L. Martoff

 

Der Staatsstreich in Rußland

(1907)


Quelle: Die neue Zeit, 25. Jg. (1906-1907), 2. Bd. (1907), H. 42, S. 516-528.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I.

Gleichzeitig mit der Auflösung der zweiten Reichsduma oktroyierte der Zar ein neues Wahlgesetz. Die politische Bedeutung dieses Aktes ist größer, als es auf den ersten Blick erscheint. Schon vom Rechtsstandpunkt aus betrachtet, handelt es sich hierbei um eine grobe Verletzung jener „Grundgesetze“ vom April 1906, die die konstitutionelle Grundlage der jetzigen Staatsordnung Rußlands bilden. Diese besagen:

§ 86. Kein neues Gesetz soll ohne Zustimmung der Reichsduma erlassen werden, noch ohne Bestätigung des Kaisers in Kraft treten.

§ 87. Sollten während einer Unterbrechung der Tätigkeit der Reichsduma außerordentliche Umstände irgend eine Maßnahme nötig machen, die nur auf gesetzgeberischem Wege erfolgen kann, so berichtet der Ministerrat darüber direkt Seiner Majestät dem Kaiser. Jedoch darf eine auf diesem Wege zustande gekommene Verordnung weder die Grundgesetze noch die Bestimmungen über den Reichsrat und die Reichsduma, noch auch das Wahlrecht zu letzteren Institutionen abändern.

Das Wortlaut ist vollkommen klar und frei von jeder Zweideutigkeit. Das zarische Manifest über die Abänderung des Wahlgesetzes versucht auch gar nicht sich auf einen Rechtsboden zu stellen. Der Zar gibt; offen zu, daß er das Grundgesetz übertreten will, und beruft sich dafür auf seine Verantwortlichkeit vor Gott.

„Nur der Macht“ – heißt es im Manifest –, „welche das erste Wahlgesetz geschenkt hat, der historischen Macht des russischen Zaren steht das Recht zu, dieses selbe Gesetz abzuändern und durch ein neues zu ersetzen“

Der Zar beruft sich also auf sein historisches Recht, das von Gottes Guaden abgeleitet wird. Dieses historische Recht schließt aber eine konstitutionelle Staatsordnung aus. Indessen war die russische Regierung bis jetzt gezwungen, den Schein einer Konstitution zu wahren, und fühlt sich auch jetzt nicht stark genug, die Rückkehr zum Absolutismus offen zu zu proklamieren. Darum fühtt der Zar den Gedanken der absoluten Schrankenlosigkeit seiner Macht nicht bis zu Ende, sondern beruft sich in seinem Manifest noch auf etwas anderes – auf die staatliche Notwendigkeit. Aber das Prinzip der staatlichen Notwendigkeit ist ein wesentlich revolutionäres Prinzip, besonders gefährlich in Zeiten, wenn ein Volk mit allen historischen Verhältnissen bricht. Das hat unser Freund Zeretelli in einer der ersten Sitzungen der eben aufgelösten Reichsduma der Regierung scharf und deutlich auseinandergesetzt. Damals – es war bei der Beratung der Vorlage über Abschaffung der Kriegsfeldgerichte – gab der von der Opposition an die Wand gedrückte Premierminister zu, daß die Einsetzung dieser Feldgerichte vom rechtlichen Standpunkt aus nicht verteidigt, geschweige denn gerechtfertigt werden könne.

„Aber“ – so fügte er hinzu – „es gibt Momente, wo alle rechtlichen Erwägungen und Bedenken den Forderungen der staatlichen Notwendigkeit weichen müssen; und diese Notwendigkeit, die Notwendigkeit, um jeden Preis die Anarchie niederzuwerfen, gebot der Staatsgewalt, zu so grausamen Mitteln zu greifen, wie es die Feldkriegsgerichte sind.“

Macht geht vor Recht! Diese Worte berührten die Dumamajorität peinlich, welche naiv an die Realität einer russischen Konstitution geglaubt hatte, Da, unter den verblüfften und verwirrten Zurufen der Kadetten und Mitgliedern der Arbeitsgruppe, erscholl die mannhafte Rede Zeretellis, der den hingeworfenen Fehdehandschuh aufhob und die wahre Sachlage klarstellte. Er lobte die Regierung, da sie durch ihre Erklärung offen zugestand, daß es sich zwischen Duma und Krone nicht um Paragraphen eines geschriebenen Gesetzes handle, sondern tun einen Kampf um die Obergewalt im Lande. Und da er den Schleier zerriß, mit dem Stolypin den Begriff der „staatlichen Notwendigkeit“ umhüllte, legte der Führer der russischen Arbeiterpartei die materiellen Interessen bloß, deren Verteidigung die Regierung in einen Konflikt mit der Mehrheit der Nation getrieben und an die Gewalt zu appellieren gezwungen hatte.

„Zwei Staaten liegen im Kampfe miteinander“, führte Zeretelli aus, „der alte Staat, der sich auf hunderttausend grundbesitzende Edelleute stützt, und ein neuer Staat, der die Interessen einer sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft vertritt und sich auf die mittlere Bourgeoisie, das Kleinbürgertum, die Bauernschaft und das Proletariat stützt. Der Kampf zwischen diesen beiden Staaten kann nicht auf dem Boden des Rechtes entschieden, sondern kann nur mit Gewalt ausgefochten werden. Die Gewalt ist gegenwärtig noch auf seiten des Rußlands der Großgrundbesitzer. Aber sie entgleitet seinen Händen mehr und mehr, und der Augenblick ist nahe, wo im Namen des neuen Staats das Gebäude der alten Ordnung dem Erdboden gleichgemacht und auf seinen Trümmern ein neues Recht geschaffen werden wird.“

Dasselbe Motiv kehrte kurz vor der Auflösung der Duma in den Schlußdebatten über die Agrarfrage wieder. Stolypin erklärte in seiner Rede ganz offen, daß er die Interessen der 180.000 Großgrundbesitzer wahren und jede Zwangsentäußerung grundherrlicher Ländereien entschieden zurückweisen werde, auch eine Zwangsentäußerung gegen Bezahlung. Da führte derselbe Zeretelli in einer schönen Rede, der sogar gemäßigte Kadetten applaudierten, wiederum aus, daß der Konflikt zwischen der Regierung und der Reichsduma unabwendbar sei, weil er den durch keine Verträge und Kompromisse zu schlichtenden Kampf zwischen der reaktionären Klaffe der privilegierten Großgrundbesitzer und einer ganzen Reihe von Klassen des neuen Rußlands bedeute. Diese aufstrebenden Klassen seien, trotz der Verschiedenheit ihrer einzelnen Interessen, alle gezwungen, eine radikale Umformung der jetzigen sozialen Verhältnisse zu erstreben, welche durch und durch vom Feudalismus durchsetzt sind.

Im Manifest vom 8. Juni proklamiert Nikolaus II. die staatliche Notwendigkeit, dafür zu sorgen, daß in Zukunft die Zusammensetzung der Duma eine derartige sein soll, daß die Regierung keine Opposition von der letzten Seite zu fürchten braucht. Zu diesem Zwecke wurde das Wahlgesetz abgeändert. Die Reichsduma, sagt Zar Nikolaus, muß rein russisch sein. Aber damit deutet er nur einen geringen Teil der Zwecke an, die der in Rußland ausgeführte Staatsstreich verfolgt. Allerdings wird durch das neue Wahlgesetz die Vertretung der Grenzmarken mit nichtrussischer Bevölkerung in zynischer Weise beschränkt. Folgende Aufstellung zeigt, wie diese Marken bisher vertreten waren und wie sie nach dem neuen Wahlgesetz vertreten sein werden:

 

    

Nach dem
bisherigen Wahlgesetz

    

Nach dem Gesetz
vom 3. Juni

 

Polen

  36 Abgeordnete

12 Abgeordnete

[1]

Der Kaukasus

  29 Abgeordnete

  9 Abgeordnete

[2]

Sibirien

  21 Abgeordnete

14 Abgeordnete

 

Mittelasien

  23 Abgeordnete

  1 Abgeordnete

Zusammen

109 Abgeordnete

36 Abgeordnete

Aber nicht darin liegt die wesentliche Bedeutung der durch den Streich vom 3. Juni durchgeführten Neuerung, obgleich schon dadurch allein 70 oppositionelle Mitglieder von der Duma ausgeschlossen werden. In der zweiten Duma war nämlich von diesen 109 Vertretern der Grenzmarken kein einziger, der zu den Regierungsparteien gehört hätte.

Der Wortlaut des Gesetzes zeigt deutlich, daß nicht die Nationalität, sondern die Standes- und Klassenzugehörigkeit der Abgeordneten die Regierung beunruhigt. Das Manifest schweigt sich darüber aus, aber um so lauter und deutlicher reden die Paragraphen des neuen Wahlgesetz.

Mit Ausnahme der fünf großen Städte, welche zusammen 16 von den 442 Abgeordneten, die die neue Duma bilden sollen, zu wählen haben, bleiben die Wahlen wie bisher vielstufig. Die Wähler werden nach Stand- und Klassenzugehörigkeit in Kurien eingeteilt, welche ihre Wahlmänner zu wählen haben. Die Zahl der Wahlmänner, die die verschiedenen Kurien zu wählen berechtigt sind, wird nun durch das neue Wahlgesetz in radikaler Weise abgeändert. In 58 Gouvernements des europäischen Russlands (mit Ausnahme Polens und des Kaukasus) wählen von jedem hundert Wahlmänner:

 

Nach dem Gesetz vom

11. Dez. 1905

 

3. Juni 1907

Bauern

42

)
)
)
)
)

68

22

)
)
)
)
)

36

Arbeiter

  4

  2

Städtische Einwohner (welche eine
Wohnungsabgabe zahlen) und Beamte

25

12

Grundbesitzer

32

 

50

)
)
)

64

Große städtische Eigentümer

14

 

100

100

 

Die Kurie der „großen städtischen Besitzer“ ist eine neue Erfindung des Gesetzes vom 3. Juni 1907. Bis jetzt wählten diese Besitzer zusammen mit der städtischen demokratisch gesinnten Bevölkerung, in deren Überzahl sie verschwanden.

Das bisherige Wahlgesetz verteilte also das Wahlrecht zwischen den unbemittelten und wohlhabenden Klassen im Verhältnis von 68 : 32. Das neue Gesetz verteilt es im Verhältnis von 36 : 64. Die wohlhabenden und reichen Klassen, welche bisher ungefähr ein Drittel der Gesamtzahl der Wahlmänner zu stellen hatten, erhalten jetzt das Recht, zwei Drittel aller Wahlmänner zu bestimmen. Dabei wird die Hälfte aller Wahlmänner von Großgrundbesitzern gewählt. Deutlicher als es Worte und Erörterungen vermöchten, kennzeichnen diese Zahlen das Gesetz vom 3. Juni als einen konterrevolutionären Staatsstreich der 130.000 Großgrundbesitzer, deren Interessen zu wahren Herr Stolypin sich rühmt.

In 28 Gouvernements von den 51 des europäischen Rußlaud (außer denen des Königreichs Polen und des Kaukasus) bilden die Wahlmänner der Großgrundbesitzer allein die absolute Majorität aller Wahlmänner des ganzen Gouvernement. In den übrigen 23 Gouvernements haben sie die absolute Majorität, wenn sie zusammengehen mit den Wahlmännern der „großen städtische Besitzer“.

Von den übrigen Neuerungen des Gesetzes vom 3. Juni hat nur die Bestimmung eine durchgreifende Bedeutung, welche den Wahlmännern der Bauern das Recht nimmt, in jedem Gouvernement einen Bauernvertreter noch besonders in die Duma zu wählen. Durch diese Neuerung werden 51 Bauernabgeordnete aus der Duma entfernt. Diese Bauernabgeordneten aber gehörten – bis auf zwei oder drei Mann – in der zweiten Duma zur Opposition, und zwar mehr als die Hälfte zur sozialistisch.revolutionären Partei, zu der Arbeitsgruppe, den „Volkssozialisten“ und Sozialdemokraten. Zusammen mit den 70 Abgeordneten der Grenzmarken, welche infolge des neuen Wahlgesetzes aus der Duma verschwinden, sind es also 120 unangenehme Abgeordnete, welche die Regierung auf diese Weise los wird.

In den fünf großen Städten, welche ein besonderes direktes Wahlrecht erhalten haben, sollen 16 Abgeordnete gewählt werden, und zwar 8 von der städtischen demokratisch gesinnten Bevölkerung und 8 von den „großen städtischen Besitzern.“

Ohne auf die weiteren ebenso reaktionären Kniffe dieses famosen Gesetzes einzugehen, können wir schon aus dem Mitgeteilten schließen, daß das Gesetz alles getan hat, um die Möglichkeit einer oppositionellen Majorität in der nächsten Duma auszuschließen. In der Tat ist unter dem neuen Wahlgesetz schwerlich zu erwarten, daß die Opposition von den Kadetten und polnischen Klerikalen bis hinauf zu den Sozialdemokraten mehr als ein Viertel bis ein Drittel des Bestandes der neuen Duma bilden könnte.
 

II.

Dennoch ist es fraglich, ob der Zarismus durch diesen Streich die „Beruhigung“ erlangen wird, die er so sehnlichst anstrebt und die für Rußland die Ruhe des Grabes bedeuten würde.

Zu allererst müssen in der dritten Duma selbst, falls das Wahlgesetz vom 3. Juni alle Hoffnungen der Regierung erfüllt, tiefe und scharfe soziale Gegensätze hervortreten, welche bis jetzt im Lager der Ordnungsparteien noch verborgen sind. Die adelige Clique, welche sich auf den „Verband des echtrussischen Volkes“ und das Schwarze Hundert stützt, kann nicht lange im Einvernehmen leben mit den mehr bourgeoisen Kreisen „des Verbandes des 17. Oktobers“, dem sich die städtische Großbourgeoisie anschließt, die nach dem neuen Wahlgesetz einen bedeutenden Einfluß in der Duma erlangt. Bisher wirkten diese sozialen Kräfte gemeinsam, indem sie sich von entgegengesetzten Seiten der Bureaukratie anschlossen und gemeinsam gegen die proletarische, bäuerliche und kleinbäuerliche Bevölkerung kämpften. Aber sowohl ihre politischen Anschauungen, als auch ihre materiellen Interessen sind weit davon entfernt, identisch zu sein. Das russische Junkertum, welches im buchstäblichen Sinne des Wortes parasitisch lebt, kann nicht umhin, die formale Wiederherstellung des es Absolutismus anzustreben. Denn ihren eigenen Druck auf den Regierungsmechanismus könnnen die Junker erfolgreicher ausüben, indem sie sich ihrer engen und direkten Beziehungen zur Bureaukratie bedienen, die ja aus ihren Reihen stammt, als auf dem europäischen Umwege eines Parlamentarismus, wenn auch eines oligarchischen. Alles, was die Staatsordnung Rußlands reformieren und seine wirtschaftlichen Kräfte aus der Sackgasse herausführen könnte, in die sie der Absolutismus hineingeführt hat – eine Kontrolle der Verwaltung und der Staatsfinanzen, ein unabhängiges Gericht, Unantastbarkeit der Gesetze, rechtliche Gleichheit aller Staatsbürger, allgemeine Volksbildung – alles das widerspricht auf das entschiedenste den Bestrebungen der 130.000 Privilegierten. Alles das ist aber der städtischen Bourgeoisie unentbehrlich, und ihre Vertreter in der Reichsduma werden nicht umhin können, für eine ganze Reihe ähnlicher Reformen einzutreten. Solange die Großbourgeoisie in der ersten und zweiten Duma sich schwach fühlte und von der revolutionären Bewegung der Volksmassen bedrängt wurde, schloß sie sich natürlich dem Absolutismus und dem Adel an, um sich deren Hilfe bei der Unterdrückung des Proletariats zu sichern. Die Erfüllung ihrer eigenen Wünsche verschob sie bis zu dem Augenblick, wo die Demokratie aller politischen Rechte beraubt sein würde. Jetzt ist der Augenblick gekommen, und man muß kein Prophet sein, um voraussagen zu können, daß schon bei den neuen Wahlen in den ersten zwei Kurien die von ihren demokratischen Konkurrenten befreiten Oktoberleute als schroffe Gegner desselben Verbandes des russischen Volkes auftreten werden, den der Zar in seinem letzten Telegramm als einzige Stütze der Regierung bezeichnete.

Allerdings folgt daraus noch nicht, daß Mitglieder des Oktoberverbandes in der dritten Reichsduma als konsequente Liberale auftreten werden. Sie werden aber gezwungen sein, gegen die Regierung in Opposition zu treten, und ein Konflikt zwischen ihnen und der Regierung wird das Land um so mehr revolutionieren, je konservativer die oppositionelle Klasse ihrer sozialen Natur nach ist.

Diese Konflikte sind um so unausbleiblicher, da das reaktionäre Junkertum, unter dessen Druck der Staatsstreich vom 3. Juni ausgeführt wurde, einen unmittelbaren Einfluß auf die Politik der Regierung erlangen und letztere dazu drängen wird, offen den Absolutismus wiederherzustellen und die Privilegien des Adels zu befestigen. Indem die Regierung den Rubikon der formalen Verletzung der Grundgesetze überschritt, geriet sie in die Gefangenschaft des Verbandes des russischen Volkes, dessen Programm sie durch das Gesetz vom 3. Juni erfüllte. Das berühmte Telegramm, welches der Zar als Antwort an den Vorsitzenden dieses Verbandes abschickte, der ihm zum Verbrechen des 3. Juni gratuliert hatte, erhebt diese Organisation zum einzigen zuverlässigen Stütze des Thrones. Die reaktionäre Clique tut schon jetzt allgemein kund und zu wissen, daß es not tue, nicht beim Streiche vom 3. Juni stehen zu bleiben. Sie verlangt die Demission des Kabinetts Stolypin, da es nicht reaktionär genug sei. Sie verlangt eine weitere Verkrüppelung des Wahlrechtes der demokratischen Mehrheit der Staatsbürger und bezeichnet bereits den „Verband des 17. Oktobers“ als eine ordnungsfeindliche Organisation.

Das Balancieren zwischen einem ultrareaktionären Adel und der gemäßigt-konservativen Bourgeoisie kann der Regierung nicht für die Dauer gelingen, wenn diese beiden Mächte das Schicksal der dritten Duma lenken.

Wenn aber der Staatsstreich vom 3. Juni einerseits die Krone vor neuen Konflikten mit der Volksvertretung nicht schützt, so wird er andererseits nicht verfehlen, einen sehr revolutionierenden Eindruck auf das Land zu machen. Die Monarchie hat offen ihr Schicksal an dasjenige eines reaktionären grundbesitzenden Adels geknüpft, indem sie ihm bei den Wahlen ein sicheres Übergewicht über seinen Erzfeind, die Bauernschaft gibt. Dadurch hat die Monarchie selbst dazu beigetragen, daß die agrarrevolutionäre Bewegung, welche kolossale Massen umfaßt, in eine bewußt politische Bewegung umschlägt, die gegen den herrschenden Stand und zugleich gegen die Krone gerichtet ist. Infolge des niedrigen Niveaus der kulturellen Entwicklung der russischen Bauernschaft und infolge der eigentümlichen Bedingungen, unter denen sich eine Bewegung zerr streut lebender ländlicher Volksmassen entwickelt, ging dieser Prozeß bisher äußerst langsam vor sich. Jetzt wird das Tempo seiner Entwicklung bedeutend beschleunigt. Während der Wahlen zur dritten Reichsduma, im September dieses Jahres, werden die Bauern von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten ihren Erzfeinden, denen die Regierung nicht nur eine Majorität in den Wählerversammlung sichergestellt, sondern auch das Recht gegeben hat, nach eigenem Gutdünken in jedem Gouvernement einen Bauerndelegierten einzusetzen, das heißt zu bestimmen, welcher von den bäuerlichen Wahlmännern ihnen für den Posten eines Dumaabgeordneten geeignet dünkt.

Schon in den letzten Tagen vor der Auflösung der zweiten Duma berichtete die Petersburger Presse über neue Anzeichen wieder aufflackernder Agrarunruhen. Diese Unruhen äußern sich nach dem Beispiel früherer Jahre in der Niederbrennung grundherrlicher Gebäude. Nach Mitteilungen der Presse werden in eiuer ganzen Reihe von Gouvernements die Gutshöfe gerade solcher Edelleute eingeäschert, die zur reaktionären Partei der Reichsduma oder des Reichsrates gehören. Etwas Besseres und für die Revolution Zuträglicheres konnte der Zar im jetzigen Moment nicht ausdenken, als die ie Aufmerksamkeit der zu Agrarunruhen bereiten Bauernschaft auf die politische Organisation ihrer Standesfeinde zu lenken. Bis jetzt stieß die russische Revolution in ihrer Entwicklung auf den anarchistischen „Apolitizismus“, die Politikfeindlichkeit der Bauernbewegung, als auf ein Haupthindernis. In dem Maße, wie im Bewußtsein der bäuerlichen Massen die Staatsgewalt als das offizielle Organ des grundherrlichen Landbesitzes erscheint, in demselben Maße wird ihre Fähigkeit zum dauernden und systematischen Kampf gegen diese Gewalt wachsen. Wird aber die Bauernschaft politischrevolutionär, dann wird es auch die aus Bauernsöhnen bestehende Armee.

Einen nicht geringeren Eindruck wird der Streich vom 3. Juni auf die Stadtbevölkerung machen. Von zwei entgegengesetzten Seiten wurde hierüber die gleiche Meinung geäußert. „Es oft vorbei mit allen konstitutionellen Illusionen!“ triumphierten die Moskowskija Vedemosti, das Organ der äußerften Rechten, indem sie betonten, daß der Streich vom 3. Juni die „Unerschütterbarkeit“ des Absolutismus bewiesen habe. Die kadettische Retsch schreibt schon am 5. Juni kleinlaut und zerschmettert, daß der Staatsstreich des 3. Juni im Volke „die konstitutionellen Illusionen“ töte, das heißt den Boden zerstöre, auf dem der russische Liberalismus seine weise Taktik aufgebaut hatte. Im Munde der Kadetten bedeutet diese Klage, daß die Volksmassen, welche bisher ihnen folgten, jetzt aufgehört haben, an den Konstitutionalismus eines Stolypin zu glauben und sich der Revolution anschließen werden, Diese Erkenntnis ruft eine große Niedergeschlagenheit im Lager der konstitutionellen Demokraten hervor. Auf der einen Seite suchen sie engeren Anschluß an die Partei der „friedlichen Erneuerung“ und an den weniger reaktionären Teil der Oktobristen, um mit diesen ein „konstitutionelles Zentrum“ zu schaffen, welches den Kampf nach zwei Fronten – gegen die Reaktion und gegen die Revolution – führen könnte. Auf der anderen Seite erklärt ihr Chef, Herr Miljukow, der vor drei Monaten das fliegende Wort von dem „roten Lappen“ des sozialistischen Proletariats prägte, einem Korrespondenten der Russ, daß die Kadetten von neuem den Spruch: „Wir haben keine Feinde auf der Linken“ zu ihrem Leitmotiv machen müssen. Allerdings haben die Kadetten als Partei keinen anderen Ausweg. Sie können sich der großbourgeoisen Scheinopposition anschließen, ihren Demokratismus liquidieren, ihr politisches und agrarisches Programm über Bord werfen und die Rolle des linken Flügels der „Volksvertretung“ übernehmen, welche das Gesetz vom 3. Juni durch die zwei Besitzerkurien geschaffen hat. Das bedeutet aber den übertritt der städtischen Wählermassen und eines Teiles der Bauernschaft (im Nordrayon), der bis jetzt der kadettischen Fahne durch dick und dünn gefolgt war, zu den revolutionären Parteien. Oder aber sie müssen zusammen mit den Massen ihrer bisherigen Gefolgschaft nach links abschwenken, den Kampf gegen die Oligarchie in Stadt und Land aufnehmen und die Rolle eines Vermittlers zwischen Krone und Volk aufgeben, eine Rolle, die sehr oft darin besteht, sich zum Werkzeug des Zarismus gegen die Revolution herzugeben.

Und wiederum war die Regierung, welche dafür sorgte, daß die Kadettenpartei sich über dieses Dilemma klar werden mußte. Indem das neue Wahlgesetz für die Urwahlen eine besondere Kurie großkapitalistischer städtischer Besitzer schuf, stellte es letztere der übrigen Stadtbevölkerung schroff gegenüber. Die wenig zahlreiche Kurie der privilegierten Kapitalmagnaten hat das Recht, anderthalbmal so viel Wahlmänner zu wählen als die gesamte übrige Stadtbevölkerung. Bisher waren die Kadetten bei den städtischen Dumawahlen Herren der Situation. Für sie stimmten alle aufgeklärteren Elemente des mittleren Bürgertums und der weniger radikale Teil der kleinbürgerlichen Demokratie. Indem das neue Wahlgesetz die städtischen Wähler in zwei Kurien einteilte, verurteilt es die Kadetten zur Machtlosigkeit in beiden Kurien. In der privilegierten Besitzerkurie bilden sie in den meisten Städten eine verschwindend Minderheit; in der zweiten Kurie werden sie verhältnismäßig dadurch geschwächt, daß ein Teil ihrer Anhänger abgetrennt und in der ersten Besitzerkurie ertränkt wird, während die Parteien der „äußersten Linken“ ziemlich ungeschwächt bleiben. Und diese „äußersten Linken“ waren schon bei den letzten Wahlen gefährliche Gegner der Kadetten. In 38 größeren Städten stimmten für die Kadetten 138.000, für die „äußerste Linke“ 75.000, für die Rechte und den Oktoberverband 95.000.

Man darf wohl kaum daran zweifeln, daß die dreimonatige Tätigkeit in der Reichsduma, während der die Kadettenpartei so oft eine unverzeihliche Schwäche gegenüber der Reaktion an den Tag legte, einen Teil ihrer Wähler bereits in die Arme der revolutionären Parteien getrieben hat. Jetzt wird derjenige Teil ihrer Wählerschaft der am treuesten zu ihrer Fahne hielt, in der ersten Kurie stimmen. Um die Stimmen ihrer übrigen Wähler nicht zu verlieren, werden die Kadetten sich verpflichten müssen, eine ganz andere Politik zu treiben – oder wenigstens den Wählern zu versprechen – als die, mit welcher sie sich in der zweite Reichsduma blamierten.

Unter diesen Verhältnissen muß die Kadettenpartei entweder sich auflösen, sich in eine bürgerlich-liberale und eine kleinbürgerlich-radikale Hälfte spalten, oder sie muß ungeteilt auf die eine oder andere Seite einschwenken. Ein Balancieren, wie es ihr bisher beliebte, wird nicht mehr möglich sein.

Welchen Einfluß wird der Staatsstreich auf die unterdrückten Grenzmarken haben? Um darauf eine Antwort zu finden, braucht man sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen. Man braucht nur darauf hinzuweisen, daß der Kompromißpolitik, die das reaktionäre polnische Kolo in der zweiten Reichsduma trieb, dadurch einen schweren Stoß erhielt, daß Polen nach de neuen Wahlgesetz nicht weniger als zwei Drittel seiner Vertretung einbüßt. Im Kaukasus und in Zentralasien wird der Wahlrechtsraub neuen revolutionären Zündstoff liefern und zwanzig Millionen Muselmänner auf die Beine bringen, welche noch vor kurzem treu zum Absolutismus hielten, bei den beiden ersten Wahlen hauptsächlich Kadetten in die Duma entsandten und jetzt ein Verständigung mit georgischen und armenischen revolutionären Parteien suchen werden. Das industrielle Proletariat wird durch das neue Wahlgesetz verhaltnismäßig wenig getroffen.

Zieht man die Wichtigkeit des bisherigen Wahlrechtes des Proletariats in Betracht, so hat die Herabsetzung, dieses Rechtes von 4 auf 2 Prozent der Gesamtzahl der Wähler kaum etwas zu bedeuten. Wo nichts ist, kann auch der Zar nichts nehmen. Aber indirekt ist einer der Hauptzwecke der Wahlrechtsänderung die Schwächung der revolutionären Sozialdemokratie, die sich auf das Proletariat stützt. Denn Sozialdemokraten konnten nur dadurch in die zweite Duma gelangen, daß sich den proletarischen Wahlmännern ein Teil der Wahlmänner des städtischen Kleinbürgertums und der Bauernschaft anschloß. Das neue Wahlgesetz ist bemüht, eine derartige Koalition unmöglich zu machen. Auch das Wahlrecht der Grenzmarken wird hauptsächlich zu dem Zwecke aufgehoben oder bis zur Lächerlichkeit beschnitten, um dem Eindringen von Sozialdemokraten in die künftige Duma vorzubeugen. Der Kaukasus, welcher nach dem neuen Wahlgesetz 20 von seinen bisherigen 29 Vertretern einbüßen soll, entsandte in die zweite Duma 10 Sozialdemokraten. Mittelasien, welches anstatt der bisherigen 23 Abgeordneten nur einen einzigen erhalten soll, wurde in der zweiten Duma von 7 Sozialdemokraten vertreten. Sibirien, dessen Vertretung um ein Drittel ihrer bisherigen Zahl gekürzt werden soll (14 statt 21), entsandte in die zweite Duma 2 Sozialdemokraten und sollte 2 weitere entsenden. (In Sibirien waren die Wahlen zur zweiten Reichsduma bis zum Tage ihrer Auflösung noch nicht ganz beendet.) Ferner ist die Vertretung der vier Uralgouvernemeuts von 43 auf 31 gekürzt, da auch von dort 7 sozialdemokratische Abgeordnete in die zweite Reichsduma gewählt waren. Nur in Polen wollte die Regierung einen anderen politischen Gegner – die Nationalisten – treffen.

Eine Duma, welche sich auf demokratische Wählermassen stützt und in ihrer Majorität oppositionell ist, ist mit den Interessen der heutigen russischen Monarchie überhaupt unvereinbar. Aber ihr Fortbestehen wurde für die Reaktion nur deshalb und nur insofern „staatsgefährlich“, als in ihr eine starke sozialdemokratische Partei vorhanden war, die in enger Fühlung stand mit dem Proletariat, das heißt mit derjenigen Klasse, welche immer und überall der unversöhnliche Feind der alten Ordnung ist. Nur die schonungslose sozialistische Kritik konnte die Dumamajorität von dem Wege des würdelosen Zurückweichens abhalten, auf den die Kadettenführer sie drängten. Ihre Aufgabe suchte die sozialdemokratische Dumafraktion zu erfüllen, indem sie teils auf die linken Bauerngruppen einwirkte, welche stets zwischen Liberalismus und Revolution hin- und herpendeln, und teilweise dadurch, daß sie unmittelbar die Kadetten zu einer entschiedenen Opposition drängten. Nicht umsonst sagt der bekannte Professoe Fürst Trubetzkoi, indem er die aufgelöste Duma verteidigt, daß die Kadetten eben deshalb die Forderung Stolypins, ihm die sozialdemokratische Fraktion auszuliefern, zurückweisen mußten, weil die Entfernung dieser Fraktion aus der Duma für die Kadetten höchst erwünscht gewesen wäre, da gerade die letzteren von der Sozialdemokratie am meisten zu leiden hatten. Deshalb hätte man ihre Nachgiebigkeit dem Ultimatum Stolypins gegenüber als Produkt einer schmutzigen Parteigehässigkeit angesehen. Derselbe Fürst Trubetzkoi erklärt, daß wenn die zweite Duma sich geweigert habe, den revolutionären Terror zu verurteilen, es nicht deshalb geschah, weil die Kadetten dem Stolypin nicht eine neue Waffe gegen die Revolution geben wollten, sondern weil eine Majorität in der Duma für dieses Votum nicht zu haben gewesen sei. Und eine Majorität war nur deshalb dieses Votum nicht zu haben, weil die Sozialdemokraten auf das entschiedenste und mit Erfolg dagegen auftraten. Die sozialdemokratische Fraktion der zweiten Duma hat gezeigt, daß eine revolutionäre Partei sogar unter der Herrschaft eines Pseudokonstitutionalismus teilweise ihren Kampf mit sogenanuten loyalen Mitteln führen kann ohne sich selbst untreu zu werden. Im ganzen Lande verfolgt, der Möglichkeit beraubt, ihre Versammlungen abzuhalten und ihre Zeitungen herauszugeben, verstand es die sozialdemokratische Partei, durch Vermittlung ihrer Dumafraktion, die Volksmassen mit ihren Anschauungen bekannt zu machen, die Verbrechen der Regierung zu enthüllen, die konservativen Parteien bloßzustellen, den Opportunismus der Kadetten zu dämpfen und das Volk zum Vorwärtsschreiten aufzufordern bis zur Erkämpfung eines wirklichen und nicht bloß eines Scheinkonstitutionalismus. Die Kadetten und Oktobristen insinuierten, daß die sozialdemokratische Taktik zu akuten Konfliktem mit der Regierung führe. In Wahrheit waren sich die Sozialdemokraten stets der Bedeutung bewußt, welche sogar eine so unvollkomme Vertretung, wie die Duma war, fur das Volk hat. Sie unternahmen keinen einzigen abenteuerlichen Schritt, versuchten niemals, die Duma zu einem unbesonnenen, im gegebenen Augenblick nicht gebotenen Vorgehen zu bewegen, oder unnötigerweise gegen das Grundgesetz zu verstoßen. Sie bekämpften die Kadetten im Namen der bestehenden Gesetze, welche voll auszunutzen jene nicht den Mut hatten. Sie wiesen beständig darauf hin, daß nur durch die volle Ausnutzung aller Rechte, welche der Duma vom Grundgesetze zugestanden werden, die bisher noch trägen Volksmassen in den unausbleiblichen Kampf zwischen Volksvertretung und Regierung hineingezogen werden können.

Denselben Charakter trug die Tätigkeit der sozialdemokratischen Fraktion außerhalb der Reichsduma. Die ausposaunte Verschwörung zur „Vorbereitung eitles bewaffneten Aufstandes“ ist, wie selbst kadettische und zum polnischen Solo gehörende Juristen anerkannt haben, eine plumpe Mache der Stieber der Petersburger politischen Polizei. Die sozialdemokratische Fraktion hat sich an die Bevölkerung mit keinem Aufruf gewendet, der vom Standpunkt der zarischen Gesetze als „aufrührerisch“ ausgelegt werden könnte. Aber sie hat einen Rechenschaftsbericht über ihre Tätigkeit an die Wählermassen versandt. In diesem Bericht erklärt und rechtfertigt die Fraktion ihre Taktik und entlarvt die reaktionären Pläne der Regierung. Sie gründete keine Verschwörergesellschaften, sondern unterhielt enge und rege Verbindungen mit ihren gesetzlichen Wählern in Stadt und Land. Sie hat endlich auch nicht in der Armee gewühlt, sondern hat von Soldaten eine Petition in Empfang genommen, in der die Forderungen der letzter auseinandergesetzt werden. Derartige Petitionen entgegenzunehmen und über die inneren Zustände in den Kasernen die Regierung zu interpellieren, ist aber das gute Recht eines jeden Volksvertretern

„Die Gesetzlichkeit tötet uns!“ mußte auch die zarische Regierung bekennen angesichts dieser stillen gesetzmäßigen Tätigkeit. Man kann sich ein machtloses Parlament gefallen lassen, wenn man dabei die volle unbeschränkte Machtvollkommenheit behält, aber es ist unmöglich, zu gestatten, daß der Parlamentarismus sich mit seiner gefährlichsten Seite einbürgert – daß politische Parteien im ganzen Lande ihre Anhänger organisieren, indem sie ihre zersplitterten und zerstreuten Kräfte um ihre Parlamentsvertretung sammeln.

Und als Herr Stolypin sich entschloß, den gordischen Knoten durch einen Streich zu durchhauen und an die Duma mit der Forderung herantrat, die ganze sozialdemokratische Fraktion auszuschließen, bekam er trotz seiner Bemühung, ein ernstes Gesicht zu machen und die Gefährlichkeit der entdeckten Verschwörung zu schildern, endlich doch seine ganze Anklage auf den Satz aufzubauen: die sozialdemokratische Fraktion ist das Organ der sozialdemokratischen Partei, welche es sich zur Aufgabe stellt, den Absolutismus zu stürzen, die sozialdemokratische Fraktion handelt ihn Auftrag dieser ungesetzlichen Partei und unterhält zu ihr ständige Beziehungen.

Aber zwei Drittel sämtlicher Dumaabgeordneten gehörten zu ungesetzlichen, das heißt von der Regierung nicht genehmigten Parteien und unterhielten zu denselben ständige Beziehungen! Alles in allem lief also die gegen die Sozialdemokraten erhobene Anschuldigung einfach darauf hinaus, daß sie – Sozialdemokraten sind. Das bedeutet aber, daß die Regierung auf ihrem Wege der vollständigen Wiederherstellung des Absolutismus auf ein Haupthindernis stößt – auf das politisch organisierte Proletariat. Der Absolutismus machte nun unserer liberalen Bourgeois den Antrag, ihm bei der Niederwerfung der proletarischen Organisation behilflich zu sein. Die liberalen Kadetten waren zu feige, um diese Zumutung gebührend zurückzuweisen, aber sie konnten um diesen Preis ihr Weiterbestehen nicht erkaufen, denn sie wissen sehr wohl, daß die Zukunft der russischen Freiheit eng mit dem Proletariat verknüpft ist.

Der Staatsstreich des 3. Juni verfolgt den Zweck, das Proletariat Rußlands in den engen Rahmen einer unterirdischen Organisation einzuschließen. Das ist aber nicht so leicht. Es dürfte der Regierung kaum gelingen, zu verhindern, daß auch auf den Bänken der dritten Duma, Leute erscheinen, die die Arbeit fortsetzen, die Zeretelli und seine Genossen, die jetzt in Petersburger Gefängnissen schmachten, so mannhaft besorgt haben. Andererseits eröffnet der Junistreich für das russische Proletariat eine neue Ära des Kampfes unter günstigeren Bedingungen als diejenigen waren, unter denen es seit den Oktobertagen des Jahres 1905 zu kämpfen hatte.

Die grandiose Oktoberbewegung des Jahres 1905 war eine Bewegung des Proletariats, dem sich um diese Zeit die ganze kampffähige kleine und mittlere Bourgeoisie anschloß, während die Klasse der Kapitalisten fast ganz neutral blieb. Diese künftige Konjunktur, welche durch die Niederlage des Zarismus auf dem Kriegsschauplatz geschaffen war, ermöglicht es, dem Zarismus das Zugeständnis vom 17. Oktober des Jahres 1905 abzuringen. Schon in der nächsten Zeit erwies es sich, daß die Revolution nicht stark genug war, die abgerungenen Verheißungen zu realisieren. Nach Beendigung des Krieges kam die administrative Maschinerie des Zarismus, die ins Stocken geraten war, allmählich wieder in einige Ordnung. Gleichzeitig wendete sich der bourgeoise Teil der Opposition von der Revolution ab, teils im Glauben an eine Möglichkeit, mit der Krone zu paktieren, teils aus Furcht, die Revolution könnte in ihrer weiteren Entwicklung die Interessen der besitzenden Klassen schädigen. Und zur selbigen Zeit, als Witte, in Erfüllung der Verheißungen seines Oktobermanifests, mit der einen Hand das Wahlgesetz vom 11. Dezember 1905 schrieb und den Arbeitern und der Demokratie gewisse politische Rechte zugestand, unterdrückte er mit der anderen den bewaffneten Aufstand in Moskau und anderen Orten, wo das Proletariat schon fast ganz allein den verzweifelten Versuch machte, der Regierung die Macht zu entreißen.

Nach der Unterwerfung dieser revolutionären Versuche verlor die am 17. Oktober versprochene Konstitution ihre hauptsächlichste Garantie: die reale Macht, die für die Errungenschaften des Volkes einzutreten gewillt und fähig wäre. Das Proletariat war aufs Haupt geschlagen, die bürgerliche Demokratie zog sich zurück, die Bauernschaft hatte sich noch nicht bis zum Bewußtsein des politischen Charakters ihres Klassenkampfes emporgeschwungen. Die im Oktober geschriebene Konstitution entsprach nicht mehr dem, was Lassalle so treffend als reale Konstitution bezeichnet. Wie ein roter Faden geht diese Disharmonie durch die ganze Geschichte unserer „konstitutionellen“ Periode. In der Duma herrschte eine liberal-demokratisch Opposition, während im Lande der Kriegszustand und Feldkriegsgerichte wüteten. Rußland hatte ein Parlament, aber die reale Freiheit existierte in den Jahren 1906 und 1907 für das russische Volk nicht, wenigstens war sie verschwindend nichtig im Vergleich mit der Freiheit, welche das Volk im Jahre 1905 genossen hatte, als alle Volksklassen, das Gesetz und die Polizei ignorierend, ihre Kongresse einberiefen, Vereine und Koalitionen bildeten, Versammlungen abhielten und Petitionen verfaßten, während die demoralisierte Regierung sich ihrer Repressivmittel nicht im vollen Maße zu bedienen wagte.

Nachdem die erste Duma nach Formulierung der Forderung eines verantwortlichen Ministeriums und nach Aufstellung eines Programms für die unmittelbar Realisierung der verheißenen bürgerlichen Rechte und Freiheiten, es versucht hatte, einen Teil der Staatsmacht zu bekommen und so das reelle Kräfteverhältnis mit der geschriebenen Konstitution in Einklang zu bringen; nachdem es sich herausgestellt hatte, daß es unmöglich ist, diese Aufgabe auf dem parlamentarischen Wege allein zu lösen, nachdem es endlich dem Zaren gelungen war, die erste Duma ungestraft aufzulösen – da stand die russische Regierung vor der Aufgabe, die geschriebene Konstitution der wirklichen anzupassen. Wenn die zarische Regierung fast ein ganzes Jahr brauchte, um diese Aufgabe zu lösen, so liegt die Schuld dafür hauptsächlich an der chronischen Geldverlegenheit. Jetzt stützt sich ganz offen die russische Autokratie auf 130.000 Großgrundbesitzer und auf eine etwas größere Zahl von Großkapitalisten. Alle übrigen Klassen – die ganze mehr als 100 Millionen zählende Bevölkerungsmasse – sind aus dem Kreise der vollberechtigten Staatsbürger ausgeschlossen. Nachdem die russische Revolution eine gewisse Kurve beschrieben, kehrt sie zu ihrem Ausgangspunkt zurück – zur offiziell proklamierten Rechtlosigkeit der ungeheuren Mehrheit des Volkes, zum Absolutismus, welcher sich in seine Macht mit einigen parasitären Bevölkerungsgruppen teilt. Aber die Revolution kehrt zu ihrem Ausgangspunkt zurück, bereichert durch die ungeheure Erfahrung zweier Revolutionsjahre und nachdem sie vom Baume der politischen Erkenntnis genossen. Die Mittelschichten der Stadtbevölkerung wissen jetzt aus eigener Erfahrung, wie es um die Möglichkeit bestellt ist, daß eine asiatische Despotie sich „organisch“ in eine europäisch konstitutionelle Monarchie entwickeln könnte. Die Bauernschaft begann während der Wahlen zur ersten und zweiten Duma zum ersten Male über Politik zu reden und nachzudenken, lernte zum ersten Male ihre agrarischen Forderungen in die Gestalt politischer Programme kleiden. Bis in die entlegensten Winkel des Reiches hinaus haben sich die Bauern differenziert und in zwei große politische Lager geteilt: in Anhänger des Absolutismus und in seine Feinde. Jeder neue Revolutionssturm, der jetzt in der Hauptstadt ausbricht, wird einen viel mächtigeren Widerhall im ganzen Reiche erwecken, als es 1905 der Fall war.

Ebensowenig wie für die Bauernschaft sind die zwei Jahre für das Proletariat ohne Nutzen verstrichen. Im Dezember 1905 wurde das Proletariat aufs Haupt geschlagen, und seitdem macht es die harte Schule einer wirtschaftlichen Krise durch. Es hat gelernt, seine Handlungen nach seinen Kräften einzurichten. Während der Zeit des politischen Stillstandes hat es verstanden, für russische Verhältnisse bedeutende gewerkschaftliche Organisationen zu schaffen und dadurch seine Widerstandsfähigkeit und Schlagfertigkeit für zukünftige Kämpfe zu erhöhen.

„Das Proletariat ist der gefährlichste Feind!“ sagte sich die Regierung, als sie ihr Attentat auf die Grundgesetze machte. Sie hatte recht. Wie in früherer Zeit, so ist es jetzt auch in Rußland die hauptsächlichste aktive Kraft der Revolution. Aber mit jedem Schritte, den die Regierung unternimmt, um diesen Feind zu schwächen, wird sie durch die unwiderstehliche Gewalt der sozialen Interessen gezwungen, dazu beizutragen, daß die meisten anderen Klassen sich, ob sie wollen oder nicht, um diese proletarische Avantgarde der Revolution scharen und sie durch ihre Sympathien stärken.

Die von ihrer Position eines friedlichen Konstitutionalismus verdrängte städtische Demokratie und die in ihrem Glauben an den Zaren enttäuschte Bauernschaft werden mit Freuden die Erneuerung einer aggressiven proletarischen Bewegung begrüßen, welche im Jahre 1905 dem Zarismus so fühlbare Hiebe beibrachte, bis sie im Blute der Dezemberbarrikaden erstickt wurde. Das Proletariat, welches selbst an seiner Kraft zu zweifeln begann und deshalb in der letzten Zeit keine besondere Initiative an den Tag legte, wird diese ihm günstige Veränderung seiner Umgebung wahrnehmen, sobald in seiner eigenen Mitte eine jener großen ökonomischen Bewegungen ausbrechen wird, welche mit Naturnotwendigkeit von Zeit zu Zeit überall ausbrechen müssen, wo es große Lohnarbeitermassen gibt, die kapitalistisch ausgebeutet werden. In Petersburg und dem zentralen Industrierayon, vielleicht auch im Donezkohlenrevier, bereiten sich zweifellos solche elementare Bewegungen vor, die durch die äußerste Spannung zwischen Kapital und Arbeit hervorgerufen werden müssen.

Die Geschichte der russischen Revolution und die Analyse des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses im Lande lassen vermuten, daß diese elementaren Bewegung ein Schauspiel neuer allgemeiner Erhebung des russischen Volkes einleiten werden, einen neuen Ansturm der Nation gegen den Absolutismus auf ein vom Proletariat gegebenes Zeichen.

Mag auch diese neue Periode der russischen Revolution für ihre volle Entwicklung viel Zeit und Opfer fordern; dem Zarismus wird sie gewiß nur bittere Enttäuschungen und eine neue Niederlage bringen.


Fußnoten

1. Außerdem sollen zwei Vertreter von der winzigen Zahl der russischen Bevölkerung Polens gewählt werden.

2. Außerdem wird ein Vertreter von der russischen Bevölkerung des Kaukasus gewählt.


Zuletzt aktualisiert am 14.08.2010