Rosa Luxemburg


Die Politik der sozialdemokratischen Minderheit

(Frühjahr 1916)


Erstmals veröffentlicht in Die Kommunistische Internationale (Hamburg), 1925, Heft 9, S. 952-958. [1]
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 171-180.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.

Genossinnen und Genossen! Ihr alle habt Kenntnis von dem Zwiespalt der im Schoße der Parteiopposition besteht. Gar mancher von euch, der mit den heutigen Zuständen in der offiziellen Partei und mit ihrer Instanzenpolitik nicht einverstanden ist, wird über diesen Zwiespalt zunächst aufs äußerste betrübt sein. „Schon wieder Spaltungen!“ werden manche unwillig ausrufen. „Wäre es denn nicht notwendig, dass wenigstens alle diejenigen, die gegen die Fraktionsmehrheit Front machen, fest zusammenstehen und einträchtig vorgehen? Heißt es denn nicht die Opposition schwächen und Wasser auf die Mühle der Mehrheitspolitik treiben, wenn sich auch noch die untereinander zanken und spalten, die das gleiche Ziel verfolgen: die Parteibewegung wieder in die Bahnen einer grundsätzlichen proletarischen Klassenpolitik zu bringen?“

Gewiss, Genossen! Würde es sich bloß um persönliche Streitereien würde es sich um Lappalien, um irgendwelche untergeordnete Rechthaberei, Unterlassungen oder um sogenanntes „Aus-der-Reihe-Tanzen“ einzelner handeln, dann müsste es jeder ernste Mensch einen Frevel, ein Verbrechen nennen, wenn um solcher kleinen Dinge willen eine Spaltung im Schoße der Opposition herbeigeführt worden wäre.

Allein, dem ist nicht so, Genossen! Was diese Spaltung herbeigeführt hat, sind grundlegende Fragen der Politik, ist die ganze Auffassung über die Mittel und Wege, die uns aus der jetzigen verzweifelten Situation der Partei zu würdigeren Zuständen hinausführen sollen.

Überlegen wir einmal, was alles auf dem Spiele steht! Mit dem 4. August 1914 ist die offizielle deutsche Sozialdemokratie und mit ihr die Internationale elend zusammengebrochen. Alles, was wir 50 Jahre lang vorher dem Volke gepredigt, was wir für unsere heiligsten Grundsätze erklärt hatten, was wir in Reden, in Broschüren, in Zeitungen, in Flugblättern unzählige Male verkündeten, das alles hat sich mit einem Male als leere Phrase erwiesen. Die Partei des proletarischen internationalen Klassenkampfes ist mit einem Ruck wie durch bösen Zauber zu einer nationalliberalen Partei geworden, unsere starken Organisationen, auf die wir so stolz waren, haben sich völlig ohnmächtig erwiesen, und aus geachteten und gefürchteten Todfeinden der bürgerlichen Gesellschaft sind wir zu willenlosen und mit Recht verachteten Werkzeugen unserer Todfeinde, der imperialistischen Bourgeoisie, geworden. In anderen Ländern ist mehr oder weniger derselbe tiefe Fall des Sozialismus eingetreten, und der stolze alte Ruf: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! hat sich auf den Schlachtfeldern in das Kommandowort verwandelt: Proletarier aller Länder, schneidet euch die Gurgel ab!

Nie in der Weltgeschichte hat eine politische Partei so elend Bankrott gemacht, nie ist ein erhabeneres Ideal so schmachvoll verraten und in den Staub getreten worden!

Tausende und aber Tausende Proletarier und Proletarierinnen könnten vor Scham und Wut blutige Tränen weinen, dass alles, was ihnen so teuer und heilig war, jetzt zum Spott und Hohn der ganzen Welt geworden ist. Tausende und aber Tausende brennen darauf, die Scharte auszuwetzen, die Schmach von der Partei abzuwaschen, um wieder den Namen Sozialdemokrat mit erhobener Stirn und ohne Erröten tragen zu können.

Aber das eine muss sich dabei jeder Genosse vor Augen halten: Aus einem so tiefen Fall kann nur eine ganz geschlossene, klare, rücksichtslose Politik die Rettung bringen. Mit halben Mitteln, mit Hin- und Herschwanken, mit zaghafter Schaukelpolitik kann uns nimmermehr geholfen werden. Jetzt muss sich jeder sagen: entweder – oder. Entweder sind wir nationalliberale Schafe im sozialistischen Löwenfell, dann lassen wir auch jedes Spiel mit der Opposition. Oder aber wir sind Kämpfer der proletarischen Internationale in voller Bedeutung dieses Wortes, dann muss eben mit der Opposition ganze Arbeit gemacht, dann muss die Fahne des Klassenkampfes und des Internationalismus rücksichtslos und offen entfaltet werden. Und nun schaut, Parteigenossen und -genossinnen, auf die bisherige sogenannte Opposition, wie sie von Ledebour, Haase und ihren Freunden vertreten wird. Nachdem sie viermal hintereinander im Reichstag die Bewilligung der Kriegskredite gehorsam geduldet und sich so zu Mitschuldigen des Verrates am Sozialismus gemacht haben, rafften sie sich endlich am 21. Dezember 1915 dazu auf, im Plenum dagegen zu stimmen. Endlich! haben sich die Arbeiter gesagt. Endlich eine öffentliche Absage an die Politik des nationalistischen Schwindels. Endlich wenigstens 20 Mann im Parlament, die den Sozialismus hochhalten! Der Wahn war kurz, und an der „mutigen Tat“ konnten nur diejenigen ungetrübte Freude haben, die ganz oberflächlich die Dinge betrachten, ohne ihnen mit kritischem Blick auf den Grund zu sehen. Über ihre Verweigerung der Kredite haben die Geyer und Genossen im Reichstag eine Erklärung abgegeben, die alles wieder zunichte macht, was sie durch die Abstimmung Gutes geleistet haben. Denn warum haben sie diesmal gegen die Kredite gestimmt? „Unsere Landesgrenzen sind gesichert“, lautet ihre Erklärung. Was die guten Leute mit diesen Worten bezweckten, auf wen sie Rücksicht nehmen zu müssen glaubten, bleibt ihre Sache. Der Außenstehende, der nicht in die große Diplomatie eingeweiht ist, die hinter den Kulissen zu dieser Erklärung geführt haben mag, wird sie so verstehen: Die Zwanzig stimmten offenbar diesmal gegen die Kredite, weil die deutschen Landesgrenzen gesichert seien. Also nicht deshalb, weil wir grundsätzliche Gegner des Militarismus und des Krieges sind, nicht deshalb, weil dieser Krieg ein imperialistisches Verbrechen an allen Völkern ist, sondern weil die Hindenburg, Mackensen und Kluck bereits genug Russen, Franzosen und Belgier niedergemetzelt und in ihren Ländern Fuß gefasst haben, deshalb darf sich schon ein deutscher Sozialdemokrat den Luxus gestatten, gegen die Kriegsausgaben zu stimmen! Aber damit stellen sich die Geyer und Genossen grundsätzlich auf den Boden der Mehrheitspolitik. Danach unterstützen sie den frechen Schwindel, wonach dieser Krieg überhaupt von Anfang an als ein Verteidigungskrieg zur Sicherung der Landesgrenzen hingestellt wurde. Was sie von der Mehrheit scheidet, ist also nicht grundsätzliche Auffassung der ganzen Stellung zum Kriege, sondern bloß verschiedene Beurteilung der militärischen Lage. Nach den Scheidemann, David, Heine sind die deutschen Landesgrenzen noch immer nicht gesichert, nach den Haase, Ledebour, Geyer sind sie bereits gesichert. Allein, jeder verständige Mensch muss zugeben, dass, wenn man sich schon auf die nackte Beurteilung der militärischen Lage einlässt, der Standpunkt der Scheidemann, David, Heine konsequenter ist als der Standpunkt der Ledebour und Haase. Denn wer will die Garantie übernehmen, dass das Kriegsglück auch fernerhin dem deutschen Militarismus treu bleibt? Welcher verständige General würde heute schwören wollen, dass sich das Blatt unmöglich wenden und etwa die Russen wieder in Ostpreußen einrücken könnten? Und falls dies geschieht, was dann? Dann müssten ja die Ledebour, Geyer, Haase im Reichstag in Konsequenz ihrer eigenen Erklärung für die Kriegskredite stimmen! Das ist also keine grundsätzliche Taktik, sondern eine Konjunkturpolitik, die auf die momentane Lage des Kriegsschauplatzes zugeschnitten ist, das ist die berühmte Politik von Fall zu Fall, die alte opportunistische Schaukel, auf der es die Partei ja gerade bis zur Herrlichkeit des 4. August 1914 gebracht hat.

Doch die Sache hat noch eine sehr ernste Seite. Wenn nach der Erklärung der Ledebour-Haase die deutschen Sozialdemokraten heute gegen die Kriegskredite stimmen dürfen, weil die deutschen Landesgrenzen gesichert seien, wie steht es dann mit den französischen, belgischen, russischen, serbischen Genossen, in deren Ländern der Feind steht? Der einfachste Arbeiter kann sich an den Fingern abzählen, dass dieser Satz der Erklärung den Genossen in den anderen Ländern die schönste Handhabe bietet, um ihre nationalistische Politik zu rechtfertigen. In der Tat haben bereits französische Genossen von der nationalistischen Mehrheit ihn als die beste Bekräftigung ihrer eigenen Haltung eifrig aufgegriffen. Da haben wir also wieder die Spaltung der Internationale, da haben wir wieder die Politik, die die Sozialisten der verschiedenen Länder nicht gemeinsam gegen den Krieg und die herrschenden Klassen, sondern gegeneinander führt, ganz wie es das Kommando des Imperialismus befiehlt. Also auch hier kommen wir genau auf den Boden jener Mehrheitspolitik, die uns und die Internationale zugrunde gerichtet hat.

Und nun fragen wir, Genossinnen und Genossen, wenn man so die Dinge ernst und kritisch betrachtet: War die Abstimmung der Ledebour, Haase und Genossen am 21. Dezember ein Schritt vorwärts? War es die rettende Tat, auf die wir alle mit Qual im Herzen warteten, nach der die Massen lechzten? Nein und abermals nein! Jene Abstimmung mit jener Erklärung, das war ein Schritt vorwärts und ein Schritt zurück, das war wieder einmal eine angenehme Täuschung, dass etwas sich zum Besseren wende, hinter der aber eine um so bitterere Enttäuschung unvermeidlich war.

Und die Enttäuschung folgte auch richtig auf dem Fuße. Es ist klar, dass jene Abstimmung gegen die Kriegskredite, selbst wenn sie nicht durch die unglückselige Erklärung im Kern verpfuscht wäre, doch nicht die ganze Politik der Opposition erschöpfen, sondern bloß der erste Schritt auf neuer Bahn sein konnte, ein erstes vernehmbares Signal, dem eine nachdrückliche, konsequente Aktion im Geiste des Klassenkampfes auf der ganzen Linie folgen musste. Was haben wir statt dessen erlebt? Die Ledebour, Haase und Genossen ruhen sich seitdem auf den Lorbeeren ihrer Kreditverweigerung aus – sie führen ein Schattendasein.

Nehmen wir nur einige Beispiele. In der famosen Baralong-Affäre [2] hat sich die sozialdemokratische Fraktion durch die Rede Noskes und sein Krächzen nach blutigen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Engländer mit so unerhörter Schmach bedeckt, dass sogar anständige bürgerliche Liberale für uns erröten müssten, wenn es noch eine solche Menschengattung in deutschen Landen geben würde. Es schien nach dem 4. August, nach allem, was darauf gefolgt war, dass unsere Partei so tief im Sumpfe liegt, wie es nicht tiefer sein kann. Aber die „umgelernten“ Sozialimperialisten bringen immer noch neue Überraschungen zustande. Ihre politische und moralische Korruption scheint überhaupt mit gewöhnlichem Maß nicht messbar zu sein. In der Baralong-Affäre haben sie durch das Aufhetzen der bestialischen Kriegsinstinkte sogar die Konservativen übertrumpft und beschämt. Und was hat nach einem solchen unerhörten Vorgang ein Mann der Opposition, der Genosse Ledebour, getan? Statt mit einem Donnerwetter dreinzufahren, statt vor aller Welt im Namen des deutschen Proletariats jede Gemeinschaft mit den Noske und seinesgleichen von sich zu weisen, statt dessen stimmte Ledebour selbst in das Geheul ein, akzeptierte grundsätzlich die Vergeltungspolitik der Noske und Genossen und schwang sich nur dazu auf, um maßvolle Anwendung des bestialischen Prinzips zu betteln.

Die unglaublichen Worte Ledebours am 15. Januar lauteten nach dem Stenogramm folgendermaßen:

Meine Herren, in der Beurteilung des Falles Baralong an sich, also der Untat, die zur See von englischen Seeleuten gegenüber tapferen deutschen Seeleuten begangen worden ist, weiß ich mich eins mit allen Vorrednern. Ich verzichte darauf, ihre Ausführungen noch irgendwie in Worten zu ergänzen. [3] [Hervorhebung – R.L.]

Und diese „Vorredner“ waren: Noske von den Sozialimperialisten, Spahn vom Zentrum, Fischbeck vom Freisinn, der Knuten-Oertel von den Konservativen! Mit ihnen allen wusste sich Ledebour „eins“ in der Beurteilung der Affäre.

Also wiederum eine grundsätzliche Unterstützung der Mehrheitspolitik der sozialistischen Verräter und ein Abrutschen in die burgfriedliche Einigkeit mit den bürgerlichen Parteien – drei Wochen nach der scheinbaren Erhebung der Fahne des Klassenkampfes.

Nehmen wir ein anderes Beispiel. In den sogenannten „Kleinen Anfragen“ haben die Abgeordneten im Reichstag eine unschätzbare Waffe in die Hand gekriegt, um sich in dieser kläglichen Jasagerversammlung von gehorsamen Mamelucken der Militärdiktatur einen ständigen Widerstand gegen die Regierung und die bürgerliche Mehrheit, eine ständige Beunruhigung der imperialistischen Phalanx, eine ständige Aufrüttelung der Volksmassen zu ermöglichen. [4] In den Händen von 20 entschlossenen Volksvertretern könnten die Kleinen Anfragen zu einer wahren Nilpferdpeitsche werden, die unermüdlich auf den Rücken der imperialistischen Meute niedersausen würde. Was sehen wir statt dessen? Die Ledebour, Haase und Genossen denken nicht daran, von diesem wichtigen Kampfmittel Gebrauch zu machen. Nicht ein einziges Mal haben sie es anzuwenden versucht. Sie überlassen es ruhig Karl Liebknecht allein, mitten in der kläffenden Meute nach allen Seiten zu fechten und sich zu wehren, selbst aber haben sie offenbar Angst vor der eigenen Courage, sie wagen es einfach nicht, wider den Stachel zu löcken und sich von der Fuchtel der Fraktionsmehrheit zu befreien.

Ja, noch mehr! Als die imperialistische Reichstagsmehrheit mitsamt der sozialdemokratischen Fraktionsmehrheit den Vorstoß machte, um die Waffe der Kleinen Anfragen durch die willkürliche Zensur des Reichstagspräsidenten zunichte zu machen, da ließen es die Ledebour und Haase mit Genossen ruhig geschehen! Diese angeblichen Oppositionsführer unterstützten den Gewaltstreich gegen ein demokratisches Recht der Volksvertretung, gegen ein wichtiges Mittel zur Aufrüttelung der Massen. Sie beteiligten sich an dieser neuen Verräterei der Fraktionsmehrheit.

Und wie verhielt es sich am 17. Januar, als die militärischen Fragen im Reichstag zur Debatte standen, als die gute Gelegenheit geboten war, an dem ganzen Treiben der Säbeldiktatur, an den Bestialitäten des Krieges unbarmherzig Kritik zu üben, die Gesamtlage zu beleuchten und alle Hauptprobleme der Weltkrise aufzuwerfen? Da versagten wieder die Ledebour und Haase mit Genossen völlig. Auf ihre scheinbare Kampfansage und Frontänderung am 21. Dezember folgte knapp vier Wochen später ein klägliches Fiasko. Ein kleinliches Herumreden an lauter äußeren Lappalien, wie es in dem grauen Alltag der parlamentarischen Tretmühle in Friedenszeiten üblich war, das war alles, wozu sich diese Oppositionsführer bei der Militärfrage aufgeschwungen haben. Das ist, Genossen und Genossinnen, die sogenannte Opposition, wie sie die Ledebour, Haase und ihre Freunde verstehen. Keine Spur von Konsequenz, von Tatkraft, von Schneid, von grundsätzlicher Schärfe, nichts als Halbheiten, Schwächlichkeiten und Illusionen. Aber wir haben wahrhaftig genug an Halbheiten, Schwächlichkeiten und Illusionen erlebt, und wir wissen, wohin sie uns gebracht haben.

Kein Mensch wird den guten Willen eines Ledebour, eines Haase, eines Adolph Hoffmann bezweifeln. Aber mit guten Absichten allein ist auch der Weg zur Hölle gepflastert. Was wir jetzt brauchen, ist Kraft, Konsequenz und Schärfe, ach, nur ein wenig von jener Kraft, Konsequenz und Schärfe, mit denen unsere Feinde, die herrschenden Klassen, uns knebeln und ins Joch des bluttriefenden Imperialismus zwingen. Ganze Männer, unerschrockene, schroffe Kämpfer, das ist es, was wir brauchen, nicht Schaukelpolitiker, nicht Schwächlinge, nicht zaghafte Rechnungsträger.

Und dass jene sogenannte Opposition diesen Anforderungen nicht entspricht, das beweist endlich am besten das Flugblatt, das die Genossen Ledebour und Adolph Hoffmann gerade jetzt herausgegeben haben.

Dort wird eine scharfe und ablehnende Kritik geübt an den Leitsätzen, die eine Anzahl Genossen aus verschiedenen Orten Deutschlands als die Richtschnur ihrer Auffassung und ihrer Aufgaben im gegenwärtigen historischen Moment angenommen haben. Wir führen sie hier zum Schluss im ganzen Umfange an, damit jeder Genosse sie selbst beurteilen kann. [5] Diese Leitsätze sind nichts anderes als die offene, ehrliche und unumwundene Formulierung der Tatsachen und Vorgänge, wie sie der Weltkrieg in der Arbeiterbewegung zutage gefördert hat, sie sind ferner die konsequente und entschlossene Anwendung unserer alten Parteigrundsätze auf die heutige Situation und die Aufgaben, die sich für uns alle ergeben, wenn wir mit dem internationalen Sozialismus endlich einmal Ernst machen wollen.

Und nun gerade gegen diese Tendenz der Leitsätze wenden sich Ledebour und Hoffmann mit ihrem entschiedenen Veto! Es sei ungehörig, die sozialistische Internationale zum bestimmenden Zentrum der gesamten Arbeiterbewegung zu machen; es sei ungehörig, die Landeszentralen in ihren freien Entschlüssen gegenüber dem Kriege zu beschränken; es sei ungehörig und unausführbar, die Internationale über die Instanzen der deutschen Partei und der anderen Parteien zu stellen. Die Internationale soll nur eine lose föderative Zusammenfassung der in ihrer Taktik im Frieden wie im Kriege völlig unabhängigen nationalen Arbeiterparteien bleiben, wie sie es vor Ausbruch des Weltkrieges war.

Genossen und Genossinnen! Hier liegt geradezu der Knotenpunkt der ganzen Situation, hier ist die Lebensfrage der Arbeiterbewegung eingeschlossen. Unsere Partei hat am 4. August versagt, wie die Parteien anderer Länder versagt haben, eben weil die Internationale sich als hohle Phrase herausgestellt, weil die Beschlüsse der internationalen Kongresse sich als leeres, machtloses Wort erwiesen haben. Wollen wir diesem schmachvollen Zustand ein Ende machen, wollen wir für die Zukunft die Wiederholung des Bankrotts vom 4. August 1914 verhüten, dann gibt es nur einen Weg und eine Rettung für uns: die internationale Solidarität des Proletariats aus einer schönen Phrase zur wirklichen, bitterernsten und heiligen Lebensregel zu machen, die sozialistische Internationale aus einem leeren Schaugepränge zur realen Macht zu gestalten und sie zu einem felsenfesten Damm auszubauen, an dem sich die Sturzwellen des kapitalistischen Imperialismus fernerhin brechen werden. Wollen wir aus dem Abgrund der Schmach uns emporarbeiten, in den wir gestürzt sind, dann müssen wir den deutschen wie den französischen und jeden anderen klassenbewussten Proletarier in dem Gedanken erziehen: Die Weltverbrüderung der Arbeiter ist mir das Heiligste und Höchste auf Erden, sie ist mein Leitstern, mein Ideal, mein Vaterland; lieber lasse ich mein Leben, als dass ich diesem Ideal untreu werde!

Und nun wollen gerade von alledem die Genossen Ledebour und Hoffmann nichts wissen. Sie wollen nach dem Kriege einfach den alten Jammer wiederherstellen; jede nationale Partei soll nach wie vor freie Hand haben, mit den Beschlüssen der Internationale Schindluder zu treiben, wir sollen wieder alle paar Jahre prunkvolle Kongresse, schöne Reden, Feuerwerke der Begeisterung, dröhnende Manifeste und kühne Resolutionen erleben, wenn es aber zur Tat kommt, soll wieder die Internationale völlig ohnmächtig dastehen und vor der verlogenen Phrase der „Vaterlandsverteidigung“ wie ein Spuk der Nacht vor der blutigen Wirklichkeit weichen! Die Ledebour und Genossen haben also aus diesem furchtbaren Kriege nichts gelernt! Aber, Genossen und Genossinnen, es gibt kein schlimmeres Zeugnis für einen Politiker, für einen Kämpfer, als dass er aus der harten Schule der Geschichte nicht zu lernen versteht. Fehler machen ist nicht schlimm. Vor Fehlern ist niemand gefeit, der in dem großen Drang und Gewühl des welthistorischen Kampfes Entscheidungen zu treffen hat. Aber die gemachten Fehler nicht einsehen, aus ihnen nicht lernen können, aus aller Schmach immer wieder unbelehrbar hervorzugehen – das grenzt an Verbrechen. Genossen, wenn uns nicht einmal dieses Blutmeer, durch das wir waten, wenn uns nicht einmal dieser furchtbare moralische Fall der Internationale zur besseren Einsicht und auf festen Weg führt, dann können wir uns wahrhaftig begraben lassen. Dann fort mit den internationalen Phrasen, fort mit der alten, verlogenen Leier, fort mit der Täuschung der Volksmassen, die ja vor uns mit Recht ausspeien werden, wenn wir nach diesem Kriege als die alten, unbelehrbaren Phrasenhelden vor ihnen die Idee der Völkerverbrüderung propagieren, ohne mit ihr je Ernst machen zu wollen!

Auch hier, Genossen, heißt es: entweder – oder! Entweder blanker und schamloser Verrat der Internationale, wie sich ihn die Heine, David, Scheidemann leisten, oder heiliger Ernst mit der Internationale, dann soll sie zu einer festen Burg ausgebaut, zum Bollwerk des sozialistischen Weltproletariats und des Weltfriedens gemacht werden. Für Mittelwege, für Schwankungen und Halbheiten gibt es heute keinen Platz mehr.

Und deshalb ist ein gemeinsames Vorgehen mit den Leuten, die auf dem Standpunkt der Genossen Ledebour und Hoffmann stehen, für wirklich oppositionelle Elemente unmöglich.

Genossen und Genossinnen! Lasst euch nicht durch die alte Phrase von der Einigkeit, die die Kraft bilde, einfangen. Mit dieser Phrase gehen auch jetzt die Scheidemann und Ebert vom Parteivorstand hausieren. Jawohl, Einigkeit macht stark, aber Einigkeit der festen, inneren Überzeugung, nicht äußere, mechanische Zusammenkoppelung von Elementen, die innerlich auseinanderstreben. Nicht in der Zahl liegt die Kraft, sondern in dem Geiste, in der Klarheit, in der Tatkraft, die uns beseelt. Wie dünkten wir uns stark, wie pochten wir auf unsere vier Millionen Anhänger vor dem Kriege, und wie ist doch unsere Kraft bei der ersten Probe gleich einem Kartenhaus zusammengebrochen, gestürzt! Auch hier heißt es aus den erlebten Enttäuschungen die Lehre ziehen, nicht wieder in die alten Fehler verfallen! Wollen wir gegen den herrschenden Kurs der offiziellen Parteiinstanzen, gegen die Fraktionsmehrheit energisch Front machen, dann ist klare, konsequente, energische Politik nötig, dann müssen wir nicht nach rechts oder nach links schauen, sondern uns um ein sichtbares Banner scharen, wie es gerade die von Ledebour und Genossen verpönten Leitsätze darstellen. Fort mit allen Halbheiten und Schwankungen! Fest das Ziel ins Auge gefasst, und rücksichtslos den Klassenkampf im Geiste der Internationale auf der ganzen Linie aufgenommen! Das [ist] unsere Aufgabe, das der Boden, auf dem wir uns sammeln. Wer ernst und ehrlich die Auferstehung des Sozialismus will, wird schon zu uns kommen, wenn nicht heute, dann morgen.

Schart euch, Genossen und Genossinnen, allerorten um die Leitsätze, die uns den weiteren Weg vorzeichnen, und setzt eure ganze Kraft ein, dass ihre Gedanken zu Taten werden! Die weißgebluteten, geknechteten Massen des Proletariats im ganzen Lande, in allen Ländern lechzen nach entschlossener proletarischer Politik, die ihnen allein die Erlösung aus der Hölle der bestehenden Zustände bringen kann. Die Stunde dieser Erlösung unter Aufbietung unserer letzten Kraft durch rücksichtslosen Klassenkampf auf der ganzen Linie zu beschleunigen ist unsere Aufgabe, ist unsere Pflicht!

Darum hoch der Klassenkampf! Hoch die Internationale!

Anmerkungen

1. Diese Arbeit ist nicht gezeichnet. – Sie sollte im Frühjahr 1916 als Nr. 1 der illegalen Broschürenreihe der Spartakusgruppe Entweder – oder erscheinen. Aber erst Ernst Meyer hat sie 1925 nach den aufgefundenen Korrekturfahnen in der Kommunistischen Internationale veröffentlicht.

2. Der britische Hilfskreuzer Baralong hatte am 19. August ein deutsches U-Boot versenkt und die schiffbrüchige Besatzung getötet:

3. Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode, II. Session, Bd.306, Stenographische Berichte, Berlin 1916, S. 674.

4. Das parlamentarische Mittel der Kleinen Anfragen war im Mai 1912 unter dem Druck sozialdemokratischer und linksbürgerlicher Abgeordneter in die Geschäftsordnung des Reichstages aufgenommen worden. Damit bekamen die Abgeordneten eine Handhabe, um kurzfristig von der Regierung Auskünfte über wichtige politische Fragen zu erlangen, ohne den umständlichen Weg über eine Interpellation gehen zu müssen, zu der die Unterschrift von 30 Abgeordneten erforderlich war. die Anfragen mußten schriftlich eingereicht werden; eine Besprechung der Antwort des Reichskanzlers oder seines Vertreters war nicht möglich. Die Kleinen Anfragen wurden während des Krieges von Karl Liebknecht zu einer wichtigen Form der revolutionären Ausnutzung des bürgerlichen Parlaments entwickelt.

5. Zu den Leitsätzen über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie siehe Rosa Luxemburgs Entwurf.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012