Paul Mattick


[Rezension von M. Beers „Allgemeine Geschichte des Sozialismus“]

(Februar 1933)


Aus: Proletarier, Zeitschrift für Theorie und Praxis des Rätekommunismus, Jg. 1, Nr. 1, Februar 1933, S. 32f.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



Max Beer: Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe. (Sechste durchgesehene und erweiterte Auflage). Neuer Deutscher Verlag, Berlin W 8. (In Leinen 10.— Mk., brosch. 8,— Mk.)


Max Beer's „Allgemeine Geschichte des Sozialismus“ ist für den Proletarier zugleich eine Weltgeschichte. Die einzelnen Abschnitte: Altertum — Mittelalter — Neuere Zeit und Neueste Zeit, so skizzenhaft knapp sie auch gefaßt sein mögen, sagen doch genug über die Entwicklungstendenzen der menschlichen Gesellschaft, die in den Klassenkämpfen ihre Form und ihren Inhalt finden, daß sie dem Proletariat mehr bedeuten, als die meisten der dickleibigen und zugleich populär-sein-wollenden Weltgeschichten, einschließlich H.G. Wells.

Mit der Theorie des antiken Kommunismus einsetzend, führt uns M. Beer's Werk über die Entwicklung des sozialen und geistigen Lebens in Palästina und Griechenland, der vorchristlichen Zeitrechnung, zur kommunistischen Praxis in Sparta und den kommunistischen Theorien in Athen. Der in der sozialistischen Literatur oft verkannte Plato, von dem ein Zitat aus seinem „Staat“ dem Buch als Motto dient, wird für die Geschichte des Sozialismus mit den natürlich notwendigen Einschränkungen rehabilitiert. Der erste Abschnitt des Buches endet mit dem Höhepunkt der sozialen Kämpfe »des Altertums, dem Sklavenaufstand des Spartakus, dem in kurzer Zeit der Zusammenbruch Roms folgte.

Das „Mittelalter“ zeigt, wie sich in der Sprache des christlichen Glaubens die ökonomischen Interessen der einzelnen Klassen äußern. Es zeigt uns die „Interessen“, die hinter den Kreuzzügen standen, die Versuche zur Wiederherstellung der urchristlichen Gemeinde, die chiliastischen Sehnsüchte der unterdrückten Klassen.

Die Teile „Mittelalter“ und „Neuere Zeit“, die über die Bauernaufstände bis zum dreißigjährigen Krieg führen, könnte man fast als marxistische Kirchengeschichte bezeichnen. Den Epilog zu dieser Periode bilden die Utopien von Thomas Morus bis zu den praktischen Versuchen der Verwirklichung der verschiedensten, utopistischen Theorien in den religiös-kommunistischen Siedlungen Amerikas. Die Menschen jener Epoche blicken rückwärts statt vorwärts, sie wollen einen verlorenen Zustand wiederherstellen, anstatt mit der Entwicklung gehend einen besseren herzustellen. Doch die Oekonomie jener Zeit ließ noch nichts anderes zu.

Dann folgt in M. Beer's Buch die interessanteste Epoche der Entwicklung: die Zeit von 1750—1860, der industrielle Aufschwung Englands und Frankreichs, die sie begleitenden Revolutionen,, die ersten Vorläufer der modernen proletarischen Bewegung: Charles Hall in England, Babeuf und Genossen in Frankreich. Fichte, Saint-Simon, Fourier, Owen werden an ihren richtigen Platz gestellt. Die Bedeutung der Luddisten-Bewegung in England wird aufgezeigt und mit Blanqui und der Februarrevolution 1848 schließt diese meisterhaft gezeichnete Epoche.

Der letzte Abschnitt, „Die Zeit bis 1920“, ist noch eng mit den heutigen Kämpfen verbunden. Er beginnt mit der Entwicklung Deutschlands seit Anfang des 19. Jahrhunderts, zeigt die Ansätze der proletarischen Bewegung in der Skizzierung der ersten Arbeitervereinigungen, die ihren besten Ausdruck im „Bund der Gerechten“ unter der Führung Weitlings fanden. Ueber die Darstellung der sozialen vormärzlichen Dichtung Deutschlands gibt Beer neben der Biographie Marx und Engels einen Ueberblick auf deren Gesamtwerk. Die Darstellung der Zeit der 1. Internationale enthält die Rolle Lassalles in der deutschen Arbeiterbewegung, sowie die Bedeutung der Pariser Kommune. Kautsky wird bis 1914 als orthodoxer Marxist betrachtet, obwohl revisionistische Züge schon seit seinem Auftreten zu erkennen sind.

Aus der Tätigkeit der 2. Internationale während der Vorkriegszeit interessiert besonders die schon damals sozialchauvinistische Einstellung der großen Führer, inklusive August Bebels.

Die Darstellung der außereuropäischen Arbeiterbewegung ist in Beers Werk sehr schwach. Speziell Amerika kommt schlecht dabei weg. Die Rolle De Leons, wie die Rolle der IWW innerhalb der amerikanischen Bewegung ist ganz oberflächlich gesehen. Es ist aber auch ganz unmöglich, die Besonderheiten der amerikanischen Arbeiterbewegung auf drei Buchseiten erschöpfend behandeln, sowie es unmöglich ist, mehrere aber nicht sehr wesentliche Schwächen in Beers Buch in einer Besprechung nutzbringend zu kritisieren. Zusammenfassend sei gesagt, daß Beers Arbeit für das kämpfende Proletariat wertvoll ist. Sie richtet unseren Blick auf die Totalität der Entwicklung, die uns erst ihre bewegenden Gesetze erkennen läßt. Wir sind Beer zu Dank verpflichtet, und versuchen dem gerecht zu werden, indem wir seine Arbeit aufs wärmste empfehlen.

Die letzten dreißig Seiten des fast achthundert Seiten starken Buches sind nicht mehr von Beer geschrieben. Sie haben (unverständlicherweise auf Wunsch M. Beers) den zickzacklinientreuen „Berufs“-Theoretiker Dr. Hermann Duncker zum Verfasser. Duncker behandelt den „Leninismus“, die Russische Revolution und den Aufbau bis zum Fünfjahresplan, die deutsche Bewegung seit 1918, die 3. Internationale und ihre einzelnen Landesparteien und schließt mit dem Phrasenschema vom „kommunistischen Endziel“, wie es der Kommissar versteht. Man kann natürlich M. Beer nicht für den „Rote Fahne-Schmus“ des Dr. Duncker verantwortlich machen. Aber diese oberflächlichen Schlußbetrachtungen geben dem Werk einen unangenehmen Nachgeschmack. Die Demagogie, mit der Duncker auf den Engels'schen Ausspruch „vom Bauern als dem natürlichen Bundesgenossen des Arbeiters“ hinweist, um seine Argumentation im Interesse der Leninschen Politik zu unterstützen, zeigt nur die Abgebrühtheit dieser Sorte von Theoretikern, die sich scholastisch um Zitate schaukeln, anstatt den Marxismus als Methode anzuwenden. Bezeichnend ist es auch, daß der hier als „Historiker“ auftretende Duncker in der Darstellung der russischen Revolution den Namen Trotzki vollständig verschweigt. Der „Anmerkungsfabrikant“ der KP-Verlagsgesellschaften ist aus Berufsgründen vergeßlich. Er spricht von der „anarchistischen Gruppe der KAPD“, die ausgesondert wurde, übersieht die grundsatzlose Politik der 3. Internationale in China und in Deutschland. Er rechtfertigt den ganzen opportunistischen und reformistischen Betrieb, dem Lenin mit seinem letzten Buch „Kinderkrankheiten“ den Weg ebnete. Denn Geschichtsschreibung bedeutet für ihn Apologetik seiner Sekte.

Zum Schluß gibt uns Duncker einen Einblick in seine politischen Zukunftsphantasien. Er führt aus, daß die Neue Oekonomische Politik (NEP), wie sie in Rußland genannt wird, überall im Aufbau des Sozialismus eine Zwischenphase bilden müsse. Das ist nichts weiter, als das Bekenntnis zu einem zweiten 9. November, als die grundsätzliche Bereitschaft zu neuem Verrat. Hiermit vergleiche man die Debatten der Bolschewiki um die NEP, für die selbst Lenin nur eine Entschuldigung in den spezifischen, nur Rußland eigentümlichen Verhältnissen fand, verstärkt durch die Lage Rußlands, umkreist von den imperialistischen Nationen.

Reißt diese letzten dreißig Seiten heraus. Sie sind wertlos.


Zuletzt aktualisiert am 4.1.2009