Paul Mattick


Der Judenmarkt in Chikago

(1932)


Paul Mattick (Pseudonym: Gerhard Tramp): Der Judenmarkt in Chikago, Urania, Jg. 8, 1931/32, Heft 12, S. 353-355.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



Das Chikagoer Ghetto, die Maxwellstreet, ist ein Begriff geworden. Zwirbelt ein Chagallscher Jude seinen dünnen, roten Bart, rauscht ein seidener Kaftan durch die Straßen, so denkt der Chikagoer an die Maxwellstreet. Trägt sein Freund einen Anzug, der ihm nicht paßt, oder einen Hut, der vor fünf Jahren modern war, so weiß er: Aha, aus der Maxwellstreet. Will jemand etwas verkaufen, was er sich zu verschenken schämt, so empfiehlt man ihm die Maxwellstreet. Die Börse des Lumpensammlers, der um fünf Uhr morgens die Abfallkästen durchsucht, das Ramschgeschäft der Konkursmassen, das Paradies der kleinen Hehler- und der Jahrmarkt der Bettler, das ist die Maxwellstreet.

Das Ghetto Chikagos ist mit Negern und Mexikanern durchsetzt. Die Neger sind die Lohnarbeiter der jüdischen Handelsleute, für die die Maxwellstreet nur die erste Etappe auf dem Wege zur hundertprozentigen amerikanischen Bürgerexistenz bedeutet. Ihr Ziel ist die Roosevelt Road und ihr Traum Forest Park. Roosevelt Road, das heißt ein gesichertes Kleinbürgerdasein — Forest Park, das ist jüdischer Adel.

Die Arbeiter des Judenmarktes haben nur eine Sehnsucht: die Sklaverei! So furchtbar ist jetzt ihre Lage: zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.

Der Begriff „Business“ abstrakt ausgedrückt ergibt Maxwellstreet. Ohne das Prinzip „Geschäft ist Geschäft“ wäre diese Straße ein großer Abbruchplatz. Niedrige, zerfallene, schwarze Ziegelhäuser, morsche Baracken und Behausungen, bei denen nicht festgestellt werden kann, wie und womit man sie errichtete, erstrecken sich auf 500 m und sind durch Gassen getrennt, in denen Berge von Abfall die Eintönigkeit der glatten Linien der Mauern unterbrechen. Zwischen diesen Abfallhaufen schlagen ganze Negerfamilien nachts ihr Lager auf. Das Eigentum, das ihnen die Polizei zu schützen hat, besteht aus einer verlausten Matratze, die zusammengerollt am Tage Tisch und Stuhl ersetzen muß.

Diese Ruine einer Straße ist dennoch die lebendigste Straße Chikagos; alles ist in Bewegung. Nicht einmal die Händler stehen ruhig. Fang und Verfolgung des Kunden verlangen die ganze Beweglichkeit der semitischen Rasse. Der Passant muß sich bewegen oder er wird zum Künden. Man zerrt ihn mit Gewalt in den Laden, man zieht ihn aus und an, es gibt keine Rettung: Er muß kaufen.

Für wohlhabende Amerikaner sind offene Straßenmärkte unangenehme Mitbringsel europäischer Einwanderer. Jedoch findet man viele Angehörige außereuropäischer Nationalitäten unter den Stammkunden des Judenmarktes. Man spricht hier alle Sprachen in einer Sprache, einem systemlosen Esperanto, das jedermann sofort begreift. Nur die Neger sprechen ihren reinen Slang.

Geschäft neben Geschäft; Bäckereien neben Fischgeschäften; Früchte und Unterwäsche im gleichen Laden. Vor den Geschäften Marktbuden; vor den Marktbuden aufs Pflaster ausgebreitete Damenstrümpfe, Blecheimer oder andere Waren, und dahinter nochmals Handkarren, Kisten und wieder Marktbuden und Läden. Die Autos und Lastwagen quälen sich langsam mit wunderbarer Geduld durch diese Bretterplantagen, deren Abfall ihnen resolut unter die Räder gefegt wird. Fällt man über eine Bananenschale, so greift man beim Aufstehen in einen Fliegenschwarm auf einem verlorenen Rindsgehirn.

Die Straße wird bruchstückweise neu asphaltiert. Ein paar Buden werden geräumt und die Waren in Kisten verpackt. Die Händler warten, bis der neue Asphalt kalt bespritzt und einigermaßen hart ist, dann ersteht der Stand neu und das Geschäft geht weiter. Nur keine Zeit verlieren! Geschäftszeit ist immer, es gibt weder Polizeistunde noch Feiertag, auch keinen Schabbes. Am Sonntag ist die Straße am dichtesten bevölkert. Nur am Schabbes verliert das Straßenbild einige Vollbärte, aber die jüdische Jugend denkt an die Roosevelt Road und schreit mit heiserer Stimme: „Kommt her, Boys, kalte Limonade, heiße Würstchen!“ Koscher? Wer fragt danach?!

Die Frau, welche die Schuhe nicht kaufte, weil sie zu teuer waren, wird verfolgt, bis die nächste Straßenkreuzung sie für einen Augenblick zum Stillstehen nötigt, und schon hat der Händler sie sicher am Rock, nicht, um ihr den Preis herabzulassen, sondern nur, weil es ihn menschlich interessiert, ob diese Frau genug Verstand besitzt, um einen vorteilhaften Kauf einzusehen. Ob sie es begreift, das ist ihm wichtig, nicht der Verkauf; er verliert ja doch dabei, er ruiniert sich immer weiter, er ruiniert sich bis in die Roosevelt Road, wo der Schabbes noch heilig ist.

Hier ist nichts wertlos. Es gibt nichts, was man nicht kaufen könnte. Vom verbogenen und verrosteten Nagel bis zum Perserteppich, der frei nach Morgensterns Lattenzaun „aus Fransen, ohne was herum“, besteht. Gipsfiguren, ohne Beine, die man den Kopfstand lehren muß, werden jahrelang aus- und eingepackt, steigen und fallen mit den Börsenkursen. Ausgebrannte Glühlampen, zersprungene Nachtgeschirre, Regenschirme ohne Bezug sind hier wieder Ware und bestimmen die Ernährungsbasis vieler Menschen. Sie sind optimistisch, sie glauben selbst nach zehn Stunden ohne Handgeld, daß die elfte das große Geschäft bringen wird. Sie hoffen darauf von Tag zu Tag mit einer Geduld, die im schärfsten Gegensatz zu ihrer körperlichen Beweglichkeit steht. Die fast rührende Liebe zur Sache steckt schon in den sechsjährigen schwarzen Jungen, den „Uebertretern“ des Gesetzes gegen die Kinderarbeit, da sie mitunter zwei Stunden lang die Schuhe eines sich langweilenden. Kavaliers putzen. Ihr Geschäft sieht ja blühend aus, wenn es sie beschäftigt. Das ist selbstlose Reklame. Der Optimismus der Maxwellstreet manifestiert sich in der ruhigen Sachlichkeit, mit der Papa Cohen jedes Problem bewältigt. Kommt ein Kunde und verlangt einen grünen Anzug, den Mister Cohen nicht führt, so ruft er eben seiner Tochter zu: „Mirjam, dreh das grüne Licht an, der Gentleman möchte einen grünen Anzug!“


Zuletzt aktualisiert am 16.1.2009