Rosa Luxemburg


Parteitag der Unabhängigen SP [1]

(November 1918)


Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 14 vom 29. November 1918.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 423-426.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Strom der revolutionären Periode zieht Menschen, Dinge und Verhältnisse in seinen kritischen Strudel, sichtet sie, prägt sie um und zwingt sie zur Entscheidung. Namen, Programme, Parteiungen müssen sich am Prüfstein der Taten erweisen. Nichts Halbes und Zweideutiges hat Bestand. Wer nicht mit mir ist, ist wider mich, das ist der Grundsatz der Revolution.

Die Unabhängige Sozialdemokratie ist von Hause aus ein Kind der Schwäche, und Kompromiss ist ihres Daseins Wesen. Ihr Lebensfaden begann mit dem Kompromiss Haases, der – ein Gegner der Kreditbewilligung – am 4. August 1914 die denkwürdige Erklärung der sozialdemokratischen Fraktion verlas und seinen Namen an den weltgeschichtlichen Zusammenbruch des deutschen Sozialismus und der Internationale knüpfte.

Ihre weitere Vorgeschichte, das ist die dreimalige Bewilligung der Kriegskredite, also eine Unterstützung der Scheidemann und Genossen in ihrem Verrat an der Arbeiterklasse, zwei Jahre lang durch Tat – im Widerspruch zu dem Wort der eigenen Kritik an der Politik der Mehrheit.

Ihre offizielle Geburt als selbständige Partei ist nicht ein Akt männlichen Entschlusses, klarer Entscheidung aus eigener Initiative, nicht historische Tat gewesen, sondern erzwungenes Resultat des Hinauswurfs durch die Scheidemänner [2], eine Episode erbärmlichen Gezänks um „Parteidisziplin“ mit Schändern des sozialistischen Banners.

Dem Ursprung entsprach die Lebensgeschichte der Partei. Sie trottete stets im Hintertreffen der Ereignisse und der Entwicklung, nie schritt sie an ihrer Spitze. Sie hat es nie vermocht, zwischen sich und den Abhängigen [3] einen grundsätzlichen Grenzrain zu ziehen. Jede schillernde Zweideutigkeit, die zur Verwirrung der Massen führte: Verständigungsfrieden, Völkerbund, Abrüstung, Wilson-Kultus, alle die Phrasen der bürgerlichen Demagogie, die über die nackten, schroffen Tatsachen der revolutionären Alternative während des Krieges verdunkelnde Schleier breiteten, fanden ihre eifrige Unterstützung. Die ganze Haltung der Partei pendelte hilflos um den Kardinalwiderspruch, dass sie einerseits die bürgerlichen Regierungen als die berufenen Mächte fortgesetzt zum Friedensschluss geneigt zu machen suchte, andererseits der Massenaktion des Proletariats das Wort redete.

Ein getreuer Spiegel der widerspruchsvollen Praxis ist die eklektische Theorie: ein Sammelsurium radikaler Formeln mit rettungsloser Preisgabe des sozialistischen Geistes. Die Losung der Landesverteidigung im rein bürgerlichen Sinne gepaart mit der Entdeckung des theoretischen Führers der Partei, dass die Internationale nur ein Instrument des Friedens, kein Kampfmittel gegen den Krieg sei [4], lief auf die blanke Begründung der Politik der Scheidemänner hinaus.

Bis zum Ausbruch der Revolution war es eine Politik von Fall zu Fall, ohne geschlossene Weltanschauung, die Vergangenheit und Zukunft der deutschen Sozialdemokratie aus einer Lichtquelle beleuchtet, die für die großen Linien der Entwicklung einen Blick gehabt hätte.

Eine derart beschaffene Partei, plötzlich vor die geschichtlichen Entscheidungen der Revolution gestellt, musste jämmerlich versagen. Der Granit des Fundaments, der Stürme ebenso unerschütterlich besteht wie laue Perioden der Windstille, der Stahl des Entschlusses, der in großen Augenblicken den Funken der Tat erzeugt, sie waren nicht da. Eine Flugsanddüne, das ist alles, was die Unabhängige Sozialdemokratie dem Ansturm der Geschehnisse zu bieten hatte.

Und ihre Politik, ihre Taktik, ihre Grundsätze zerstoben wie Flugsand. Nachdem sie vier Jahre lang während des Krieges von der Brandmarkung der Scheidemann-Ebert als der Verräter des Sozialismus und der Internationale, als des Schandflecks und des Verderbs der Arbeiterbewegung lebte, war ihre erste Tat nach Ausbruch der Revolution, sich mit Scheidemann-Ebert zu einer gemeinsamen Regierung zu verbinden und diese Prostitution eigener Grundsätze als „rein sozialistische“ Politik zu proklamieren. [5] In der Stunde, die endlich die sozialistischen Endziele zur praktischen Aufgabe des Tages, die schärfste, unerbittlichste Scheidung zwischen dem Lager des revolutionären Proletariats und offenen wie verkappten Feinden der Revolution und des Sozialismus zur höchsten Pflicht macht, beeilte sich die Unabhängige Partei, in ein politisches Kompaniegeschäft mit den gefährlichsten Vorposten der Gegenrevolution zu treten, die Massen zu verwirren und die Verrätereien zu erleichtern.

Ihre eigentliche Mission als Teilhaberin der Firma Scheidemann-Ebert ist: deren klaren und unzweideutigen Charakter als Schutztruppe der bürgerlichen Klassenherrschaft in ein System von Zweideutigkeiten und Feigheiten zu mystifizieren.

Den klassischsten Ausdruck findet diese Rolle der Haase und Genossen in ihrer Haltung zur wichtigsten Losung des Tages, zur Nationalversammlung.

Zwei Standpunkte allein sind in dieser Frage wie in allen anderen möglich. Entweder will man die Nationalversammlung als ein Mittel, das Proletariat um seine Macht zu prellen, seine Klassenenergie zu paralysieren, seine sozialistischen Endziele in blauen Dunst aufzulösen, oder man will die ganze Macht in die Hand des Proletariats legen, die begonnene Revolution zum gewaltigen Klassenkampf um die sozialistische Gesellschaftsordnung entfalten und zu diesem Zwecke die politische Herrschaft der großen Masse der Arbeitenden, die Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte errichten. Für oder gegen den Sozialismus, gegen oder für die Nationalversammlung, ein Drittes gibt es nicht.

Die Unabhängige Partei bemüht sich auch hier krampfhaft, Berg und Tal zusammenzubringen, Feuer und Wasser im Namen der „Einigkeit“ zu vereinen. Sie will die Nationalversammlung als höchste richtende und entscheidende Instanz, sie will aber diese Nationalversammlung möglichst hinausschieben und vorher durch diktatorische Maßnahmen der jetzigen Regierung die Sozialisierung in den Grundzügen verwirklichen.

Die gewundene Mittelstellung läuft, wie immer, auf eine Zweideutigkeit, ja auf eine politische Unehrlichkeit hinaus. Entweder meint man es mit der Nationalversammlung als der berufenen entscheidenden Vertretung des Volkes ehrlich, dann wird sich verbieten, dass diese oberste Instanz vor fertige Tatsachen gestellt, hinter den Wagen der wichtigsten sozialen Umwälzungen gespannt wird. Oder aber meint man es mit der sozialistischen Diktatur des Proletariats ehrlich, dann schiebt man sie nicht als Provisorium zwischen Tür und Angel der Revolutionsgeschichte ein und liefert nicht ihr kaum begonnenes Werk dem richtenden Endspruch einer bürgerlich-demokratischen Versammlung aus.

Eine Partei, die in der Stunde großer, klarer, kühner Entscheidungen von welthistorischer Bedeutung nur Zweideutigkeiten, Schwankungen und Halbheiten zutage fördert, die mit dem imperialistischen Annexionisten David auswärtige Politik, mit dem deutschnationalen Chauvinisten Haenisch Kultur und Volksschule, mit dem Henker der Revolution Ebert Sozialismus machen will, die durch den Mund Barths die streikenden Massen zur Ruhe und zum Kadavergehorsam der Unternehmerpeitsche gegenüber mahnt – eine solche Partei ist durch jedes ihrer Worte und jede ihrer Taten gerichtet. Sie war ein Produkt der jahrzehntelangen Versumpfung der deutschen Arbeiterbewegung. Das deutsche Proletariat braucht heute an seiner Spitze eine sozialistische Partei, die der großen Stunde gewachsen ist. Für eine Partei der Halbheit und Zweideutigkeit ist in der Revolution kein Platz.

Der zwiespältigen Politik der Partei entspricht der Zwiespalt in ihren Reihen. Wachsende Scharen ihrer eigenen Anhänger stehen in schärfster Opposition zur führenden Gruppe rückständiger Elemente Haase-Kautsky, die das Bleigewicht der Unabhängigen Partei bilden. Der jetzige Zustand der Partei ist unhaltbar geworden. Sie muss vor die Entscheidung gestellt werden.

Die schleunigste Einberufung des Parteitages, der Klärung und Entscheidung bringen wird, ist eine unabweisbare Forderung geworden! Die Revolution braucht scharfgeschliffene Waffen. Die Unabhängige Partei wird in ihrer großen Mehrheit zu antworten haben, ob sie eine Damaszenerklinge, ob sie ein „Schwert aus Bappe“ ist.

„Und was sie ist, das wage sie zu scheinen.“

Anmerkungen

1. Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Clara Zetkin nennt in ihrer Arbeit Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution (Hamburg 1922) Rosa Luxemburg als Verfasserin.

2. Im Reichstag hatten am 24. März 1916 außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 19 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten.

Auf einer Konferenz der Parteiopposition in Gotha vom 6. bis 8. April 1917 wurde die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands gegründet. Trotz grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten mit der zentristischen Führung schloss sich die Gruppe Internationale (Spartakusgruppe) der USPD an, wobei sie sich ihre politisch-ideologische Selbstständigkeit und eine eigene organisatorische Tätigkeit vorbehielt.

3. Spottname für die Rest-SPD nach der Abspaltung der Unabhängigen – MIA

4. Siehe dazu den ersten Teil des Artikels Der Wiederaufbau der Internationale (1915). – MIA

5. Am 10. November 1918 war der Rat der Volksbeauftragten, in den neben Friedrich Ebert; Otto Landsberg und Philipp Scheidemann von der SPD, Emil Barth, Wilhelm Dittmann und Hugo Haase von der USPD eingetreten waren, von der Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte als provisorische Regierung bestätigt worden.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012