufteilung des Großgrundbesitzes hatte Milliônen kleiner Bodenbesitzer hervorgebracht, die zum großen Teil nur für den Eigenbedarf produzierten. Doch selbst die für den Markt wirtschaftenden Bauern verweigerten dem Staat ihre Waren, da er nichts zum Austausch anzubieten hatte. Die Innenpolitik der Bolschewiki wurde von ihrem Verhältnis zu den Bauern bestimmt. Deren Zufriedenstellung konnte nur auf Kosten der Arbeiter geschehen, die Interessen der Arbeiter nur auf Kosten der Bauern wahrgenommen werden. Um an der Macht zu bleiben, verschrieb sich die bolschewistische Politik mal der einen, mal der anderen Klasse, um sich zuletzt durch den Aufbau eines absolutistischen Staatsapparates, der die ganze Gesellschaft beherrschte, von beiden unabhängig zu machen.

Gewöhnlich wird der Bürgerkrieg für die bolschewistische Diktatur verantwortlich gemacht. Weil das so ist, ist es nicht weniger wahr, daß der Bürgerkrieg den Bolschewisten die Staatsmacht sicherte. Als erste Organisation, neben der Partei, wurde die Tscheka zur Bekämpfung der Gegenrevolution in allen ihren Manifestationen organisiert. Eine Rote Armee ersetzte die „bewaffneten Arbeiter”, in der Armee die traditionelle Disziplin die Soldatenräte. Die Rote Armee kämpfte gegen innere und äußere Feinde und benötigte „Spezialisten”, d. h. Offiziere der zaristischen Armee, die sich den Bolschewiki zur Verfügung stellten. Das Prestige der Regierung wuchs durch die Siege der Armee. Was immer sonst ihre Einstellung war, im Bürgerkrieg standen die Bauern und Arbeiter notgedrungen auf Seiten der Bolschewiki, da die Rückkehr des alten Regimes nur zu ihrem Schaden sein konnte. Die Bauern verteidigten ihren neuen Besitz, die Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Anarchisten ihr nacktes Leben. Der Interventionscharakter des Bürgerkrieges gab diesem einen nationalen Anstrich und erlaubte der Regierung, ihn im Namen der Vaterlandsverteidigung zu führen.

Das Ende des Bürgerkrieges führte nicht zur Milderung, sondern zur Verschärfung der bolschewistischen Diktatur, die sich nunmehr ausschließlich gegen die innere, bisher „loyale Opposition” richtete. Bereits im März 1919 waren auf dem Bolschewistischen Parteitag Stimmen laut geworden, die die Unterdrückung aller Oppositionsparteien verlangten. Aber erst 1921 war die Partei bereit, alle unabhängigen politischen Parteien und die Oppositionsgruppen in der eigenen Partei auszuschalten. Der siegreiche Abschluß des Bürgerkrieges hatte der Opposition auch die Möglichkeit gegeben, die Parteidiktatur als nicht länger entschuldbar anzugreifen. Die Bauern verlangten das Ende der Zwangsrequisitionen, zu denen sich die Bolschewiki gezwungen sahen, und die Arbeiter protestierten gegen die schlechte Versorgung und die Antreiberei in den Betrieben. Die Welle von Streiks und Demonstrationen erreichte ihren Höhepunkt im Kronstadter Aufstand.

Die Rebellionen richteten sich nicht gegen das Sowjetsystem, sondern gegen die bolschewistische Partei-Diktatur. Für alle Mißstände der sozialen Situation wurde die Regierung verantwortlich gemacht; aber die Regierung war durch das System der Räte nicht länger beeinflußbar. Um dieses System demokratisch zu nutzen, mußte man das bolschewistische Regierungsmonopol sprengen. Das Verlangen nach „freien Sowjets” bedeutete Sowjets, die frei waren von der bolschewistischen Bevormundung, was praktisch nur heißen konnte: Sowjets ohne Bolschewisten. Es bedeutete politische Freiheit für alle Organisationen und Tendenzen, die an der russischen Revolution teilgenommen hatten, also auch für die Anhänger der bürgerlichen Demokratie, die nicht über den Kapitalismus hinausstrebten. Kurz: die Rebellen forderten die Rückkehr zu den Zuständen, die vor der Machtübernahme der Bolschewiki bestanden hatten, d.h. die Zurücknahme der bolschewistischen Revolution.

Es war unvermeidlich, daß der Kronstadter Aufstand den Beifall aller Feinde des Bolschewismus fand und damit auch den der Reaktion und der Bourgeoisie. Das erlaubte den Bolschewiki, den Aufstand in die Kategorie „Gegenrevolution” einzureihen, was aber nichts an der Tatsache ändert, daß die Aufständischen der Macht der Partei die der Sowjets entgegensetzten. Die Kronstadter Rebellen hatten nicht die Absicht, die zerfallene bürgerliche Demokratie erneut aufzurichten, sondern versuchten, die Selbstbestimmung der Sowjets zurückzugewinnen. Allerdings blieb objektiv nach wie vor die Alternative bestehen: entweder liberaler Kapitalismus oder autoritärer Staatskapitalismus, da die besonderen Umstände Rußlands, der Widerspruch zwischen den bäuerlichen und den proletarischen Interessen und die überwiegende Masse der Landbevölkerung jedes demokratische Regime zum Kapitalismus zu führen drohte.

Der Kronstadter Aufstand überzeugte Lenin jedoch davon, daß die Partei den autoritären Bogen überspannt hatte, und er übernahm einige der wirtschaftlichen Forderungen der Aufständischen, um auf politischem Gebiet zugleich die Zügel noch straffer anzuziehen. Mit der Neuen Okonomischen Politik begann ein teilweiser Rückzug zur kapitalistischen Marktwirtschaft, um die Bauern auszusöhnen und die Städte besser zu versorgen. Die Neue Okonomische Politik konnte als einfache Unterbrechung des „Sozialisierungs-prozesses” angesehen werden oder auch als ein lang andauernder Zustand, der das Risiko enthielt, daß die sich in ihm entwickelnden privatkapitalistischen Interessen den staatskapitalistischen Sektor überflügeln und ihn zuletzt vernichten würden. In einem solchen Falle wäre die bolschewistische Revolution vergeblich gewesen, ein Nebenprodukt der bürgerlichen Revolution. Lenin war aber überzeugt, daß eine Rückkehr zur Marktwirtschaft politisch und wirtschaftlich dadurch in Grenzen gehalten werden konnte, daß man Großindustrie, Banken und Außenhandel zentral beherrschte und den Regierungsapparat stärkte, indem man alle Oppositionsmöglichkeiten in der Gesellschaft und innerhalb der eigenen Partei ausschaltete.

Am Ende jedoch, nach dem Tode Lenins, wurden die in der Neuen Ökonomischen Politik liegenden Widersprüche und Gefahren durch die erzwungene Kollektivierung der Bauern aus dem Wege geräumt. Dies erforderte eine „Revolution von oben”, einen jahrelangen Kampf gegen die Bauern und den Ausbau eines absolutistischen Staatsapparates, der die Unterwerfung der ganzen Gesellschaft sicherstellte. Der Kurs war wieder auf kapitalistische Akkumulation als Staatskapitalismus gerichtet und hatte die wachsende Ausbeutung und die terroristische Kontrolle der gesamten arbeitenden Bevölkerung zur Folge. Die in die Revolution gesetzten Erwartungen der Arbeiter und Bauern blieben unerfüllt; sie hatten nur ein Herrschaftssystem gegen ein anderes ausgetauscht: den Zarismus gegen die bolschewistische Diktatur. Dennoch kann von einem „Verrat” der Revolution nicht die Rede sein. Die bolschewistische Partei hatte nie verheimlicht, daß sie sich berufen fühlte, die Revolution zu führen und den Staat zu beherrschen, um im Interesse der Weltrevolution die scheinbar unabwendbare bürgerlich-kapitalistische Entwicklung Rußlands zu verhindern. Und dies ist ihr tatsächlich gelungen, allerdings ohne damit die internationale proletarische Revolution voranzubringen.

DIE DRITTE INTERNATIONALE

Die russische Revolution war ein Produkt des Ersten Weltkrieges. Nach Lenin hätte die Revolution ohne den Krieg „unter Umständen vielleicht noch Jahrzehnte auf sich warten lassen”. Aber Rußland war das „schwächste und damit ausschlaggebende” Glied in der imperialistischen Kette und wurde so zum Ausgangspunkt der Weltrevolution gegen den imperialistischen Kapitalismus. In den Vorstellungen von Marx und Engels spielte der Imperialismus keine besondere Rolle in der Auslösung der proletarischen Revolution; es waren ihrer Meinung nach die inneren Widersprüche des höchstentwickelten Kapitalismus, die zur Revolution drängten, obwohl sie zugaben, daß eine Revolution in Rußland möglicherweise zu einer europäischen Revolution führen konnte. Für Lenin jedoch war der Imperialismus zur Lebensnotwendigkeit des Kapitalismus geworden, der alle Nationen, ohne Rücksicht auf deren Entwicklungsgrad, in die gegen den Imperialismus gerichteten revolutionären Bewegungen einbezog. Die Revolution hatte daher nicht nur in Rußland, sondern im Weltmaßstab den Charakter einer Volksrevolution, in der die Arbeiter und Bauern entscheidende Faktoren darstellten. Die Weltrevolution konnte als eine Imitation der russischen Revolution in erweitertem Rahmen verstanden werden, so daß die Erfahrungen der russischen Revolution die Probleme der Weltrevolution zu erhellen vermochten. Dementsprechend bezeichnete Stalin den Leninismus als „den Marxismus der Periode des Imperialismus”.

Der eigene Erfolg in Rußland erhärtete die Leninsche Uberzeugung, daß das bolschewistische Organisationsprinzip unerläßlich war. Es sollte auch der neu zu gründenden Internationale zugrunde liegen. Schon bei Ausbruch des Krieges stand fest, daß der abgewirtschafteten Zweiten Internationale eine revolutionäre Internationale entgegengesetzt werden mußte, um die sich in allen Ländern bildenden Oppositionen gegen den Chauvinismus der Sozialdemokratie zusammenzufassen. Die russische Revolution beschleunigte die Gründung der Internationale, brachte sie aber auch unter die Autorität der Revolution und damit letzen Endes unter die Autorität der zur Staatsmacht gewordenen bolschewistischen Partei. Die Internationale hatte von vornherein den Schutz der russischen Revolution zur Aufgabe, sei es durch die Ausdehnung der Revolution auf andere Länder, sei es durch die Verteidigung Rußlands gegen die Anschläge der internationalen Bourgeoisie.

Die russische Revolution hatte große Begeisterung im revolutionären Lager der sozialistischen Bewegung ausgelöst, nicht nur beim linken Flügel der sozialdemokratischen Parteien, sondern auch in den Gewerkschaften, bei den Industriearbeitern der Welt (I.W.W.), den Syndikalisten und sogar bei den sonst anti-staatlichen Anarchisten. Die Begeisterung für die erste sozialistische Revolution war groß genug, um fürs erste die Eigenarten der bolschewistischen Partei und Staatsauffassung zu verwischen. Im ersten Rausch der Revolution hatten selbst die Bolschewiki mehr in ihr gesehen als eine Parteisache. Als die Internationale Wirklichkeit wurde, traten jedoch die praktisch-organisatorischen und strategisch-taktischen Prinzipien des Bolschewismus wieder in den Vordergrund. Sie wurden im großen und ganzen akzeptiert und in 21 Bedingungen niedergelegt, die die Grundlage für die Aufnahme in die Internationale bildeten.

Die 21 Bedingungen verlangten die Bolschewisierung der sich der Internationale anschließenden Organisationen und die Realisierung des Leninschen Zentralisationsprinzips im internationalen Maßstab. Wie das Zentralkomitee der russischen Partei ihren „Generalstab” darstellte, so sollte das Zentralkomitee der Internationale zum „Generalstab” der Weltrevolution werden, dessen Beschlüssen in den einzelnen nationalen Sektionen unbedingt Folge zu leisten wäre. Daß die Interessen Rußlands und der bolschewistischen Partei dabei besondere Beachtung fanden, war durch die Beherrschung der Internationale durch die zur Staatsmacht etablierte Partei unvermeidlich. Aber durch die Identifizierung der speziellen Interessen Sowjetrußlands mit den allgemeinen Interessen der Weltrevolution wurde die Unterordnung der Internationale unter die russische Staatspolitik als selbstverständlich aufgefaßt.

In den Jahren des Bürgerkrieges und der Intervention schien die Existenz des bolschewistischen Regimes ausschließlich von der Ausbreitung der Revolution in den westeuropäischen Ländern abzuhängen. Die politischen Revolutionen in den besiegten Ländern indes führten nicht zu sozialen Umwälzungen, sondern zur Konsolidierung des kapitalistischen Systems. Obwohl nach der russischen Revolution sich revolutionäre Minderheiten für das Rätesystem einsetzten, folgte die breite Arbeiter-masse der Sozialdemokratie, deren Ziel sich auf die bürgerlich-demokratische Republik beschränkte. In Deutschland, dem ausschlaggebenden Land, vollzogen die spontan entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte ihre eigene Elimination, indem sie für die Einberufung der Nationalversammlung plädierten. Die Mittelklasse und die Bauern bildeten bereits die Konterrevolution innerhalb der Revolution. Ohne Zweifel erstrebte die Masse der Arbeiter den Sozialismus, aber für sie war die Sozialisierung nicht ihre Aufgabe, sondern die der Regierung — eine Illusion, die die Sozialdemokratie nur zu gut zu nutzen verstand. Mit dem Versprechen der Sozialisierung verband sich die Niederschlagung der revolutionären Gruppen, um der Bourgeoisie die Macht zu erhalten.

Wie leicht der Sieg für die Bourgeoisie gewesen war, wurde allerdings erst später klar; die erste Niederschlagung der revolutionären Kräfte mußte nicht zwangsläufig die endgültige Niederlage bedeuten. Da sich die wirtschaftlichen Zustände nur verschlechtern konnten, lag eine weitere Radikalisierung der Arbeiter durchaus im Bereich der Möglichkeit. Ob eine kritische Situation zur Revolution führt, kann nur durch den proletarischen Klassenkampf selbst erprobt werden, und es war die Aufgabe der Revolutionäre, neue Erhebungen vorzubereiten. Dies freilich war in den westeuropäischen Ländern nur als ein Kampf gegen die parlamentarische Demokratie möglich, ein Kampf gegen die mit der Bourgeoisie verbündeten Parteien und Gewerkschaften und damit für das Rätesystem und die Arbeiterdiktatur im wahren Sinne des Wortes. Es gab hier keine revolutionäre Bauernbewegung und keine revolutionäre Mittelklasse, mit denen sich das Proletariat solidarisch erklären konnte, um die Staatsmacht an sich zu reißen. Aber die westeuropäische Arbeiterklasse ist aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position und ihrer quantitativen Stärke sehr wohl imstande, die Wirtschaft unter ihre Kontrolle zu bringen und ihre politisch-militärische Schwäche dadurch auszugleichen. Gleichwohl blieben alle Versuche, die begonnene Revolution im proletarischen Sinne weiterzuführen, ohne Erfolg.

Wie schon erwähnt, war Lenin nach 1920 überzeugt, daß auf eine westeuropäische Revolution nicht mehr zu zählen sei, daß aber auch die Gefahr einer Vernichtung der Sowjetmacht vorläufig dadurch beseitigt war, daß sich ein Gleichgewicht der internationalen Klassenkräfte bildete und die imperialistischen Gegensätze im kapitalistischen Lager zunahmen. Es kam darauf an, die Atempause auszunutzen, um Rußland und den neuen Staat aufzubauen. Die Schwierigkeiten in Rußland machten nicht nur den Rückzug in die Neue Ökonomische Politik notwendig, sondern auch den Rückzug von jeder revolutionären Außenpolitik; dies um so mehr, als Lenin es für möglich hielt, Kapital zu importieren und die Operationsbasis auf dem Weltmarkt zu erweitern.

Das westeuropäische Proletariat hatte versagt, und auch die in die kolonialen Völker gesetzten Hoffnungen wurden enttäuscht. Wohl entstanden anti-imperialistische Bewegungen, die sich auf Lenins „Recht der nationalen Selbstbestimmung” stützten und sich dem bolschewistischen Regime verbunden fühlten, aber erst der Zweite Weltkrieg brachte die Aufhebung oder doch zumindest die Abwandlung des alten Kolonialismus. Während die Bolschewiki sich zunächst nur der allgemeinen Passivität angepaßt hatten, sahen sie sich bald zur Passivität gezwungen, um den russischen Aufbau nicht erneut zu gefährden. Seit 1921 hat sich die Kommunistische Internationale nur noch anti-revolutionär betätigt. So erklärte Trotzki auf dem 3. Kongreß der Kommunistischen Internationale im Hinblick auf den mitteldeutschen Aufstand: „Wir dürfen die Kritik der Märzaktion nicht phraseologisch verdecken und sind verpflichtet, der deutschen Arbeiterschaft klipp und klar zu sagen, daß wir diese Offensivphilosophie als die größte Gefahr und in der praktischen Anwendung als das größte politische Verbrechen auffassen.”[30]

In Rußland selbst entwickelte sich zur gleichen Zeit eine an die Partei gebundene neue Herrschaftsschicht. Die vorrevolutionären Forder.ungen: ”gleiche Arbeit und gleiche Löhne”, wie sie Lenin in Staat und Revolution proklamiert hatte, fanden nur insoweit Verwirklichung, als die sogenannte Periode des Kriegskommunismus zur strikten Rationierung der Lebensmittel führte. Doch den „Spezialisten” der Roten Armee folgten bald die „Spezialisten” in der Produktion und Verwaltung, und alle Gleichheitsforderungen wurden nun als der nationalen Produktion schädlich und als kleinbürgerlich-anarchistische Vorurteile verworfen. Die Differenzierung der Einkommen spaltete die Gesellschaft erneut in Ausbeuter und Ausgebeutete. Die „Diktatur des Proletariats” wurde nun von einem Staatsapparat repräsentiert, von dem Lenin 1923 sagen mußte, er stelle ”im höchsten Grade ein Uberbleibsel des Alten dar, das in geringstem Grade einigermaßen ernsthaften Veränderungen unterworfen ist. Er ist nur leicht übertüncht worden, im übrigen bildet er den ausgeprägtesten Typus des Alten aus unserem alten Staatsapparat”.[31]

Die Nutznießer dieses neuen Zustandes verloren das Interesse an der Weltrevolution im gleichen Maße, wie sich ihre eigenen Positionen in Rußland festigten und verbesserten. In dem 1921 erschienenen Buch Die wirtschaftlichen Probleme der proletarischen Diktatur schrieb Eugen Varga: „Es besteht die Gefahr einer Ausschaltung Rußlands als Motor der internationalen Revolution. Es gibt in Rußland Kommunisten, die, des langen Wartens auf die europäische Revolution überdrüssig geworden, sich endgültig auf eine Isoliertheit Rußlands einrichten wollen. (...) Mit einem Rußland, welches die soziale Revolution der anderen Länder als eine ihm fremde Angelegenheit betrachten würde, (...) würden die kapitalistischen Länder allerdings in friedlicher Nachbarschaft leben können. Es liegt mir fern zu glauben, daß eine solche Einkapselung des revolutionären Rußlands den Gang der Weltrevolution aufhalten könnte, aber sie würde ihn verlangsamen.”

Mit dem Ende der revolutionären „Offensivphilosophie” mußte auch die Rolle der kommunistischen Parteien in den westeuropäischen Ländern neu bedacht werden. Offensichtlich war es den Kommunisten nicht gelungen, die Massen zu erfassen, und offensichtlich deshalb nicht, weil diese Massen noch nicht revolutionär waren. Wollte man die Arbeiter dennoch für die Ziele der Kommunistischen Internationale gewinnen, so mußten Konzessionen an deren revolutionäre Rückständigkeit gemacht werden. Lenin war besonders stolz auf sein Talent für taktische Manöver; war ein Weg versperrt, so konnte ein anderer zum selben Ziel führen, vorausgesetzt, daß das Ziel stets das Bestimmende blieb. Wenn nötig, müßte man zu allen Konzessionen und Kompromissen bereit sein, um auf diesen Umwegen das revolutionäre Ziel dennoch zu erreichen. Allerdings bestand die Gefahr, daß man auf diesen Umwegen das Ziel aus dem Auge verlor — eine Gefahr, die eine korruptions-freie Führung der Partei abwenden konnte, wenn sie es verstand, im geeigneten Moment von der Konzessionspolitik zur revolutionären Praxis überzugehen.

Abgesehen davon, daß Lenins Ziel — der auf dem Wege des Staatskapitalismus zu realisierende Staatssozialismus — nicht das Ziel der westeuropäischen Arbeiter sein konnte, muß man zugeben, daß Lenin das eigene Ziel niemals verleugnet hat. Lenins außerordentliche Selbstsicherheit und Rechthaberei grenzte sicher ans Pathologische, aber das bewahrte ihn auch vor der Prinzipienlosigkeit der nur nach persönlicher Macht strebenden Politiker. Sie schützen ihn jedoch nicht vor der Illusion, daß die sozialistische Bewegung letzten Endes von ihrer Führung und damit von ihm selbst abhing. Er war überzeugt, daß man die Gegner auf allen Gebieten zu übertrumpfen habe, und daß man klüger und gerissener sein müsse als die kapitalistischen Gegenspieler. Konnte man nicht mit den eigenen Waffen sein Ziel erreichen, so mußte man die Waffen der Bourgeoisie gegen sie kehren. Die „rote Diplomatie” mußte die Rivalitäten innerhalb des kapitalistischen Lagers geschickt ausspielen, um die Interessen Rußlands, und damit die der Weltrevolution, zu fördern. Der Profithunger der Kapitalisten mußte ausgenutzt werden, um sie zu Investitionen in Rußland zu verleiten, die letzten Endes, mit der Entwicklung Rußlands, die Weltrevolution vorwärtstrieben. Der „rote Handel” diente nicht nur den momentanen Interessen der russischen Wirtschaft, sondern wurde zum indirekten Mittel der proletarischen Revolution. Die Bourgeoisie erlaubte sich den Luxus des Parlamentarismus und bot so der Partei eine „Tribüne revolutionärer Propaganda” zum Schaden der bürgerlichen Demokratie. Die Gewerkschaften waren ohne Zweifel konterrevolutionär, aber wenn man in ihnen arbeitete, hatte man die Möglichkeit, sie in Instrumente der Revolution zu verwandeln. Die Partei mußte überall sein, das ganze System durchdringen, um im geeigneten Moment, im direkten Kampf um die Macht, ihr wahres Gesicht zu enthüllen.

Damit war die Strategie der Dritten Internationale wieder auf die verfemte sozialdemokratische Praxis der Vergangenheit gerichtet. Ihre nationalen Sektionen wuchsen, indem sie sich zu konkurrierenden Wahlparteien reduzierten, um innerhalb des Kapitalismus an Gewicht zu gewinnen. Die revolutionären Eliteparteien wurden zu Massenparteien, ohne jedoch ihre ultra-zentralistische innere Struktur aufzugeben.

Die im Namen der Disziplin entmündigten Mitglieder nährten sich von dem Mythus der russischen Revolution und sahen im Wachsen der Organisationen die Verheißung des künftigen Siegs der eigenen Revolution. Der Leninismus entpuppte sich als eine eigenartige Mischung zwischen sozialdemokratischen Traditionen, Erfahrungen der bolschewistischen Partei und Bedürfnissen der russischen staatlichen und nationalen Politik — eine Kombination, mit der sich in Westeuropa keine revolutionäre Politik machen ließ, selbst dann nicht, wenn dies die Aufgabe der Dritten Internationale gewesen wäre.

DER LENINISMUS, GESTERN UND HEUTE

Abgesehen von den wenigen Kennern der russischen Sozialdemokratie war Lenin in der westlichen Arbeiterbewegung der Vorkriegsjahre fast unbekannt. Das änderte sich jedoch durch seine konsequente sozialistische Einstellung zum Krieg, die ihn in den Mittelpunkt der Renaissance der internationalen revolutionären Bewegung stellte. Er stand auf dem linken Flügel der Zimmerwald-Bewegung und agitierte für die Umwandlung des Krieges in den Bürgerkrieg, für den absoluten Bruch mit der Zweiten Internationale und für die Formierung neuer revolutionärer Parteien. Die Differenzen zwischen Lenin und der westeuropäischen Linken verblaßten angesichts der gemeinsamen Aufgaben, und der Sieg der bolschewistischen Partei in Rußland wurde allgemein gefeiert. Trotz vieler Vorbehalte und der Kritik an der Taktik der Bolschewiki begrüßte Rosa Luxemburg die bolschewistische Revolution, weil sie „zum erstenmal die Endziele des Sozialismus als unmittelbares Programm der praktischen Politik proklamierte”.[32] Sie befürchtete allerdings, daß die von den Bolschewiki ausgeübte Diktatur gefährlich werden könnte, wenn die Bolschewiki aus der Not eine Tugend machten und „ihre von diesen fatalen Bedingungen auf gezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik (...) empfehlen”.[33]

Das war natürlich genau das, was die Bolschewiki taten und was Lenins „Beitrag zum Marxismus” ausmacht. Obschon Rosa Luxemburgs eigene politische Einstellung noch unter der sozialdemokratischen Tradition litt, sah sie doch, daß diese Art Diktatur sich auch gegen die Arbeiter richten mußte. Die Arbeiter, die sich für das Rätesystem einsetzten, plädierten zwangsläufig für die Diktatur, da das Rätesystem praktisch die Diktatur des Proletariats bedeutet. Sie wandten sich gegen Lenin, nicht weil er die Diktatur forderte, sondern weil er eine Parteidiktatur meinte und weil er den westeuropäischen Arbeitern die Rückkehr zur sozialdemokratischen Praxis empfahl. Ein Teil der revolutionären Arbeiter hatte jedoch die Hoffnung auf die Revolution nicht aufgegeben. Doch auch ohne Aussicht auf die proletarische Revolution hielten sie es für unerläßlich, mit dem politischen Parlamentarismus und der Gewerkschaftsbewegung endgültig zu brechen, da die Unzulänglichkeit dieser politischen und organisatorischen Formen der Arbeiterbewegung geschichtlich bereits erwiesen sei. Als Mittel und Ziel dieser Neuorganisation galt ihnen nun die reine Rätebewegung.

An dieser Frage spalteten sich die kommunistischen Parteien. Die als Kommunistische Arbeiter-Partei und Allgemeine Arbeiter-Union organisierten Marxisten wiesen darauf hin, daß die Lage der Arbeiter, obwohl die Bourgeoisie in den sozialen Kämpfen vorerst gesiegt hatte, sich nur verschlechtern konnte, so daß für sie der Krisenzustand bestehen blieb. In dieser Situation sei nicht zu erwarten, daß die Gewerkschafts-bewegung und die parlamentarischen Parteien die unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiter befriedigen könnten, womit sie ihre klassenversöhnende Funktion verlieren und sich als direkte Werkzeuge der Bourgeoisie offenbaren müßten. Da objektiv die Situation eine revolutionäre blieb, sollte der Aufbau zeitgemäßer revolutionärer Organisationen und die Zerstörung der traditionellen Arbeiterorganisationen fortgesetzt werden. Gegen diese Auffassung verfaßte Lenin seine unrühmlich berühmte Schrift Der Radikalismus, eine Kinderkrankheit des Kommunismus (1921), die bald für die Quintessenz des Leninismus gehalten wurde.

Trotz der sich stetig verschlimmernden Lage gelang es den linken Kommunisten nicht, wirksame revolutionäre Organisationen auf zubauen. Die Massen blieben im Bannkreis der traditionellen Organisationen, zu denen nun auch die kommunistischen Parteien zu rechnen waren. Es existierten nun neben den Gewerkschaften zwei sozialdemokratische Parteien, die sich einzig in der Phraseologie, und auch darin nicht immer, voneinander unterschieden. Allerdings diente die eine dem deutschen Kapitalismus und die andere vornehmlich dem russischen Staatskapitalismus. Die Theorie und Praxis der kommunistischen Parteien, d.h. der Leninismus, beherrschte die gesamte pseudo-kommunistische Bewegung und fand bald durch den zusätzlichen Begriff des Stalinismus eine fatale Ergänzung.

Der Marxismus-Leninismus-Stalinismus repräsentiert den Niedergang der kommunistischen Bewegung im Weltmaßstab. Er ist der Ausdruck der auf den Ersten Weltkrieg folgenden verlorenen Revolution — insoweit sie als proletarische Revolution gelten konnte. Er ist dieser Revolution gegenüber ein Teil der internationalen Konterrevolution, ungeachtet der verbleibenden Gegensätze, die den russischen Staatskapitalismus vom westlichen Monopolkapitalismus scheiden, und unbeschadet der Leninschen Vorstellung der proletarischen Revolution als eines „dialektischen” Umschlags der bürgerlichen Revolution. Um die Leninsche Konzeption zu rechtfertigen, wäre es notwendig, die Existenz des Sozialismus in Rußland nachzuweisen, was aber nur bei einer Verwechslung von Ideologie mit Wirklichkeit möglich ist. Nur wenn der Sozialismus sich auf die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln beschränken ließe, könnte man, und auch dann nicht völlig, die russische Gesellschaft als sozialistische bezeichnen. Aber da sich Rußland in allen anderen sozialen Beziehungen nicht von den ausgesprochen kapitalistischen Ländern unterscheidet, kann man nicht behaupten, daß die russische Revolution bereits zum Sozialismus geführt hat.

Im internationalen Maßstab und für die internationale Arbeiterbewegung hat der Leninismus nur von einer Niederlage zur anderen geführt, wenn es sich auch zumeist nur um kampflose Niederlagen handelte.

Wenngleich dieser vollkommene Zerfall der internationalen revolutionären Bewegungen seinen Tiefpunkt nach dem Tode Lenins erreichte, fällt die Verantwortung dafür dem Leninismus als einer Basis der stalinistischen Politik zu. Obwohl es mehrfach versucht wurde, kann man vom Stalinismus nicht abstrahieren, wenn man vom Leninismus spricht. Aber selbst da, wo es geschieht, bleibt die Tatsache bestehen, daß der Leninschen Revolution durch das Konzept der staatskapitalistischen Partei-diktatur bereits die Gegenrevolution eingebaut war. Allerdings lassen sich gewichtige Unterschiede zwischen Lenin und Stalin ermitteln, da der eine die ihm als notwendig erscheinende Diktatur nur begann, während der andere sie bis zur äußersten Vollendung brachte. Auch ihr Stil war unterschiedlich: bei Lenin wurde die Wahrheit zur Demagogie, während für Stalin die Demagogie zur Wahrheit wurde.

Es mag sein, daß die internationale Arbeiterbewegung auch bei einer anderen Politik der Dritten Internationale zusammengebrochen wäre. Man kann sich auch vorstellen, daß der Leninismus auf Rußland beschränkt geblieben wäre, ohne daß sich deshalb eine konsequente kommunistische Bewegung in Westeuropa entwickelt hätte. Das ändert aber nichts an dem Sachverhalt, daß so, wie die Dinge lagen, die russische Revolution aus ihren eigenen Bedürfnissen heraus und aufgrund der Ideen Lenins verurteilt war, der internationalen Konterrevolution Vorschub zu leisten und selbst zu einem gegenrevolutionären Faktor zu werden. Für die westeuropäischen kommunistischen Parteien bedeutete die Haltung der Dritten Internationale allerdings nicht mehr als die Absage an jede revolutionäre Politik — bis zur kampflosen Selbstaufgabe unter der faschistischen Diktatur.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg neubelebten kommunistischen Parteien des Westens sind mit dem Leninismus der russischen Revolution nur noch rein ideologisch verbunden. In ihrer Praxis sind sie einfache Reformparteien, die sich von der Sozialdemokratie nur wenig unterscheiden, jedenfalls nicht in ihrer Bereitwilligkeit, an kapitalistischen Regierungen teilzunehmen und die bürgerliche Demokratie zu verteidigen, die nun von neuem als der einzig gangbare Weg zum Sozialismus gepriesen wird. Die „echten Leninisten” sind darum nicht mehr in den kommunistischen Parteien zu finden, sondern bei den Opponenten des Stalinismus, die der „verratenen” Revolution die falschverstandene Doktrin Lenins entgegensetzen.

Die wahre Bedeutung der bolschewistischen Revolution war nicht von vornherein ersichtlich und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg völlig klar. Wir müssen daran erinnern, daß sich Lenin in seiner Einstellung zur bürgerlichen Revolution auf die Marxsche Politik von 1848 bezog. In einem kapitalistisch-unentwickelten Land ist die bürgerliche Revolution, historisch gesehen, auch vom Arbeiterstandpunkt aus fortschrittlich, da erst die entwickelte kapitalistische Gesellschaft dem Sozialismus seine Chance gibt. Aber hier handelt es sich um historische Perioden, nicht um ein paar Monate oder, genau genommen, um die Zeit vom Februar bis zum Oktober 1917. Wie schon bemerkt, nahm Lenin jedoch an, daß in der Periode des Imperialismus, „des höchsten Stadiums des Kapitalismus”, die bürgerliche Revolution direkt in die proletarische umschlagen werde, wenn beide Arten der Revolution in verschiedenen Ländern zeitlich zusammenfallen. Es spielte deshalb keine Rolle, in welchen Ländern, entwickelten oder unentwickelten, die Revolution zuerst ausbrach; sie mußte im Namen der sozialistischen Weltrevolution geführt werden. Da die Bevölkerungsmehrheit in den unentwickelten Ländern sich aus rebellierenden Bauern zusammensetzt und eine kleine Minorität moderner Proletarier auch schon vorhanden ist, sollte es möglich sein, die bürgerlichen und proletarischen Revolutionen durch die Existenz revolutionärer Parteien zu integrieren, die sozusagen über den besonderen Klassen stehen, oder besser: die die durch den Imperialismus geschichtlich gebotene Chance ausnutzen, um auf politischem Wege die sonst ordinäre kapitalistische Wirtschaftsentwicklung in den allgemeinen Fortschritt zum Sozialismus umzuleiten.

Tatsächlich sind bürgerliche Revolutionen des alten Typs nicht länger möglich, d.h. Revolutionen der liberalen Bourgeoisie und der Bauern gegen die feudale Oberherrschaft. Der Monopolkapitalismus und dessen Kontrolle über den Weltmarkt, verbunden mit der fortschreitenden nationalen und internationalen Konzentration des Kapitals, erlauben den unentwickelten Ländern keine selbständige nationale kapitalistische Entwicklung. Das ist nur durch die Lösung aus dem kapitalistischen Weltmarktsystem möglich, und durch die politische Befreiung aus der imperialistischen Unterjochung. Der erste Versuch ist auf dem Wege der Konkurrenz und der langsamen Entwicklung kapitalistischen Privateigentums, so wie sie sich einst in den dominierenden kapitalistischen Ländern vollzogen hat, nicht möglich; der zweite benötigt national-revolutionäre Befreiungskriege, die sich ebenso gegen die mit der internationalen Bourgeoisie verwachsene und von ihr abhängige eigene herrschende Klasse richten wie gegen das imperialistische Kapital. Da sich der Kampf der unterdrückten Nationen auf die Volksmassen stützen muß und gegen das ausländische Kapital gerichtet ist, kann er nicht mit kapitalistischer Ideologie geführt werden, sondern muß sich ideologisch als anti-kapitalistisch — oder sozialistisch — präsentieren. Die Träger dieser Ideologie sind die der Entwicklungsmöglichkeiten beraubten intellektuellen Mittelschichten, die durch die nationale Revolution und die Beherrschung des Staatsapparates zur neuen herrschenden Klasse werden.

Die vorhandene Konzentration des herrschenden Kapitals muß mit der noch weitergehenden Kapitalkonzentration durch den Staat wettgemacht werden. Die unerläßliche und verzögerte Industrialisierung fordert einen wachsenden Teil der nationalen Produktion zu Zwecken der Kapitalakkumulation. Die Bauernrevolution führt zu einer zweiten staatlich-organisierten „Revolution” gegen die Bauern, um auf dem Wege der kollektiven Wirtschaft das landwirtschaftliche Mehrprodukt zu vergrößern. Das industrielle Proletariat wächst mit der Industrialisierung, braucht aber noch Jahrzehnte, um zur ausschlaggebenden sozialen Klasse zu werden. Was sich hier vollzieht, ist die forcierte kapitalistische Entwicklung ohne die traditionellen Kapitalisten in Vorbereitung auf die Umstände, die erst zu einem späteren Termin eine sozialistische Revolution möglich, aber auch unerläßlich machen, da dieser Prozeß mit der Herausbildung einer neuen herrschenden Klasse verbunden ist, die die von ihr geschaffenen und ihre Privilegien garantierenden sozialen Verhältnisse zu verewigen sucht.

Da Rußland das Musterbeispiel dieser gesellschaftlichen Transformation ist, kann mit Sicherheit gesagt werden, daß Lenins Theorie vom Aufbau des Sozialismus durch den Staat auf der idealistischen Illusion beruht, daß der reine revolutionäre Wille zur Revolution und zum Sozialismus genügt, um alle diesem Willen entgegengesetzten Kräfte aus dem historischen Geschehen auszuschalten. Was Lenin erreichen konnte, war nur das, was der notwendigen Entwicklung der kapitalistisch zurückgebliebenen Länder unter den gegebenen Umständen entspricht und was nicht notwendigerweise mit Marxscher Ideologie verkleidet sein muß. Der Prozeß, der Rußland verwandelte, wiederholte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Teil mit, zum Teil ohne die Marxsche Theorie in den nationalen Befreiungskämpfen in Asien und Afrika, wo in vielen Fällen die bolschewistische Partei durch die Armee ersetzt werden konnte.

Die national-revolutionären Bewegungen der Dritten Welt sind nicht Zeichen einer herannahenden weltweiten sozialistischen Revolution, sondern aus der Not geborene Versuche der eigenen Kapitalisation, deren erste Voraussetzung der Kampf gegen den alten Imperialismus ist. In dem Maße, in dem es den national-revolutionären Ländern gelingt, sich von fremder Ausbeutung zu befreien, vertiefen sich die dem Kapitalismus eigenen Schwierigkeiten und tragen zu seiner Auflösung bei. Als Ausdruck des zerfallenden Kapitalismus sind diese Bewegungen vom proletarischen Klassenstandpunkt aus zu begrüßen; aber das ändert nichts an der Tatsache, daß sich die Ziele der proletarischen Revolution nicht mit denen der nationalen Selbständigkeitsbestrebungen vereinbaren lassen. Zu einer Zeit, in der sich Länder, die sich auf den Leninismus berufen, als Feinde gegenüberstehen, ja sich gegenseitig zu zerstören drohen und in der national-staatskapitalistische Interessen, wie alle nationalen Interessen, als imperialistische Interessen auftreten, ist es nicht mehr möglich, von einer Identität der national-revolutionären und der proletarischen Bewegung zu sprechen.

Es wäre natürlich schön, wenn sich die anti-kapitalistischen und anti-imperialistischen Bewegungen in einer großen gemeinsamen Front gegen den imperialistischen Kapitalismus zusammenfassen und unter eine einheitliche revolutionäre Führung bringen ließen. Aber das ist nur in der Vorstellung, nur als Idee möglich, da die Verschiedenheiten der materiellen und sozialen Zustände in den einzelnen Ländern eine solche revolutionäre Einheitsfront ausschließen. Die national-revolutionären Bewegungen können nicht zum Sozialismus führen, und die einzige Revolution, die die Arbeiter des Westens machen können, ist die sozialistische Revolution. Die Theorie und Praxis des Leninismus liegt jedoch noch vor der sozialistischen Revolution, die erst noch ihre eigene Theorie und Praxis zu entwickeln hat. Wenn die Leninisten nicht müde werden, den sehr allgemeinen Satz, daß „es ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung geben” kann, wie ein Gebet herzusagen, so kann man dem zwar zustimmen, muß aber zugleich fragen: Wesbalb gerade Lenins Theorie?

 


Fussnoten:

[1] Lenin, Was tun? (1902). In: Ausgewählte Werke, Berlin 1932, Bd. II, S. 99.

[2] Ibid., S.62.

[3] Ibid., S. 63.

[4] Ibid., S. 68.

[5] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück (1904).

[6] R. Luxemburg, Organisationsfragen der Russischen Revolution. In: Politische Schriften, Frankfurt am Main, 1968, Bd. III, S. 101.

[7] Ibid., S. 86.

[8] Ibid., S. 105.

[9] Lenin, Die Auflösung der Duma und die Aufgaben des Proletariats (1906). In: Ausgewählte Werke, Bd. III, S. 371.

[10] Ibid., S. 372.

[11] Ibid., S. 375.

[12] Lenin, Sozialismus und Anarchismus (1905). In: Ausgewählte Werke, Bd. III, S. 335.

[13] Ders., Aus den Resolutionsentwürfen für den 5. Parteitag der SDAPR. In: Ausgewählte Werke, Bd. III, S. 477.

[14] Lenin, Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen (Sept. 1917). In: Ausgewählte Werke, Bd. VI, S. 216.

[15] Ders., Bericht über die Taktik der KPR(b) auf dem 3. Kongreß der Kommunistischen Internationale (1921). In: Ausgewählte Werke, Bd. IX, S. 243.

[16] Ibid., S. 241.

[17] Lenin, Über das Genossenschaftswesen. In: Ausgewählte Werke (1936) Bd. IX, S. 441.

[18] Ders., Über die Naturalsteuer. In: Ausgewählte Werke, Bd. IX, S. 180.

[19] Ibid., S. 181.

[20] Lenin, Bericht auf dem 2. Allrussischen Kongreß der Abteilungen für Proletarische Aufklärung. In: Ausgewählte Werke, Bd. IX, S. 283.

[21] Ders., Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht. In: Ausgewählte Werke, Bd. VII, S. 348.

[22] Ibid., S. 349.

[23] Ausgewählte Werke, Bd. VII, S. 47.

[24] Marx-Engels, Werke, Berlin 1962, Bd. 17, S. 342.

[25] Zitiert bei Fritz Brupbacher, Marx und Bakunin, Berlin 1922. S. 114-115

[26] Marx an F. D. Nieuwenhuis. In: Marx-Engels, Werke, Bd. 35, S. 160.

[27] Karl Korsch, Revolutionäre Kommune. In: Schriften zur Sozialisierung, Frankfurt am Main, 1969, S. 107.

[28] Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. VII, S. 45.

[29] Ausgewählte Werke, Bd. VII, S. 93.

[30] Zitiert in Die KPD. im eigenen Spiegel, KAPD Verlag, Berlin 1926, S. 30.

[31] Lenin, Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen. In: Ausgewählte Werke, Bd. IX, S. 413.

[32] Die Russische Revolution. In: Politische Schriften, Bd. III, S. 116.

[33] Ibid., S. 140.

 


Zuletzt aktualisiert am 02.3.2011