Paul Mattick


Endstation

(Dezember 1933)


Aus: Neue Deutsche Blätter, Monatsschrift für Literatur und Kritik, Prag, 1. Jg, Nr. 4, 15. Dezember 1933, S. 213-8.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



Insull-Bankerott!“ — Das gab Schlagzeilen für mehr als eine Woche. Das war auch das Ende der Chicagoer Oper. Galli Gurci zog sich auf ihr Landheim zurück, züchtete Rosen und verweigerte die Zahlung ihrer Steuern. Ein Haus an der Riviera geriet unter den Hammer. Tito Schipa entließ zwei Privatdetektive. Sein Erbe konnte nun ruhiger schlafen. Er würde nicht mehr von Erpressern geraubt werden, aber auch ein paar Hunderttausend weniger wert sein. Kündigungen — Enttäuschungen —Tränen! Das Ballett wurde aufgelöst. Die Hula-Hula-Mädchen der Burlesques schüttelten ihre Brüste heftiger, um der neuen Konkurrenz zu begegnen.

Der große Kunstmäzen, der Vater und Besitzer der Oper, das Finanzgenie, der alte, große Insull befand sich auf der Flucht. London—Paris—Athen!

Vier große Selbstmorde, die Schlagzeilen fanden. Ein Dutzend kleinere, nur mit drei Zeilen gewürdigt, waren der Lebensversicherungsgesellschaft peinlich. Wer viel verloren hatte, sprang aus dem achtzehnten Stockwerk der fashionablen Goldküstenappartements. Wer weniger tief zu fallen hatte, tauchte vom Pier ins Dunkel des Michigansees.

Die Straßenbahnen gehörten dem Insull-Konzern. Würde ihr Betrieb eingestellt werden? Würden die Schienen langsam verrosten? — Das Leben ging weiter. Chicago hatte große Pläne. Die Weltausstellung wurde vorbereitet. „Ein Jahrhundert des Fortschritts!“ Die Straßenbahn fuhr auch ohne Insull.

Das war wohl neu für Bill Waters, aber nichtsdestoweniger erschien es ihm durchaus natürlich. Ein Leben ohne Straßenbahn? — Unvorstellbar! Zu eng war sie mit dem Leben Bill Waters verbunden. Zwanzig Jahre als Schaffner auf der Linie Halstedstreet lagen hinter ihm. In dieser Zeit war ihm die Straßenbahn identisch mit seinem Brot, seinem Haus, seinem Weib, seiner Sorge und seinem Gesprächsstoff geworden.

Eine lange Strecke; quer durch die ganze Stadt. Zweimal von Endstation zu Endstation, und der Lohn war fast verdient. Aber aus der Gewohnheit wurde Notwendigkeit, und stets belebte sich Bills Gesicht, wenn er das alte und ihm so bedeutungsvolle Lied singen hörte: „O, du liebe Halstedstreet — Halstedstreet — Halstedstreet!“

Zwanzig lange Jahre. Mit Bier und ohne Bier, im Frieden und im Kriege, durch alle Krisen hindurch. Die Gewerkschaft erledigte die Tariffrage, man brauchte sich um nichts zu kümmern; der Lohn fiel nie aus. Man zahlte der Gewerkschaft für seine Ruhe, wie Tito Schipa für die Ruhe seines Erben gezahlt hatte. Das Leben war einfach.

Nach zehnjähriger Ratenzahlung besaß Bill Waters ein Haus an der Peripherie. Er hatte Geld auf der Bank und besaß Aktien des Insull-Konzerns. Bill war mehr als ein Schaffner. Der Wagen, den er fuhr, gehörte, wenn auch nur theoretisch, zu einem Bruchteil ihm selbst. Deshalb war Bill ein guter Arbeiter gewesen. Wer umsonst fahren wollte, betrog nicht nur die Company, er betrog auch Bill Waters.

Nach zwanzig Jahren Halstedstreet kam für Bill die Behaglichkeit des Rentiers. Die Bank gab Zinsen, die Aktien brachten Dividende, das Haus warf Miete ab, und die so glücklich organisierte Welt gestattete Bill Waters, die praktische gegen die philosophische Seite des Lebens auszutauschen. Nebenbei, die Aktien stiegen. Für die Einheit von 100 gab es bald 250, und als das Genie Insull auf Deckung zu pfeifen begann, sogar 370 Dollars. Kapital schwitzte Kapital.

Jedoch, als Bill Waters seine Aktien verkaufen wollte, da handelte das Genie schon nicht mehr mit Aktien, sondern verkaufte auf der Londoner Hundebörse seine Zucht dänischer Doggen. Die Straßenbahnen waren noch da, die Oper reckte sich hoch am Illinoisfluß, aber niemand wollte sie theoretisch besitzen. Die Aktien waren wertlos. Insull jun. zog den Hut tief ins Gesicht, als der Pressephotograph den Poloplatz betrat.

Die Bank schloß ihre Schalter vor Bill Waters. Wie kann eine Bank eines Tages aufhören, eine Bank zu sein? Das konnte er nicht fassen. Der Polizist wußte besser Bescheid. Er schob Bill mit vielen anderen vom Bürgersteig. „Weitergehen! — Weitergehen!“ — Die Türen des Bankgeschäftes waren versiegelt. Die Siegel verschwanden erst, als der kalte Marmor der Schreibtische zu Schanktischen verarbeitet wurde, als anstatt der vier Prozent Zinsen vierprozentiges Bier floß, als das Ende der Prohibition eine Bierkonjunktur entwickelte, die aus den geschlossenen Banken über Nacht komfortable Kneipen machte.

Als Bill Waters’ Hausgenosse mit seiner Miete fünf Monate im Rückstand war, warf Bill ihn auf gerichtlichem Wege hinaus. Damit war seine letzte Einnahmequelle für immer versiegt, denn es gab keine Mieter mehr. Fast eine Million Arbeitslose zählte Chicago. Das war gleichzeitig der Ruin der kleinen Hausbesitzer.

Mehr und mehr Fabriken schlossen ihre Tore, schränkten die Arbeit ein. Das ganze System wankte. Nichts funktionierte mehr wie sonst. Nur der Staat blieb fest, der letzte, wirklich ruhige Punkt im allgemeinen Wirtschaftselend. In den vorgeschriebenen zeitlichen Abständen forderte er nicht nur Steuern, sondern immer höhere Steuern. Nicht von den Arbeitslosen, für sie war ein Teil der Steuern bestimmt. Nicht von Insull, denn der war bankerott. Nicht von Morgan, der seit Jahren über sinkende Profite klagte, sondern von den Grundbesitzern. Von diesen allein, wie es Bill Waters schien. Bill konnte sich in seinen ruhigen Stunden ausrechnen, wann der Staat sein Haus öffentlich versteigern würde, um mit dem Erlös die fälligen Steuern zu decken. Aber noch war er, wenn auch nicht mehr theoretisch, so doch praktisch der Eigentümer.

Samuel Insull ließ sich auf der Akropolis photographieren. Stolze Ruinen, aber sie belebten nicht mehr die Phantasie Bill Waters. Zwar brauchte der Staat die Steuern, um das Eigentum zu schützen, doch die Banken blieben geschlossen. „Weitergehen! — Weitergehen!“ Bill hörte das jetzt vor dem Wohlfahrtsamt, und es klang dort nicht milder. Er trug noch immer einen gestärkten Kragen, die Straßenbahnen fuhren auch ohne Insull, die Weltausstellung stand vor der Tür, der Präsident hatte Pläne, und das Finale der Selbstmörder erklang seltener auf dem Straßenpflaster. Die Presse erzeugte Optimismus, wo immer das Leben ihn verweigerte. Und auch das brachte Schlagzeilen. Nur Geduld!

Die Halstedstreet ist eine lange Straße. Eine Ewigkeit von Endstation zu Endstation. Die Passagiere schliefen regelmäßig ein. Bill war eben erst eingestiegen — in den Elendskarren der Wohlfahrtspflege.

Eine traurige Strecke, eine ermüdende Strecke. Rechts und links Baracken. Die Heilsarmee an den Ecken. Leere Plätze. Schutt! Tränengas gegen die Höhlenbewohner der Bauplätze. Schwangere Frauen in dünnen Mänteln, die sich über dem Bauch nicht schlossen. Diebisch-hungrige Kinder. Strichmädchen mit großen Familien. Tuberkulöse Neger. Ein Totschlag für zwanzig Cents. Betrunkene! Leere, zerfallene Fabriken. Zerrissenes Pflaster, — meilenweit —, die traurigste Perspektive der Welt.

Auf halbem Wege legte Bill den Kragen ab. Nunmehr eine Erinnerung, die Akropolis en miniature. Er war wohl ein Rentier, aber auch ein alter Mann, und die Banken blieben geschlossen.

Er saß in einem Raum, in dem man nur sitzen, nicht leben kann, von vormittags um neun bis nachmittags um vier, um zu erfahren, daß er den nächsten Tag genau so zu verbringen habe. Er sah sich die Leute an. Sie wollten alle dasselbe und hatten doch alle noch andere Gedanken. Die Wohlfahrtshelferinnen arbeiteten ehrenamtlich, und ihre Fingernägel waren rot wie ihre Lippen. Des abends sprachen sie über Sozialpolitik und standen dann über dem Durchschnitt der Frauen. Sie hatten nicht zu denken, sondern Vorschriften zu befolgen, und sie konnten alle lesen. Es war ihre Aufgabe, die ehrenvolle Aufgabe, die ehrenamtliche Aufgabe, die sozialpolitische Aufgabe, jeden Fall zu erschweren, um diejenigen, die die Hilfe nicht unbedingt benötigten, abzuschrecken. Der Weg der Wohlfahrtspflege war lang wie die Halstedstreet. Wer Hunger hat, wartet. Der Hunger äußert sich vornehmlich und zuerst in Geduld, erst später...!

Bill Waters hatte jedoch seine Geduld verbraucht, bevor er die Wohlfahrtsstelle betrat. Als die Reihe an ihn kam, da hatte er nicht mehr ein Gesuch einzureichen, sondern bereits ekelhaften Hunger. Seine Frau wartete. Die Nachbarn verweigerten seit langem jeden Kredit mit derselben Unhöflichkeit wie der Krämer. Verkaufen ließ sich nichts. Es gab weder Käufer noch Preise. Die Möbel Bill Waters trugen die Spuren eines zwanzigjährigen Lebens. Und weshalb sollte Bill verkaufen? Insull war in Athen, die Banken schenkten Bier aus. Anderen wurde geholfen. Bill hatte einen guten, einen Volkspräsidenten; weshalb sollte nicht auch ihm geholfen werden?

Die Wohlfahrtspflegerin las es jedoch anders in der Vorschrift. Sie sah Bill bedauernd, wirklich aufrichtig bedauernd an. Das Gesuch sei abgelehnt; er könne ja nicht den Offenbarungseid leisten, er sei Hauseigentümer, als Besitzender fiele er auf keinen Fall unter die Wohlfahrtshilfe. Bill Waters begriff langsam, daß er weder theoretisch, noch praktisch etwas besitzen dürfe, um seinen Hunger stillen zu können. Wir leben in einer Welt von Extremen, nur dem ganz Reichen und dem ganz Armen wird geholfen. Dem einen mit einem Paß nach Athen, dem anderen mit dem Gefängnis.

Und doch, es kam für Bill Waters wirklich nicht auf den Moment an. Er hätte betteln können, aber wie konnte ein Mann betteln, der Aktien besaß, der Eigentümer war, der zwanzig Jahre an Bettlern vorbeigefahren war? Er wollte leben, nicht betteln. Er hatte ein Anrecht auf Hilfe, es war nicht seine Schuld, daß der Staat noch nicht an Zwangsversteigerung dachte. Das Mädchen sah nur die Vorschrift. Nichts zu machen. Der Nächste! Weitergehen!

Es gab noch eine höhere Instanz. Bill scheute keine Mühe. Zwei Tage später hörte man ihn an. Bill war während dieser zwei Tage sehr ruhig gewesen, sicher würde man ihm recht geben, sicher würde man ihn begreifen; alles konnte er bis aufs kleinste erklären, und wenn nicht: nun er würde ihnen zeigen, daß man ihn nicht ignorieren kann, daß er kein Bettler wird. Er würde sie zwingen, auch ihm den Glanz der Sonne zu gewähren, die dem alten Insull so wundervoll den breiten Rücken wärmte. Nicht er, Insull hat doch bankerott gemacht.

Er trug nach zwanzig Jahren das erste Mal wieder den Revolver in der Tasche. Der Revolver war mit dem Haus gekauft worden, gegen die Einbrecher. Aber außer einer Wäscheleine hatte man Bill Waters nichts gestohlen, nur die Banken waren geschlossen worden. Und das sind keine Menschen, auf die man schießen kann, das sind Institutionen, unfaßbar wie der Staat selbst, der das Eigentum zu schützen hat.

Das Gesetz kann nur im Interesse des Gesetzes interpretiert werden, dies und nichts anderes versuchte der Chef der Wohlfahrtsstelle Bill Waters klar zu machen. Bill stand vor ihm, vor dem Schreibtisch, ein alter Mann. (Warum sind diese Menschen so schwer von Begriff? Peinlich, wenn sie auch noch alt sind.) „Jawohl, Sie sind nicht allein ein Opfer des Herren der Chicagoer Oper, des Humanisten und großen Philanthropen. Ich selbst habe verloren; wir alle haben verloren. Weshalb haben Sie sich keine sichere Bank ausgesucht?“ Der Chef war ein guter Mann, er brachte schwangeren Schützlingen filtriertes Wasser und bequeme Stühle aus seinem Büro. Er war auch ein gepflegter Mann und ein sehr gebildeter Mensch. Er las Theodore Dreiser und Henri Barbusse.

Um drei Uhr fand eine Versammlung in der Zentralstelle statt. Professor Douglas würde über ein Arbeitslosenversicherungsgesetz referieren, das 1940 in Kraft treten könnte. Frau Bryan würde für die Weihnachtshilfe praktische Vorschläge machen, und der Bürgermeister —; aber Bill Waters wollte nicht gehen. Er wußte auch nichts zu sagen. Er stand im Wege, vollkommen sinnlos. Er hielt den Betrieb auf. So gleichgültig, was er dachte, wer weiß, was er dachte, ob er überhaupt dachte. Aber plötzlich sagte er leise — und seine Hände zitterten dabei —: „Endstation!“ und zog den Revolver aus der Tasche. Der Chef wurde blaß, aber Bill hatte die Farbe des Todes. Der Chef war erregt, aber Bill schüttelte sich wie im Krampf. Er konnte nicht sprechen, er konnte nicht einmal den Revolver gegen den Schreibtisch richten. Er dachte auch nichts, er wartete, daß etwas geschähe, er konnte nichts tun. Der Chef schrie nach Hilfe. Als die ins Zimmer dringenden Arbeitslosen auf Bill einzureden begannen, wurde er noch mehr verwirrt; er begann zu weinen. Dann lief er, den Revolver noch immer in der Hand, auf die Straße. Niemand hinderte ihn. Ein Polizist kam ihm entgegen. Bill sah viele Menschen, und er schämte sich. Leute begannen laut zu rufen, ein paar liefen dem Polizisten nach. Bill betrat ein Zigarrengeschäft, da er nicht wußte, wohin er sich wenden sollte. Durch das Schaufenster sah er die neugierige Menge. Er lehnte sich an die Wand, um sich selbst Halt zu geben, seine Knie begannen einzusacken. Der Polizist schrie ihn an, den Revolver fortzuwerfen, doch Bill rührte sich nicht. Er atmete schwer und umklammerte die Waffe nur fester. Aber da sank er auch schon zusammen. Der Polizist schoß zweimal und traf jedesmal den Kopf. Bill kam ins Schauhaus.

Der Polizist erhielt am Ersten des Monats eine Prämie von 50 Dollars, die von der Chicago Tribune, der größten Zeitung der Welt, monatlich für jeden polizeilichen Akt der Tapferkeit verliehen wurde. Der Untersuchungsrichter stellte als erstes fest, daß Bill Waters Revolver überhaupt nicht geladen war. Bills Frau weinte und wird wahrscheinlich noch oft weinen.

Die Zeitungen berichteten am nächsten Tag, daß der frühere Straßenbahnschaffner Bill Waters bei einem Raubüberfall auf ein Zigarrengeschäft auf frischer Tat ertappt — und erschossen wurde. In der Wohlfahrtsstelle war der Fall Bill Waters für immer erledigt. Sein Leben und Tod ging ein in die Rubrik: „Besserung der Wirtschaft! Rückgang der Arbeitslosigkeit in Zahlen der Wohlfahrtspflege. 5000 Gesuche weniger als im letzten Monat!“

Aber die Zeitungen berichteten auch, daß Griechenland Insull nicht ausliefern werde; es gibt so wenig reiche Männer in Athen. Und Insull ist nicht nur reich, er ist auch ein wirklicher Liebhaber der Kunst.


Zuletzt aktualisiert am 16.1.2009