Rosa Luxemburg


Rückblick auf die Gothaer Konferenz [1]

(25 Mai 1917)


Der Kampf (Duisburg), Nr. 51 vom 25. Mai 1917.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 270–274.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der ausführliche Bericht über die Gothaer Konferenz [2], der in der Presse erschienen ist, ermöglicht nun auch weiteren Kreisen der Genossen, sieh ein Bild über die Tagung zu machen und kritisch zu ihr Stellung zu nehmen. Letzteres vor allem ist wichtig. Wir wollen endgültig mit dem alten Brauch der offiziellen deutschen Sozialdemokratie brechen, wonach jeder abgehaltene Parteitag unweigerlich als ein „Markstein“ gekennzeichnet, das hohe Niveau seiner Debatten gepriesen, die „trotz aller Schärfe der Auseinandersetzungen“ erzielte Einigkeit gesegnet wurde. Was wir brauchen, ist durchaus scharfes Durchdenken und Prüfen des Geleisteten, unbarmherzige Selbstkritik, ungeschminkte Wahrheit. Nur damit kann dem Sozialismus heute gedient werden.

Um den richtigen Standpunkt zur Beurteilung der Konferenz und ihres Werkes zu gewinnen, ums vor allem die Frage gestellt werden: Was war aus der allgemeinen Lage der Arbeiterbewegung heraus die eigentliche Aufgabe der Tagung in Gotha?

Sie sollte offenbar, das liegt klar zutage, die Elemente der Opposition gegen den Regierungssozialismus organisieren, um die Wiedergeburt einer sozialistischen, auf dem Klassenkampf begründeten Arbeiterbewegung in Deutschland in die Wege zu leiten.

Nun ist aber für jeden denkenden Arbeiter klar, daß eine Wiedergeburt der Arbeiterbewegung aus ihrem heutigen Zusammenbruch und ihrer heutigen Schmach unmöglich ist, wenn man sich über die Ursachen dieses Zusammenbruchs und dieser Schmach nicht klar ist. Wer die gewaltige welthistorische Krise des deutschen und des internationalen Sozialismus seit Ausbruch des Krieges nicht für eine vom Himmel gefallene Zufallserscheinung hält, ums begreifen, daß der Kladderadatsch des 4. August 1914 wohl schon im Wesen der Arbeiterbewegung vor dem 4. August 1914 wurzelte. Ebenso einleuchtend ist es, daß, solange man die eigentlichen Wurzeln des Übels nicht kennt, man nicht daran denken kann, sie auszurotten und einen neuen Bau auf festem Grund auszuführen.

Daraus ergibt sich, daß der Ausgangspunkt, der erste Schritt zur Schaffung einer neuen sozialistischen Bewegung in Deutschland eine gründliche, durchgreifende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein mußte. Nur aus dem Quell der Selbstkritik, einer grausam gründlichen Prüfung der eigenen Fehler in Programm, Taktik und Organisation können die klaren Richtlinien für die Zukunft gewonnen werden. Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß man in Gotha tiefsinnige akademische theoretische Tüfteleien hätte anstellen sollen: Nein, es galt, eine politische Prüfung der Praxis der deutschen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in den Hauptzügen vorzunehmen, ihre Hauptmängel in der Vergangenheit aufzudecken, die Finger in ihre wunden Stellen zu legen, was wir auch in der Agitation vor jedem einfachen Arbeiter tun müssen, wenn wir ihn unter die Fahne der Opposition rufen. Aus einer solchen Prüfung der Vergangenheit allein konnten die großen Linien der künftigen Aufgaben abgeleitet werden.

Von diesem Standpunkt aus ums gesagt werden, daß die Gothaer Tagung, wenigstens was die Arbeitsgemeinschaft [3] betrifft, völlig versagt hat. In Haases Referat war keine Spur von Analyse der Vergangenheit, in Ledebours und Dittmanns Referat keine Spur von Beleuchtung des Wesens und der Richtlinien, nach denen die neuen politischen Aufgaben und das Organisationsstatut nunmehr orientiert werden sollen. Haase fand sehr scharfe und treffende Worte für die Bezeichnung der Scheidemann-Clique oder der Umlerner Lensch-Haenisch. Aber der heutige Verfall der Sozialdemokratie ist keine Personenfrage, und die Tatsache, daß die Scheidemänner, daß die Lensch und Haenisch in der Sozialdemokratie möglich wurden, bedarf selbst einer tieferen Erklärung. Diese zu geben und aus ihr die neuen Aufgaben und Pflichten abzuleiten, haben die Referenten der Arbeitsgemeinschaft nicht einmal versucht. Es soll damit nicht an ihren rednerischen Leistungen billige Kritik geübt werden. In diesem Ausweichen jeder gründlichen Auseinandersetzung mit der vergangenen Praxis liegt vielmehr ein wesentliches Symptom der Gothaer Tagung, darin kommt zum Ausdruck die besondere politische Physiognomie der Arbeitsgemeinschaft und damit der neuen Partei in ihrem offiziellen Zuschnitt von der Geburt an. Statt sich von der Vergangenheit kritisch abzugrenzen, suchte man umgekehrt in jeder Hinsicht sich an ihre überlebten und ausgehöhlten Formeln und Schemata anzuklammern. Das Erfurter Programm und die nationalen und internationalen Kongreßbeschlüsse – dies sollte die Losung der neuen Partei sein, was immer wieder betont wurde. Aber was bedeuten heute noch diese Worte, nachdem die Regierungssozialisten sie ebenso gut als Flagge für ihre Bannware benutzen und nachdem – was das Entscheidende – weder das Erfurter Programm noch die nationalen und internationalen Beschlüsse den betäubenden Bankrott der Arbeiterbewegung haben verhüten können. Es ums doch heute für jedes Kind klar sein, daß unter der Fahne des Parteiprogramms und der Kongreßbeschlüsse die gesamte Arbeiterbewegung eine falsche Richtung genommen hatte, die zum Abgrund führte. Worauf es also ankam, war, endlich aus dem Zwielicht der Formeln herauszutreten, die Praxis, die mit dem Zusammenbruch endete, zu beleuchten, neue Wege einzuschlagen. Statt dessen suchte die Arbeitsgemeinschaft in Gotha krampfhaft in allem an das Alte anzuknüpfen, sich als eine einfache Fortsetzung, als Restauration der alten Partei zu organisieren. So war es typische Fortsetzung der alten Traditionen der deutschen Parteitage, die tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten in den Reihen der neuen Partei als bloße „Mißverständnisse“ zu kennzeichnen, die hinwegzureden eben Aufgabe der Tagung wäre. So war auch das Referat Ledebours – ganz abgesehen von schreienden Irrtümern in einzelnen Fragen – in seinem allgemeinen Zuschnitt nur einfacher Abklatsch der üblichen taktischen Referate ehemaliger Parteitage: Parlamentarismus und nichts als Parlamentarismus. Und so war der durch Dittmann vertretene Organisationsentwurf nichts als Abklatsch des alten Parteistatuts.

Was man so beim Ausgangspunkt an den Wurzeln verabsäumt hatte, suchte man nachher im Windmühlenkampf gegen äußere Auswüchse nachzuholen. Das krampfhafte Bemühen, sich des Bürokratismus der alten Partei durch rein mechanische Mittel des Organisationsstatuts zu erwehren, wirkte wie ein tragikomisches Schlagen nach dem eigenen Schatten, nachdem die Führer der Opposition von der Arbeitsgemeinschaft es geflissentlich vermieden hatten, die politischen Wurzeln des Bürokratismus und der ganzen Entartung der Demokratie in der alten Partei aufzudecken und an sie die Axt zu legen.

In allen den gekennzeichneten Zügen war die Gothaer Tagung in der Tat eine legitime Fortsetzung der alten Partei, und das Parteizentrum setzte hier seine seit 10 bis 15 Jahren vor dem Kriege ausgeübte Funktion fort, die tiefen inneren Widersprüche der Bewegung zu überkleistern und so das Leben der Partei von der Hand in den Mund, ohne jede durchgreifende große Orientierung zu ermöglichen.

Einzig die Richtung Internationale hat in Gotha das Element der Kritik und der Erneuerung der Bewegung in die Tagung hineingetragen. Durch die äußerst wichtige Bedingung, daß Programm wie Organisation gemäß den im Weltkriege gewonnenen neuen Erkenntnissen ausgestaltet werden sollen, durch Anregung der Massenaktivität im Parteileben vermittels Urabstimmungen, durch Wahrung der politischen Autonomie der lokalen Einheiten der Organisation, endlich durch allgemeine scharfe Kritik des Parlamentarismus, der politischen Defensive der Arbeitsgemeinschaft, ihrer Verwirrung in der Frage der Landesverteidigung usw. hat unsere Richtung sowohl in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wie in der Anbahnung neuer Wege zugleich kritisch und vorwärtstreibend gewirkt.

Dies hervorzuheben ist wichtig nicht aus abgeschmackter Rechthaberei oder Besserwisserei, sondern weil in dieser Rollenverteilung das eigentliche Amt der Richtung Internationale in der neuen Partei und der bewußte Zweck des Eintritts ihrer Mitgliedschaften in dieselbe deutlich zum Ausdruck kam. Die Richtung Internationale bleibt, was sie war. Nicht aus Opportunitätsrücksichten irgendwelcher Art ist sie der neuen Partei beigetreten und nicht zu einer rührenden Aussöhnungsverbrüderung mit der Arbeitsgemeinschaft im unterschiedslosen Brei einer rückgratlosen „Opposition“. Sie ist der neuen Partei beigetreten, um – im Vertrauen auf zunehmende Verschärfung der allgemeinen sozialen Lage und im bewußten Hinarbeiten auf sie – die neue Partei vorwärtszudrängen, ihr mahnendes Gewissen zu sein und als Ausdruck der weitgehendsten Bedürfnisse der Arbeiterbewegung im ganzen bei Zuspitzung und Aufeinanderplatzen der sozialen Gegensätze die wirkliche Führerschaft in der Partei zu übernehmen.

Die Organisationen der Gruppe Internationale verbanden sich mit der Arbeitsgemeinschaft zum gemeinsamen Kampfe, aber sie verbanden sich nur in dem Sinne, wie Figaro vom Grafen Almaviva singt:

Soll ich im Springen
Ihm Unterricht geben,
Auf Tod und Leben
Bin ich sein Mann.

Diese wichtigste Aufgabe der kritischen Klärung, die jetzt der Bewegung Not tut, wollen augenscheinlich ebenso wenig die Anhänger der Arbeitsgemeinschaft begrüßen wie andererseits die „Linksradikalen“ von Bremen. Jene betrachten – auch darin treu der alten Parteitradition – jede scharfe und rücksichtslose Kritik als Beleidigung und Belästigung, im besten Falle als Ausfluß des berühmten „Mißverständnisses“: Diese – die Bremer „Linksradikalen“ – halten die Auseinandersetzung mit der Arbeitsgemeinschaft in der Partei für Zeitvergeudung und möchten – im Besitze des fertigen Rezepts der einzig wahren Taktik – ohne weitere Abhaltung lieber gleich im eigenen sauberen Heim darangehen, „das Richtige“ zu machen. Schade, daß dieses einzig richtige Kleinküchensystem die Hauptsache vergißt, nämlich die objektiven historischen Verhältnisse, die letzten Endes für das Verhalten der Massen ausschlaggebend sind und sein werden. Sie vergessen, daß die Auseinandersetzung mit dem Parteizentrum auf Schritt und Tritt zugleich Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit den Fehlern der Arbeiterbewegung ist und als solche gerade zur Aufrüttelung und Erziehung der Massen das wichtigste uns zu Gebote stehende Mittel. Ist die Arbeitsgemeinschaft nun einmal ein lebendiges Stück Parteivergangenheit, wie sie zum Bankrott des 4. August führte, dann ums die neue Bewegung gerade in ständiger kritischer Auseinandersetzung mit ihr sich die neuen Wege bahnen. Es genügt nicht, daß eine Handvoll Leute das beste Rezept in der Tasche hat und schon weiß, wie man die Massen führen soll. Diese Massen müssen geistig den Traditionen der 50jährigen Vergangenheit entrissen, von ihnen befreit werden. Und das können sie nur im großen Prozeß ständiger schärfster innerer Selbstkritik der Bewegung im ganzen. Was die Bremer als Zeitvergeudung, was die Arbeitsgemeinschaft als Belästigung empfindet, ist das Lebenselement der Zukunft, die Gewähr der Wiedergeburt des Sozialismus und als solche Amt und Beruf der Richtung Internationale in der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.


Anmerkungen

1. Diese Schrift ist mit Gracchus, ein Pseudonym Rosa Luxemburgs, gezeichnet.

2. Auf einer Konferenz der Parteiopposition in Gotha vom 6. bis 8. April 1917 wurde die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands gegründet. Trotz grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten mit der zentristischen Führung schloß sich die Gruppe Internationale (Spartakusgruppe) der USPD an, wobei sie sich ihre politisch-ideologische Selbständigkeit und eine eigene organisatorische Tätigkeit vorbehielt.

3. In der Quelle: Arbeitergemeinschaft. – Im Reichstag hatten am 24. März außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012