Rosa Luxemburg


Die Krise der Sozialdemokratie


VII

Wie aber nun trotz alledem – wenn wir den Kriegsausbruch nicht haben verhindern können, wenn der Krieg einmal da ist, wenn das Land vor einer feindlichen Invasion steht – sollen wir da das eigene Land wehrlos machen, es dem Feinde preisgeben –, die Deutschen den Russen, die Franzosen und Belgier den Deutschen, die Serben den Österreichern? Besagt nicht der sozialistische Grundsatz: das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, daß jedes Volk berechtigt und verpflichtet ist, seine Freiheit und Unabhängigkeit zu schützen? Wenn das Haus brennt, muß man da nicht vor allem löschen, statt nach dem Schuldigen zu suchen, der den Brand angelegt hat? Dieses Argument vom „brennenden Hause“ hat in der Haltung der Sozialisten hüben wie drüben, in Deutschland wie in Frankreich, eine große Rolle gespielt. Auch in neutralen Ländern hat es Schule gemacht: ins Holländische übertragen heißt es: wenn das Schiff leck ist, muß man es da nicht vor allem zu verstopfen suchen?

Gewiß, nichtswürdig das Volk, das vor dem äußeren Feinde kapituliert, wie nichtswürdig die Partei, die vor dem inneren Feinde kapituliert. Nur eins haben die Feuerwehrleute des „brennenden Hauses“ vergessen: daß im Munde des Sozialisten die Verteidigung des Vaterlandes anderes bedeutet, als die Rolle des Kanonenfutters unter dem Kommando der imperialistischen Bourgeoisie. Zunächst was die „Invasion“ betrifft, ist das wirklich jenes Schreckbild, vor dem jeder Klassenkampf im Innern des Landes wie von einem übermächtigen Zauber gebannt und gelähmt verschwindet? Nach der polizeilichen Theorie des bürgerlichen Patriotismus und des Belagerungszustandes ist jeder Klassenkampf ein Verbrechen an den Verteidigungsinteressen des Landes, weil er die Gefährdung und Schwächung der Wehrkraft der Nation sein soll. Von diesem Geschrei hat sich die offizielle Sozialdemokratie verblüffen lassen. Und doch zeigte die moderne Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft auf Schritt und Tritt, daß ihr die fremde Invasion nicht der Greuel aller Greuel, als welcher sie heute hingemalt wird, sondern ein mit Vorliebe angewandtes und erprobtes Mittel gegen den „inneren Feind“ ist. Riefen nicht die Bourbonen und die Aristokraten Frankreichs die Invasion ins Land gegen die Jakobiner? Rief die österreichische und kirchenstaatliche Konterrevolution nicht 1849 die französische Invasion gegen Rom, die russische gegen Budapest? Drohte nicht in Frankreich die „Ordnungspartei“ 1850 offen mit der Invasion der Kosaken, um die Nationalversammlung kirre zu machen? Und wurde nicht durch den famosen Vertrag vom 18. Mai 1871 zwischen Jules Favre, Thiers und Co. und Bismarck die Freilassung der gefangenen bonapartistischen Armee und die direkte Unterstützung der preußischen Truppen zur Ausrottung der Kommune von Paris abgemacht? Für Karl Marx genügte die geschichtliche Erfahrung, um schon vor 45 Jahren die „nationalen Kriege“ der modernen bürgerlichen Staaten als Schwindel zu entlarven. In seiner berühmten Adresse des Generalrats der Internationalen zum Fall der Pariser Kommune sagt er:

Daß nach dem gewaltigsten Kriege der neueren Zeit die siegreiche und die besiegte Armee sich verbünden zum gemeinsamen Abschlachten des Proletariats – ein so unerhörtes Ereignis beweist, nicht wie Bismarck glaubt, die endliche Niederdrückung der sich emporarbeitenden neuen Gesellschaft, sondern die vollständige Zerbröckelung der alten Bourgeoisgesellschaft. Der höchste heroische Aufschwung, dessen die alte Gesellschaft noch fähig war, ist der Nationalkrieg, und dieser erweist sich jetzt als reiner Regierungsschwindel, der keinen anderen Zweck mehr hat, als den Klassenkampf hinauszuschieben, und der beiseite fliegt, sobald der Klassenkampf im Bürgerkrieg auflodert. Die Klassenherrschaft ist nicht länger imstande, sich unter einer nationalen Uniform zu verstecken; die nationalen Regierungen sind eins gegenüber dem Proletariat! [1] [Hervorhebung – RL]

Invasion und Klassenkampf sind also in der bürgerlichen Geschichte nicht Gegensätze, wie es in der offiziellen Legende heißt, sondern eins ist Mittel und Äußerung des anderen. Und wenn für die herrschenden Klassen die Invasion ein erprobtes Mittel gegen den Klassenkampf darstellt, so hat sich für die aufstrebenden Klassen der schärfste Klassenkampf noch immer als das beste Mittel gegen die Invasion erwiesen. An der Schwelle der Neuzeit zeigt schon die stürmische, von zahllosen inneren Umwälzungen und äußeren Anfeindungen aufgewühlte Geschichte der Städte, namentlich der italienischen, die Geschichte von Florenz, von Mailand mit ihrem hundertjährigen Ringen gegen die Hohenstaufen, daß die Gewalt und das Ungestüm der inneren Klassenkämpfe die Abwehrkraft des Gemeinwesens nach außen, nicht bloß nicht schwächen, sondern daß im Gegenteil erst aus der Esse dieser Kämpfe die mächtige Lohe aufsteigt, die stark genug ist, jedem feindlichen Anprall von außen Trotz zu bieten. Aber das klassische Beispiel aller Zeiten ist die große französische Revolution. Wenn je, so galt für das Frankreich des Jahres 1793, für das Herz Frankreichs, Paris: Feinde ringsum! Wenn Paris und Frankreich der Sturmflut des koalierten Europas, der Invasion von allen Seiten damals nicht erlegen waren, sondern sich im Verlaufe des beispiellosen Ringens mit dem Wachsen der Gefahr und des feindlichen Angriffs zu immer gigantischerem Widerstand emporrafften, jede neue Koalition der Feinde durch erneute Wunder des unerschöpflichen Kampfmuts aufs Haupt schlugen, so war es nur der schrankenlosen Entfesselung der inneren Kräfte der Gesellschaft in der großen Auseinandersetzung der Klassen zu danken. Heute, aus der Perspektive eines Jahrhunderts, ist es deutlich sichtbar, daß nur der schärfste Ausdruck jener Auseinandersetzung, daß nur die Diktatur des Pariser Volkes und ihr rücksichtsloser Radikalismus aus dem Boden der Nation Mittel und Kräfte zu stampfen vermocht haben, die ausreichend waren, die neugeborene bürgerliche Gesellschaft gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen und zu behaupten: gegen die Intrigen der Dynastie, die landesverräterischen Machinationen der Aristokraten, die Zettelungen des Klerus, den Aufstand der Vendée, den Verrat der Generale, den Widerstand von sechzig Departements und Provinzialhauptstädten und gegen die vereinigten Heere und Flotten der monarchischen Koalition Europas. Wie Jahrhunderte bezeugen, ist also nicht der Belagerungszustand, sondern der rücksichtslose Klassenkampf, der das Selbstgefühl, den Opfermut und die sittliche Kraft der Volksmassen wachrüttelt, der beste Schutz und die beste Wehr des Landes gegen äußere Feinde.

Dasselbe tragische Quidproquo passiert der Sozialdemokratie, wenn sie sich zur Begründung ihrer Haltung in diesem Kriege auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen beruft. Es ist wahr: der Sozialismus gesteht jedem Volke das Recht auf Unabhängigkeit und Freiheit, auf selbständige Verfügung über die eigenen Geschicke zu. Aber es ist ein wahrer Hohn auf den Sozialismus, wenn die heutigen kapitalistischen Staaten als der Ausdruck dieses Selbstbestimmungsrechts der Nationen hingestellt werden. In welchem dieser Staaten hat denn die Nation bis jetzt über die Formen und Bedingungen seines nationalen, politischen oder sozialen Daseins bestimmt?

Was die Selbstbestimmung des deutschen Volkes bedeutet, was sie will, das haben die Demokraten von 1848, das haben die Vorkämpfer des deutschen Proletariats, Marx, Engels und Lassalle, Bebel und Liebknecht verkündet und verfochten: Es ist die einige großdeutsche Republik. Um dieses Ideal haben die Märzkämpfer in Wien und Berlin auf den Barrikaden ihr Herzblut verspritzt, zur Verwirklichung dieses Programms wollten Marx und Engels 1848 Preußen zu einem Krieg mit dem russischen Zarismus zwingen. Das erste Erfordernis für die Erfüllung dieses nationalen Programms war die Liquidierung des „Haufens organisierte Verwesung“, genannt habsburgische Monarchie, und die Abschaffung der preußischen Militärmonarchie sowie der zwei Dutzend Zwergmonarchien in Deutschland. Die Niederlage der deutschen Revolution, der Verrat des deutschen Bürgertums an seinen eigenen demokratischen Idealen führten zum Bismarckschen Regiment und zu dessen Schöpfung: dem heutigen Großpreußen mit den zwanzig Vaterländern unter einer Helmspitze, das sich das Deutsche Reich nennt. Das heutige Deutschland ist auf dem Grabe der Märzrevolution, auf den Trümmern des nationalen Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes errichtet. Der heutige Krieg, der neben der Erhaltung der Türkei die Erhaltung der habsburgischen Monarchie und die Stärkung der preußischen Militärmonarchie zum Zweck hat, ist eine abermalige Verscharrung der Märzgefallenen und des nationalen Programms Deutschlands. Und es liegt ein wahrhaft teuflischer Witz der Geschichte darin, daß Sozialdemokraten, die Erben der deutschen Patrioten von 1848, in diesen Krieg ziehen – das Banner des „Selbstbestimmungsrechts der Nationen“ in der Hand! Oder ist etwa die dritte Republik mit den Kolonialbesitzungen in vier und mit Kolonialgreueln in zwei Weltteilen ein Ausdruck der „Selbstbestimmung“ der französischen Nation? Oder ist es das Britische Reich mit Indien und der südafrikanischen Herrschaft einer Million Weißer über fünf Millionen farbiger Bevölkerung? Oder ist es gar die Türkei, das Zarenreich? Nur für einen bürgerlichen Politiker, für den die Herrenrassen die Menschheit und die herrschenden Klassen die Nation darstellen, kann in den Kolonialstaaten überhaupt von einer „nationalen Selbstbestimmung“ die Rede sein. Im sozialistischen Sinne dieses Begriffs gibt es keine freie Nation, wenn ihre staatliche Existenz auf der Versklavung anderer Völker beruht, denn auch die Kolonialvölker zählen als Völker und als Glieder des Staates. Der internationale Sozialismus erkennt das Recht freier, unabhängiger, gleichberechtigter Nationen, aber nur er kann solche Nationen schaffen, erst er kann das Selbstbestimmungsrecht der Völker verwirklichen. Auch diese Losung des Sozialismus ist, wie alle anderen, nicht eine Heiligsprechung des Bestehenden, sondern ein Wegweiser und Ansporn für die revolutionäre, umgestaltende, aktive Politik des Proletariats. Solange kapitalistische Staaten bestehen, namentlich solange die imperialistische Weltpolitik das innere und äußere Leben der Staaten bestimmt und gestaltet, hat das nationale Selbstbestimmungsrecht mit ihrer Praxis im Krieg wie im Frieden nicht das geringste gemein.

Noch mehr: in dem heutigen imperialistischen Milieu kann es überhaupt keine nationalen Verteidigungskriege mehr geben, und jede sozialistische Politik, die von diesem bestimmenden historischen Milieu absieht, die sich mitten im Weltstrudel nur von den isolierten Gesichtspunkten eines Landes leiten lassen will, ist von vornherein auf Sand gebaut.

Wir haben bereits den Hintergrund des jetzigen Zusammenstoßes Deutschlands mit seinen Gegnern aufzuzeigen gesucht. Es war nötig, die eigentlichen Triebfedern und die inneren Zusammenhänge des heutigen Krieges näher zu beleuchten, weil in der Stellungnahme unserer Reichstagsfraktion wie unserer Presse die Verteidigung der Existenz, Freiheit und Kultur Deutschlands die entscheidende Rolle spielte. Demgegenüber muß an der historischen Wahrheit festgehalten werden, daß es sich um einen vom deutschen Imperialismus durch seine weltpolitischen Ziele seit Jahren vorbereiteten und im Sommer 1914 durch die deutsche und österreichische Diplomatie zielbewußt herbeigeführten Präventivkrieg handelt. Darüber hinaus ist bei der allgemeinen Einschätzung des Weltkrieges und seiner Bedeutung für die Klassenpolitik des Proletariats die Frage der Verteidigung und des Angriffs, die Frage nach dem „Schuldigen“ völlig belanglos. Ist Deutschland am allerwenigsten in der Selbstverteidigung, so sind es auch Frankreich und England nicht, denn was sie „verteidigen“, ist nicht ihre nationale, sondern ihre weltpolitische Position, ihr von den Anschlägen des deutschen Emporkömmlings bedrohter alter imperialistischer Besitzstand. Haben die Streifzüge des deutschen und österreichischen Imperialismus im Orient den Weltbrand zweifellos entzündet, so hatten zu ihm der französische Imperialismus durch die Verspeisung Marokkos, der englische durch seine Vorbereitungen zum Raub Mesopotamiens und Arabiens wie durch alle Maßnahmen zur Sicherung seiner Zwingherrschaft in Indien, der russische durch seine auf Konstantinopel zielende Balkanpolitik Scheit für Scheit den Brennstoff zusammengeschleppt und aufgeschichtet. Wenn die militärischen Rüstungen eine wesentliche Rolle als Triebfeder zum Losbrechen der Katastrophe gespielt haben, so waren sie ein Wettkampf aller Staaten. Und wenn Deutschland zu dem europäischen Wettrüsten durch die Bismarcksche Politik von 1870 den Grundstein gelegt hatte, so war jene Politik vorher durch die des zweiten Kaiserreichs begünstigt und nachher durch die militärische koloniale Abenteurerpolitik der dritten Republik, durch ihre Expansionen in Ostasien und Afrika gefördert.

Die französischen Sozialisten waren in ihre Illusion von der „nationalen Verteidigung“ besonders durch die Tatsache hineingetrieben worden, daß die französische Regierung wie das ganze Volk im Juli 1914 nicht die geringsten Kriegsabsichten hatten. „In Frankreich sind heute alle aufrichtig und ehrlich, rückhaltlos und vorbehaltlos für den Frieden“, bezeugte Jaures in der letzten Rede seines Lebens, am Vorabend des Krieges, im Brüsseler Volkshaus. Die Tatsache stimmt vollkommen, und sie kann psychologisch die Entrüstung begreiflich machen, die sich der französischen Sozialisten bemächtigt hatte, als der verbrecherische Krieg ihrem Lande aufgezwungen wurde. Aber zur Beurteilung des Weltkrieges als einer historischen Erscheinung und zur Stellungnahme der proletarischen Politik ihm gegenüber reicht diese Tatsache nicht aus. Die Geschichte, aus der der heutige Krieg geboren wurde, begann nicht erst im Juli 1914, sondern sie reicht Jahrzehnte zurück, wo sich Faden an Faden mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes knüpfte, bis das dichtmaschige Netz der imperialistischen Weltpolitik fünf Weltteile umstrickt hatte – ein gewaltiger historischer Komplex von Erscheinungen, deren Wurzeln in die plutonischen Tiefen des ökonomischen Werdens hinabreichen, deren äußerste Zweige in die undeutlich heraufdämmernde neue Welt hinüberwinken – Erscheinungen, bei deren umfassender Größe die Begriffe von Schuld und Sühne, von Verteidigung und Angriff wesenlos verblassen.

Die imperialistische Politik ist nicht das Werk irgendeines oder einiger Staaten, sie ist das Produkt eines bestimmten Reifegrads in der Weltentwicklung des Kapitals, eine von Hause aus internationale Erscheinung, ein unteilbares Ganzes, das nur in allen seinen Wechselbeziehungen erkennbar ist und dem sich kein einzelner Staat zu entziehen vermag.

Von hier aus kann erst die Frage der „nationalen Verteidigung“ im heutigen Kriege richtig gewertet werden. Der Nationalstaat, nationale Einheit und Unabhängigkeit, das war das ideologische Schild, unter dem sich die bürgerlichen Großstaaten in Mitteleuropa im vorigen Jahrhundert konstituierten. Der Kapitalismus kann sich mit der Kleinstaaterei, mit wirtschaftlicher und politischer Zersplitterung nicht vertragen, er bedarf zu seiner Entfaltung eines möglichst großen, innerlich geschlossenen Gebietes und einer geistigen Kultur, ohne die weder die Bedürfnisse der Gesellschaft auf das der kapitalistischen Warenproduktion entsprechende Niveau gehoben werden, noch der Mechanismus der modernen bürgerlichen Klassenherrschaft funktionieren kann. Bevor der Kapitalismus zur erdumspannenden Weltwirtschaft sich auswachsen konnte, suchte er sich in den nationalen Grenzen eines Staates ein geschlossenes Gebiet zu schaffen. Dieses Programm ist – da es sich auf dem vom feudalen Mittelalter überwiesenen politischen und nationalen Schachbrett nur auf revolutionärem Wege durchführen ließ – in Frankreich allein, in der großen Revolution, verwirklicht worden. Im übrigen Europa ist es, wie die bürgerliche Revolution überhaupt, Stückwerk geworden, auf halbem Weg stehengeblieben. Das Deutsche Reich und das heutige Italien, der Fortbestand Österreich-Ungarns und der Türkei bis heute, das Russische Reich und das Britische Weltreich sind dafür lebendige Beweise. Das nationale Programm hatte nur als ideologischer Ausdruck der aufstrebenden, nach der Macht im Staate zielenden Bourgeoisie eine geschichtliche Rolle gespielt, bis sich die bürgerliche Klassenherrschaft in den Großstaaten Mitteleuropas schlecht und recht zurechtgesetzt, sich in ihnen die nötigen Werkzeuge und Bedingungen geschaffen hat.

Seitdem hat der Imperialismus das alte bürgerlich-demokratische Programm vollends zu Grabe getragen, indem er die Expansion über nationale Grenzen hinaus und ohne jede Rücksicht auf nationale Zusammenhänge zum Programm der Bourgeoisie aller Länder erhoben hat. Die nationale Phrase freilich ist geblieben. Ihr realer Inhalt, ihre Funktion ist aber in ihr Gegenteil verkehrt; sie fungiert nur noch als notdürftiger Deckmantel imperialistischer Bestrebungen und als Kampfschrei imperialistischer Rivalitäten, als einziges und letztes ideologisches Mittel, womit die Volksmassen für ihre Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen eingefangen werden können.

Die allgemeine Tendenz der jetzigen kapitalistischen Politik beherrscht dabei so gut als übermächtiges blindwaltendes Gesetz die Politik der einzelnen Staaten, wie die Gesetze der wirtschaftlichen Konkurrenz die Produktionsbedingungen des einzelnen Unternehmers gebieterisch bestimmen.

Denken wir uns für einen Augenblick – um das Phantom des „nationalen Krieges“, das die sozialdemokratische Politik gegenwärtig beherrscht, nachzuprüfen –, daß in einem der heutigen Staaten der Krieg in seinem Ausgangspunkt tatsächlich als reiner nationaler Verteidigungskrieg begonnen hat, so führt vor allem militärischer Erfolg zur Besetzung fremder Gebiete. Bei dem Vorhandensein höchst einflußreicher kapitalistischer Gruppen aber, die an imperialistischen Erwerbungen interessiert sind, werden im Laufe des Krieges selbst Expansionsappetite geweckt, die imperialistische Tendenz, die zu Beginn des Krieges erst im Keime vorhanden war oder schlummerte, wird im Verlauf des Krieges selbst wie in einer Treibhausatmosphäre aufwuchern und den Charakter des Krieges, seine Ziele und Ergebnisse bestimmen. Ferner: das System der Bündnisse zwischen den Militärstaaten, das seit Jahrzehnten die politischen Beziehungen der Staaten beherrscht, bringt es mit sich, daß jede der kriegführenden Parteien im Verlaufe des Krieges auch aus reinen Defensivrücksichten Bundesgenossen auf ihre Seite zu bringen sucht. Dadurch werden immer weitere Länder in den Krieg mit hineingezogen und damit unvermeidlich imperialistische Kreise der Weltpolitik berührt und neue geschaffen. So hat auf der einen Seite England Japan hineingezogen, den Krieg aus Europa auf Ostasien übergeleitet und die Schicksale Chinas auf die Tagesordnung gestellt, die Rivalitäten zwischen Japan und den Vereinigten Staaten, zwischen England und Japan geschürt, also neuen Stoff zu künftigen Konflikten gehäuft. So hat auf der anderen Seite Deutschland die Türkei in den Krieg gezerrt, wodurch die Frage Konstantinopels, der ganze Balkan und Vorderasien unmittelbar zur Liquidierung gestellt worden sind. Wer nicht begriff, daß der Weltkrieg schon in seinen Ursachen und Ausgangspunkten ein rein imperialistischer war, kann nach diesen Wirkungen jedenfalls einsehen, daß der Krieg sich unter den jetzigen Bedingungen ganz mechanisch, unabwendbar zum imperialistischen Weltumteilungsprozeß auswachsen mußte. Ja, er ist schon fast vom ersten Augenblick seiner Dauer zu einem solchen geworden. Das beständig schwankende Gleichgewicht der Kräfte zwischen den kämpfenden Parteien zwingt jede von ihnen, schon aus rein militärischen Gesichtspunkten, um die eigene Position zu stärken oder Gefahren neuer Feindseligkeiten zu verhüten, auch die Neutralen durch intensiven Völker- und Länderschacher im Zügel zu halten. Siehe einerseits die deutsch-österreichischen, andererseits die englisch-russischen „Angebote“ in Italien, in Rumänien, in Griechenland und Bulgarien. Der angeblich „nationale Verteidigungskrieg“ hat so die frappante Wirkung, daß er sogar bei unbeteiligten Staaten eine all gemeine Verschiebung des Besitzstandes, der Machtverhältnisse, und zwar in der ausdrücklichen Richtung zur Expansion, herbeiführt. Endlich die Tatsache selbst, daß heute alle kapitalistischen Staaten Kolonialbesitzungen haben, die im Kriege, mag er auch als „nationaler Verteidigungskrieg“ beginnen, schon aus rein militärischen Gesichtspunkten mit in den Krieg gezogen werden, indem jeder kriegführende Staat die Kolonien des Gegners zu okkupieren oder mindestens zum Aufruhr zu bringen sucht – siehe die Beschlagnahme der deutschen Kolonien durch England und die Versuche, den „Heiligen Krieg“ in den englischen und französischen Kolonien zu entfachen –, diese Tatsache verwandelt gleichfalls automatisch jeden heutigen Krieg in einen imperialistischen Weltbrand.

So ist der Begriff selbst jenes bescheidenen tugendhaften vaterländischen Verteidigungskriegs, der unseren Parlamentariern und Redakteuren heute vorschwebt, reine Fiktion, die jede geschichtliche Erfassung des Ganzen und seiner Weltzusammenhänge vermissen läßt. Über den Charakter des Krieges entscheiden eben nicht die feierlichen Erklärungen und nicht einmal die ehrlichen Absichten der sogenannten leitenden Politiker, sondern die jeweilige historische Beschaffenheit der Gesellschaft und ihrer militärischen Organisation.

Das Schema des reinen „nationalen Verteidigungskriegs“ könnte auf den ersten Blick vielleicht auf ein Land wie die Schweiz passen. Aber die Schweiz ist ausgerechnet kein Nationalstaat und dazu kein Typus für die heutigen Staaten. Gerade ihr „neutrales“ Dasein und ihr Luxus an Miliz ist selbst nur negative Frucht des latenten Kriegszustandes der sie umgebenden großen Militärstaaten und auch nur solange haltbar, als sie sich mit jenem Zustand vertragen kann. Wie eine solche Neutralität im Weltkriege im Nu vom Kommisstiefel des Imperialismus zertreten wird, zeigt das Schicksal Belgiens. Hier kommen wir speziell zur Situation der Kleinstaaten. Geradezu eine klassische Probe auf das Exempel des „nationalen Krieges“ bildet heute Serbien. Wenn irgend ein Staat nach allen äußeren formalen Merkmalen das Recht der nationalen Verteidigung auf seiner Seite hat, so ist es Serbien. Durch Österreichs Annexionen um die nationale Einheit gebracht, von Österreich in seiner nationalen Existenz bedroht, durch Österreich zum Kriege gezwungen, kämpft Serbien allem menschlichen Ermessen nach den echten Verteidigungskrieg um Existenz, Freiheit und Kultur seiner Nation. Hat die deutsche sozialdemokratische Fraktion mit ihrer Stellungnahme recht, dann sind die serbischen Sozialdemokraten, die im Belgrader Parlament gegen den Krieg protestierten und die Kriegskredite ablehnten, geradezu Verräter an den Lebensinteressen des eigenen Landes. In Wirklichkeit haben die Serben Lapstewitsch und Kazlerowitsch sich nicht nur mit goldenen Lettern in die Geschichte des internationalen Sozialismus eingetragen, sondern zugleich einen scharfen historischen Blick für die wirklichen Zusammenhänge des Krieges gezeigt, wodurch sie ihrem Lande, der Aufklärung ihres Volkes, den besten Dienst erwiesen haben. Serbien ist allerdings formell im nationalen Verteidigungskrieg. Aber die Tendenzen seiner Monarchie und seiner herrschenden Klassen gehen, wie die Bestrebungen der herrschenden Klassen in allen heutigen Staaten, auf Expansion, unbekümmert um nationale Grenzen, und bekommen dadurch aggressiven Charakter. So geht auch die Tendenz Serbiens nach der Adriaküste, wo es mit Italien einen recht imperialistischen Wettstreit auf dem Rücken der Albaner auszufechten hat, dessen Ausgang, außerhalb Serbiens, von den Großmächten entschieden wird. Die Hauptsache jedoch ist dies: hinter dem serbischen Nationalismus steht der russische Imperialismus. Serbien selbst ist nur eine Schachfigur im großen Schachspiel der Weltpolitik, und eine Beurteilung des Krieges in Serbien, die von diesen großen Zusammenhängen, von dem allgemeinen weltpolitischen Hintergrund absieht, muß in der Luft hängen. Genau dasselbe bezieht sich auf die jüngsten Balkankriege. Isoliert für sich und formal betrachtet, waren die jungen Balkanstaaten in ihrem guten historischen Recht, führten das alte demokratische Programm des Nationalstaates durch. In dem realen historischen Zusammenhang jedoch, der den Balkan zum Brennpunkt und Wetterwinkel der imperialistischen Weltpolitik gemacht hat, waren auch die Balkankriege objektiv nur ein Fragment der allgemeinen Auseinandersetzung, ein Glied in der verhängnisvollen Kette jener Geschehnisse, die zu dem heutigen Weltkrieg mit fataler Notwendigkeit geführt haben. Die internationale Sozialdemokratie hat auch den Balkansozialisten für ihre entschiedene Ablehnung jeder moralischen und politischen Mitwirkung an dem Balkankriege und für die Entlarvung seiner wahren Physiognomie eine begeisterte Ovation in Basel bereitet, womit sie die Haltung der deutschen und französischen Sozialisten im heutigen Kriege im voraus gerichtet hat.

In der gleichen Lage wie die Balkanstaaten befinden sich aber heute alle Kleinstaaten, so zum Beispiel auch Holland. „Wenn das Schiff leck ist, muß vor allem daran gedacht werden, es zu verstopfen.“ Um was könnte es sich in der Tat bei dem kleinen Holland handeln, als um reine nationale Verteidigung, um die Verteidigung der Existenz und der Unabhängigkeit des Landes? Zieht man lediglich die Absichten des holländischen Volkes und selbst seiner herrschenden Klassen in Betracht, so steht allerdings reine nationale Verteidigung in Frage. Aber die proletarische Politik, die auf historischer Erkenntnis ruht, kann sich nicht nach den subjektiven Absichten in einem einzelnen Lande richten, sie muß sich an dem Gesamtkomplex der weltpolitischen Lage international orientieren. Auch Holland ist, ob es will oder nicht, nur ein kleines Rädchen in dem ganzen Getriebe der heutigen Weltpolitik und Diplomatie. Dies würde sofort klarwerden, falls Holland tatsächlich in den Mahlstrom des Weltkrieges hineingerissen würde. Das erste ist, daß seine Gegner auch gegen seine Kolonien den Schlag zu führen suchen würden. Hollands Kriegführung würde sich also von selbst auf die Erhaltung seines heutigen Besitzstandes richten, die Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit des Flamenvolkes an der Nordsee würde sich konkret erweitern zur Verteidigung seines Herrschafts- und Ausbeutereichs über die Malaien im Ostindischen Archipel. Aber nicht genug: der Militarismus Hollands würde, auf sich gestellt, in dem Strudel des Weltkriegs wie eine Nußschale zerschellen, Holland würde auch, ob es will oder nicht, sofort Mitglied eines der kämpfenden Großstaatkonsortien, also auch von dieser Seite Träger und Werkzeug rein imperialistischer Tendenzen werden.

Auf diese Weise ist es immer wieder das historische Milieu des heutigen Imperialismus, das den Charakter der Kriege in den einzelnen Ländern bestimmt, und dieses Milieu macht es, daß heutzutage nationale Verteidigungskriege überhaupt nicht mehr möglich sind.

So schrieb auch Kautsky erst vor wenigen Jahren in seiner Broschüre Patriotismus und Sozialdemokratie, Leipzig 1907:

„Sind der Patriotismus der Bourgeoisie und des Proletariats zwei ganz verschiedene, geradezu gegensätzliche Erscheinungen, so gibt es doch Situationen, in denen beide Arten von Patriotismus zu gemeinsamem Wirken sogar in einem Kriege zusammenfließen können. Bourgeoisie und Proletariat einer Nation haben das gleiche Interesse an ihrer Unabhängigkeit und Selbständigkeit, an der Beseitigung und Fernhaltung jeder Art von Unterdrückung und Ausbeutung durch eine fremde Nation ... Bei den nationalen Kämpfen, die derartigen Bestrebungen entsprossen, hat sich stets der Patriotismus des Proletariats mit dem der Bourgeoisie vereinigt ... Seitdem aber das Proletariat eine Macht geworden ist, die bei jeder größeren Erschütterung des Staates für die herrschenden Klassen gefährlich wird, seitdem am Ende eines Krieges die Revolution droht, wie die Pariser Kommune 1871 und der russische Terrorismus nach dem russisch-türkischen Krieg bewiesen, seitdem hat die Bourgeoisie auch solcher Nationen, die nicht oder nicht genügend selbständig und geeint sind, ihre nationalen Ziele tatsächlich aufgegeben, wenn diese nur durch den Umsturz einer Regierung erreichbar sind, da sie die Revolution mehr haßt und fürchtet als sie die Selbständigkeit und Größe der Nation liebt. Daher verzichtet sie auf die Selbständigkeit Polens und läßt so vorsintflutliche Staatsgebilde wie Österreich und die Türkei weiter bestehen, die schon vor einem Menschenalter dem Untergange geweiht erschienen.

Damit haben in den zivilisierten Teilen Europas die nationalen Kämpfe als Ursache von Revolutionen oder Kriegen aufgehört. Jene nationalen Probleme, die doch auch heute noch nur durch Krieg oder Revolution zu lösen sind, können fortan erst gelöst werden nach dem Siege des Proletariats. Dann aber nehmen sie sofort, dank der internationalen Solidarität, eine ganz andere Gestalt an, als heute, in der Gesellschaft der Ausbeutung und Unterdrückung. Sie brauchen in den kapitalistischen Staaten das Proletariat bei seinen praktischen Kämpfen von heute nicht mehr zu beschäftigen, dieses hat seine ganze Kraft anderen Aufgaben zuzuwenden. (S. 12–14.)

„Indessen schwindet die Wahrscheinlichkeit immer mehr, daß sich jemals noch der proletarische und der bürgerliche Patriotismus zur Verteidigung der Freiheit des eigenen Volkes vereinigen.“ Die französische Bourgeoisie habe sich vereinigt mit dem Zarismus. Rußland sei keine Gefahr mehr für die Freiheit Westeuropas, weil durch die Revolution geschwächt. „Unter diesen Verhältnissen ist ein Krieg zur Verteidigung der Freiheit der Nation, in dem bürgerlicher und proletarischer Patriotismus sich vereinigen könnten, nirgends mehr zu erwarten.“ (S. 16.) [Hervorhebung – RL]

Wir haben schon gesehen, daß die Gegensätze aufgehört hatten, die im 19. Jahrhundert noch manche freiheitlichen Völker zwingen konnten, ihren Nachbarn kriegerisch entgegenzutreten; wir haben gesehen, daß der heutige Militarismus auch nicht im entferntesten mehr der Verfechtung wichtiger Volksinteressen, sondern nur der Verfechtung des Profits gilt; nicht der Sicherstellung der Unabhängigkeit und Unverletztheit des eigenen Volkstums, das niemand bedroht, sondern nur der Sicherstellung und Erweiterung der überseeischen Eroberungen, die bloß der Förderung des kapitalistischen Profits dienen. Die heutigen Gegensätze der Staaten können keinen Krieg mehr bringen, dem der proletarische Patriotismus nicht aufs entschiedenste zu widerstreben hätte. (S. 23.) Hervorhebungen – RL]

Was ergibt sich aus alledem für das praktische Verhalten der Sozialdemokratie in dem heutigen Kriege? Sollte sie etwa erklären: da dieser Krieg ein imperialistischer, da dieser Staat nicht dem sozialen Selbstbestimmungsrecht, nicht dem nationalen Ideal [2] entspricht, so ist er uns gleichgültig, und wir geben ihn dem Feinde preis? Das passive Gehen- und Geschehenlassen kann niemals die Richtschnur für das Verhalten einer revolutionären Partei, wie die Sozialdemokratie, abgeben. Weder sich zur Verteidigung des bestehenden Klassenstaates unter das Kommando der herrschenden Klassen stellen, noch schweigend auf die Seite gehen, um abzuwarten, bis der Sturm vorbei ist, sondern selbständige Klassenpolitik einschlagen, die in jeder großen Krise der bürgerlichen Gesellschaft die herrschenden Klassen vorwärtspeitscht, die Krise über sich selbst hinaustreibt, das ist die Rolle der Sozialdemokratie, als der Vorhut des kämpfenden Proletariats. Statt also dem imperialistischen Kriege den Mantel der nationalen Verteidigung fälschlich umzuhängen, galt es gerade mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und mit der nationalen Verteidigung Ernst zu machen, sie als revolutionären Hebel gegen den imperialistischen Krieg zu wenden. Das elementarste Erfordernis der nationalen Verteidigung ist, daß die Nation die Verteidigung in die eigene Hand nimmt. Der erste Schritt dazu ist: die Miliz, das heißt: nicht bloß sofortige Bewaffnung der gesamten erwachsenen männlichen Bevölkerung, sondern vor allem auch die Entscheidung des Volkes über Krieg und Frieden, das heißt ferner: die sofortige Beseitigung aller politischen Entrechtung, da die größte politische Freiheit als Grundlage der Volksverteidigung notwendig ist. Diese wirklichen Maßnahmen der nationalen Verteidigung zu proklamieren, ihre Verwirklichung zu fordern, das war die erste Aufgabe der Sozialdemokratie. Vierzig Jahre lang haben wir den herrschenden Klassen wie den Volksmassen bewiesen, daß nur die Miliz imstande sei, das Vaterland wirklich zu verteidigen, es unbesiegbar zu machen. Und nun, wo es zu der ersten großen Probe kam, haben wir die Verteidigung des Landes als etwas ganz Selbstverständliches in die Hände des stehenden Heeres, des Kanonenfutters unter der Fuchtel der herrschenden Klassen überwiesen. Unsere Parlamentarier haben offenbar gar nicht bemerkt, daß sie indem sie dieses Kanonenfutter „mit heißen Wünschen“ als wirkliche Wehr des Vaterlandes ins Feld begleiteten, indem sie ohne weiteres zugaben, das königlich-preußische stehende Heer sei in der Stunde der größten Not des Landes sein wirklicher Retter, daß sie dabei den Angelpunkt unseres politischen Programms: die Miliz, glatt preisgaben, die praktische Bedeutung unserer vierzigjährigen Milizagitation in Dunst auflösten, zur doktrinär-utopischen Schrulle machten, die kein Mensch mehr ernst nehmen wird. [1*]

Anders verstanden die Vaterlandsverteidigung die Meister des internationalen Proletariats. Als das Proletariat in dem von Preußen belagerten Paris 1871 das Heft in die Hände nahm, schrieb Marx begeistert über seine Aktion:

Paris, der Mittelpunkt und Sitz der alten Regierungsmacht und gleichzeitig der gesellschaftliche Schwerpunkt der französischen Arbeiterklasse, Paris hatte sich in Waffen erhoben gegen den Versuch des Herrn Thiers und seiner Krautjunker, diese ihnen vom Kaisertum überkommne alte Regierungsmacht wiederherzustellen und zu verewigen. Paris konnte nur Widerstand leisten, weil es infolge der Belagerung die Armee losgeworden war, an deren Stelle es eine hauptsächlich aus Arbeitern bestehende Nationalgarde gesetzt hatte. Diese Tatsache galt es jetzt in eine bleibende Einrichtung zu verwandeln. Das erste Dekret der Kommune war daher die Unterdrückung des stehenden Heeres und seine Ersetzumg durch das bewaffnete Volk ...

Wenn sonach die Kommune die wahre Vertreterin aller gesunden Elemente der französischen Gesellschaft war, und daher die wahrhaft nationale Regierung, so war sie gleichzeitig, als eine Arbeiterregierung, als der kühne Vorkämpfer der Befreiung der Arbeit, im vollen Sinn des Worts international. Unter den Augen der preußischen Armee, die zwei französische Provinzen an Deutschland annektiert hatte, annektierte die Kommune die Arbeiter der ganzen Welt an Frankreich.“ (Adresse des Generalrats der Internationale) [3] [Hervorhebungen – RL]

Und wie dachten unsere Altmeister über die Rolle der Sozialdemokratie in einem Kriege wie der heutige? Friedrich Engels schrieb im Jahre 1892 über die Grundlinien der Politik, die in einem großen Kriege der Partei des Proletariats zufällt, wie folgt:

Ein Krieg, wo Russen und Franzosen in Deutschland einbrächen, wäre für dieses ein Kampf auf Leben und Tod, worin es seine nationale Existenz nur sichern könnte durch Anwendung der revolutionären Maßregeln. Die jetzige Regierung, falls sie nicht gezwungen wird, entfesselt die Revolution sicher nicht. Aber wir haben eine starke Partei, die sie dazu zwingen oder im Notfall sie ersetzen kann, die sozialdemokratische Partei.

Und wir haben das großartige Beispiel nicht vergessen, das Frankreich uns 1793 gab. Das hundertjährige Jubiläum von 1793 naht heran. Sollte der Eroberungsmut des Zaren und die chauvinistische Ungeduld der französischen Bourgeoisie den siegreichen, aber friedlichen Vormarsch der deutschen Sozialisten aufhalten, so sind diese – verlaßt euch darauf – bereit, der Welt zu beweisen, daß die deutschen Proletarier von heute der französischen Sanskulotten nicht unwürdig sind und daß 1893 sich sehen lassen kann neben 1793. Und wenn dann die Soldaten des Herrn Constans den Fuß auf deutsches Gebiet setzen, wird man sie begrüßen mit den Worten der Marseillaise:

Quoi? ces cohortes étrangères
Feraient la loi dans nos foyers?

Wie, sollen diese fremden Kohorten
Das Gesetz uns schreiben am eigenen Herd?

Kurz und gut: Der Friede sichert den Sieg der deutschen sozialdemokratischen Partei in ungefähr zehn Jahren. Der Krieg bringt ihr entweder den Sieg in zwei bis drei Jahren, oder vollständigen Ruin wenigstens auf fünfzehn bis zwanzig Jahre. [4] [Hervorhebungen – RL]

Engels hatte, als er das schrieb, eine ganz andere Situation im Sinn als die heutige. Er hatte noch das alte Zarenreich vor den Augen, während wir seitdem die große russische Revolution erlebt haben. Er dachte ferner an einen wirklichen nationalen Verteidigungskrieg des überfallenen Deutschlands gegen zwei gleichzeitige Angriffe in Ost und West. Er hat schließlich die Reife der Verhältnisse in Deutschland und die Aussichten auf die soziale Revolution überschätzt, wie wirkliche Kämpfer das Tempo der Entwicklung meist zu überschätzen pflegen. Was aber bei alledem aus seinen Ausführungen mit aller Deutlichkeit hervorgeht, ist, daß Engels unter nationaler Verteidigung im Sinne der sozialdemokratischen Politik nicht die Unterstützung der preußisch-junkerlichen Militärregierung und ihres Generalstabs verstand, sondern eine revolutionäre Aktion nach dem Vorbild der französischen Jakobiner.

Ja, die Sozialdemokraten sind verpflichtet, ihr Land in einer großen historischen Krise zu verteidigen. Und darin gerade liegt eine schwere Schuld der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, daß sie in ihrer Erklärung vom 4. August 1914 feierlich verkündete: „Wir lassen das Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich“, ihre Worte aber im gleichen Augenblick verleugnete. Sie hat das Vaterland in der Stunde der größten Gefahr im Stiche gelassen. Denn die erste Pflicht gegenüber dem Vaterland in jener Stunde war: ihm den wahren Hintergrund dieses imperialistischen Krieges zu zeigen, das Gewebe von patriotischen und diplomatischen Lügen zu zerreißen, womit dieser Anschlag auf das Vaterland umwoben war; laut und vernehmlich auszusprechen, daß für das deutsche Volk in diesem Krieg Sieg wie Niederlage gleich verhängnisvoll sind; sich der Knebelung des Vaterlandes durch den Belagerungszustand bis zum äußersten zu widersetzen; die Notwendigkeit der sofortigen Volksbewaffnung und der Entscheidung des Volkes über Krieg und Frieden zu proklamieren; die permanente Tagung der Volksvertretung für die Dauer des Krieges mit allem Nachdruck zu fordern, um die wachsame Kontrolle der Regierung durch die Volksvertretung und der Volksvertretung durch das Volk zu sichern; die sofortige Abschaffung aller politischen Entrechtung zu verlangen, da nur ein freies Volk sein Land wirksam verteidigen kann; endlich dem imperialistischen, auf die Erhaltung Österreichs und der Türkei, das heißt der Reaktion in Europa und in Deutschland gerichteten Programm des Krieges das alte wahrhaft nationale Programm der Patrioten und Demokraten von 1848, das Programm von Marx, Engels und Lassalle: die Losung der einigen großen deutschen Republik entgegenzustellen. Das war die Fahne, die dem Lande vorangetragen werden mußte, die wahrhaft national, wahrhaft freiheitlich gewesen wäre und in Übereinstimmung mit den besten Traditionen Deutschlands wie mit der internationalen Klassenpolitik des Proletariats.

Die große geschichtliche Stunde des Weltkrieges heischte offenbar eine entschlossene politische Leitung, eine großzügige umfassende Stellungnahme, eine überlegene Orientierung des Landes, die nur die Sozialdemokratie zu geben berufen war. Statt dessen erfolgte von der parlamentarischen Vertretung der Arbeiterklasse, die in jenem Augenblick das Wort hatte, ein jämmerliches, beispielloses Versagen. Die Sozialdemokratie hat – dank ihren Führern – nicht eine falsche Politik, sondern überhaupt gar keine eingeschlagen, sie hat sich als besondere Klassenpartei mit eigener Weltanschauung völlig ausgeschaltet, hat das Land kritiklos dem furchtbaren Verhängnis des imperialistischen Krieges nach außen und der Säbeldiktatur im Inneren preisgegeben und obendrein die Verantwortung für den Krieg auf sich geladen. Die Erklärung der Reichstagsfraktion sagt: nur die Mittel zur Verteidigung des Landes hätte sie bewilligt, die Verantwortung hingegen für den Krieg abgelehnt. Das gerade Gegenteil ist wahr. Die Mittel zu dieser „Verteidigung“, das heißt zur imperialistischen Menschenschlächterei durch die Heere der Militärmonarchie brauchte die Sozialdemokratie gar nicht zu bewilligen, denn ihre Anwendung hing nicht im geringsten von der Bewilligung der Sozialdemokratie ab: dieser als Minderheit stand die kompakte Dreiviertelmajorität des bürgerlichen Reichstags gegenüber. Durch ihre freiwillige Bewilligung hat die sozialdemokratische Fraktion nur eines erreicht: die Demonstration der Einigkeit des ganzen Volkes im Kriege, die Proklamierung des Burgfriedens, das heißt die Einstellung des Klassenkampfes, die Auslöschung der oppositionellen Politik der Sozialdemokratie im Kriege, also die moralische Mitverantwortung für den Krieg. Durch ihre freiwillige Bewilligung der Mittel hat sie dieser Kriegführung den Stempel der demokratischen Vaterlandsverteidigung aufgedrückt, die Irreführung der Massen über die wahren Bedingungen und Aufgaben der Vaterlandsverteidigung unterstützt und besiegelt.

So ist das schwere Dilemma zwischen Vaterlandsinteressen und internationaler Solidarität des Proletariats, der tragische Konflikt, der unsere Parlamentarier nur „mit schwerem Herzen“ auf die Seite des imperialistischen Krieges fallen ließ, reine Einbildung, bürgerlich-nationalistische Fiktion. Zwischen den Landesinteressen und dem Klasseninteresse der proletarischen Internationale besteht vielmehr im Krieg wie im Frieden vollkommene Harmonie: beide erfordern die energischste Entfaltung des Klassenkampfes und die nachdrücklichste Vertretung des sozialdemokratischen Programms.

Was sollte aber unsere Partei tun, um ihrer Opposition gegen den Krieg, um jenen Forderungen Nachdruck zu verleihen? Sollte sie den Massenstreik proklamieren? Oder zur Dienstverweigerung der Soldaten auffordern? So wird gewöhnlich die Frage gestellt. Eine Bejahung solcher Fragen wäre genauso lächerlich, wie wenn die Partei etwa beschließen wollte: „Wenn der Krieg ausbricht, dann machen wir Revolution.“ Revolutionen werden nicht „gemacht“, und große Volksbewegungen werden nicht mit technischen Rezepten aus der Tasche der Parteiinstanzen inszeniert. Kleine Verschwörerzirkel können für einen bestimmten Tag und Stunde einen Putsch „vorbereiten“, können ihren paar Dutzend Anhängern im nötigen Moment das Signal zum „Losschlagen“ geben. Massenbewegungen in großen historischen Augenblicken können mit dergleichen primitiven Mitteln nicht geleitet werden. Der „bestvorbereitete“ Massenstreik kann unter Umständen just, wenn ein Parteivorstand zu ihm „das Signal“ gibt, kläglich versagen oder nach einem ersten Anlauf platt zu Boden fallen. Ob große Volkskundgebungen und Massenaktionen, sei es in dieser oder jener Form, wirklich stattfinden, darüber entscheidet die ganze Menge ökonomischer, politischer und psychischer Faktoren, die jeweilige Spannung der Klassengegensätze, der Grad der Aufklärung, die Reife der Kampfstimmung der Massen, die unberechenbar sind und die keine Partei künstlich erzeugen kann. Das ist der Unterschied zwischen den großen Krisen der Geschichte und den kleinen Paradeaktionen, die eine gutdisziplinierte Partei im Frieden sauber nach dem Taktstock der „Instanzen“ ausführen kann. Die geschichtliche Stunde heischt jedesmal die entsprechenden Formen der Volksbewegung und schafft sich selbst neue, improvisiert vorher unbekannte Kampfmittel, sichtet und bereichert das Arsenal des Volkes, unbekümmert um alle Vorschriften der Parteien.

Was die Führer der Sozialdemokratie als der Vorhut des klassenbewußten Proletariats zu geben hatten, waren also nicht lächerliche Vorschriften und Rezepte technischer Natur, sondern die politische Losung, die Klarheit über die politischen Aufgaben und Interessen des Proletariats im Kriege. Auf jede Massenbewegung paßt nämlich, was sich von den Massenstreiks in der russischen Revolution sagen ließ:

Wenn die Leitung der Massenstreiks im Sinne des Kommandos über ihre Entstehung und im Sinne der Berechnung und Deckung ihrer Kosten Sache der revolutionären Periode selbst ist, so kommt dafür die Leitung in einem ganz andern Sinne der Sozialdemokratie und ihren führenden Organen zu. Statt sich mit der technischen Seite, mit dem Mechanismus der Massenbewegung fremden Kopf zu zerbrechen, ist die Sozialdemokratie berufen, die politische Leitung auch mitten in der historischen Krise zu übernehmen. Die Parole, die Richtung dem Kampfe zu geben, die Taktik des politischen Kampfes so einzurichten, daß in jeder Phase und in jedem Moment die ganze Summe der vorhandenen und bereits ausgelösten, betätigten Macht des Proletariats realisiert wird und in der Kampfstellung der Partei zum Ausdruck kommt, daß die Taktik der Sozialdemokratie nach ihrer Entschlossenheit und Schärfe nie unter dem Niveau des tatsächlichen Kräfteverhältnisses steht, sondern vielmehr diesem Verhältnis vorauseilt, das ist die wichtige Aufgabe der „Leitung“ in der großen geschichtlichen Krise. Und diese Leitung schlägt von selbst gewissermaßen in technische Leitung um. Eine konsequente, entschlossene, vorwärtsstrebende Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats basierte Taktik wirkt auf die Masse lähmend und verwirrend. Im ersteren Falle brechen Massenaktionen „von selbst“ und immer „rechtzeitig“ aus, im zweiten bleiben mitunter direkte Aufforderungen der Leitung zur Massenaktion erfolglos. [2*]

Daß es nicht auf die äußere technische Form der Aktion, sondern auf ihren politischen Inhalt ankommt, beweist die Tatsache, daß zum Beispiel gerade die Parlamentstribüne, als der einzige freie, weithin vernehmbare und international sichtbare Posten, zum gewaltigen Werkzeug der Volksaufrüttelung in diesem Falle werden konnte, wenn sie von der sozialdemokratischen Vertretung dazu benutzt worden wäre, um laut und deutlich die Interessen, die Aufgaben und die Forderungen der Arbeiterklasse in dieser Krise zu formulieren.

Ob diesen Losungen der Sozialdemokratie die Massen durch ihr Verhalten Nachdruck verliehen hätten? Niemand kann das im Drang sagen. Aber das ist auch gar nicht das Entscheidende. Haben doch unsere Parlamentarier auch die Generale des preußisch-deutschen Heeres in den Krieg „vertrauensvoll“ ziehen lassen, ohne ihnen etwa vor der Kreditbewilligung die seltsame Zusicherung im voraus abzufordern, daß sie unbedingt siegen werden, daß Niederlagen ausgeschlossen bleiben. Was für die militärischen Armeen, gilt auch für revolutionäre Armeen: sie nehmen den Kampf auf, wo er sich bietet, ohne im voraus die Gewißheit des Gelingens zu beanspruchen. Schlimmstenfalls wäre die Stimme der Partei zuerst ohne sichtbare Wirkung geblieben. Ja, die größten Verfolgungen wären wahrscheinlich der Lohn der mannhaften Haltung unserer Partei geworden, wie sie 1870 der Lohn Bebels und Liebknechts gewesen. „... aber was hat das zu sagen?“ – meinte schlicht Ignaz Auer in seiner Rede über die Sedanfeier 1895 –, „eine Partei, welche die Welt erobern will, muß ihre Grundsätze hochhalten, ohne Rücksicht darauf, mit welchen Gefahren das verknüpft ist; sie wäre verloren, wenn sie anders handelte!“ [5]

„Gegen den Strom schwimmen ist nie leicht“ – schrieb der alte Liebknecht –, „und wenn der Strom mit der reißenden Schnelle und Wucht eines Niagara dahinschnellt, dann ist’s erst recht keine Kleinigkeit.

Den älteren Genossen ist noch die Sozialistenhatz des Jahres der tiefsten „nationalen Schmach“: der Sozialistengesetz-Schmach – 1878 – im Gedächtnis. Millionen sahen damals in jedem Sozialdemokraten einen Mörder und gemeinen Verbrecher, wie 1870 einen Vaterlandsverräter und Todfeind. Solche Ausbrüche der „Volksseele“ haben durch ihre ungeheure Elementarkraft etwas Verblüffendes, Betäubendes, Erdrückendes. Man fühlt sich machtlos einer höheren Macht gegenüber – einer richtigen, jeden Zweifel ausschließenden force majeure. Man hat keinen greifbaren Gegner. Es ist wie eine Epidemie – in den Menschen, in der Luft, überall.

Der Ausbruch von 1878 war jedoch an Stärke und Wildheit bei weitem nicht vergleichbar mit dem von 1870. Nicht bloß dieser Orkan menschlicher Leidenschaft, der alles, was er packt, auch beugt, niederwirft, zerbricht – dazu noch die furchtbare Maschinerie des Militarismus in vollster furchtbarster Tätigkeit, und wir zwischen dem Herumsausen der eisernen Räder, deren Berührung der Tod war, und zwischen den eisernen Armen, die um uns herumschwirrten und jeden Augenblick uns fassen konnten. Neben der Elementarkraft entfesselter Geister der vollendetste Mechanismus der Mordkunst, den die Welt bis dahin gesehen. Und alles in wildester Arbeit – alle Dampfkessel geheizt zum Bersten. Wo bleibt da die Einzelkraft, der Einzelwille? Namentlich wenn man sich in verschwindender Minderheit weiß und im Volke selbst keinen sicheren Stützpunkt hat.

Unsere Partei war erst im Werden. Wir waren auf die denkbar schwerste Probe gestellt, ehe die erforderliche Organisation geschaffen war. Als die Sozialistenhatz kam, im Jahre der Schande für unsere Feinde und im Jahre des Ruhms für die Sozialdemokratie, hatten wir schon eine so starke und weitverzweigte Organisation, daß jeder durch das Bewußtsein eines mächtigen Rückhalts gekräftigt war und daß kein Denkfähiger an ein Erliegen der Partei glauben konnte.

Also eine Kleinigkeit war’s nicht, damals gegen den Strom zu schwimmen. Aber was war zu machen? Was sein mußte, mußte sein. Da hieß es: die Zähne zusammenbeißen und was kommen wollte, an sich herankommen lassen. Zur Furcht war keine Zeit ...

Nun, Bebel und ich ... beschäftigten uns keine Minute mit der Warnung. Das Feld räumen konnten wir nicht, wir mußten auf dem Posten bleiben, komme was komme. [6]

Sie blieben auf dem Posten, und die deutsche Sozialdemokratie zehrte vierzig Jahre lang von der moralischen Kraft, die sie damals gegen eine Welt von Feinden aufgeboten hatte.

So wäre es auch diesmal gegangen. Im ersten Moment wäre vielleicht nichts anderes erreicht, als daß die Ehre des deutschen Proletariats gerettet war, als daß Tausende und aber Tausende Proletarier, die jetzt in den Schützengräben bei Nacht und Nebel umkommen, nicht in dumpfer seelischer Verwirrung, sondern mit dem Lichtfunken im Hirn sterben würden, daß das, was ihnen im Leben das Teuerste war: die internationale, völkerbefreiende Sozialdemokratie, kein Trugbild sei. Aber schon als ein mächtiger Dämpfer auf den chauvinistischen Rausch und die Besinnungslosigkeit der Menge hätte die mutige Stimme unserer Partei gewirkt, sie hätte die aufgeklärten Volkskreise vor dem Delirium bewahrt, hätte den Imperialisten das Geschäft der Volksvergiftung und der Volksverdummung erschwert. Gerade der Kreuzzug gegen die Sozialdemokratie hätte die Volksmassen am raschesten ernüchtert. Sodann im weiteren Verlaufe des Krieges, im Maße, wie der Katzenjammer der unendlichen grausigen Massenschlächterei in allen Ländern wächst, wie der imperialistische Pferdefuß des Krieges immer deutlicher hervorguckt, wie der Marktlärm des blutgierigen Spekulantentums frecher wird, würde alles Lebendige, Ehrliche, Humane, Fortschrittliche sich um die Fahne der Sozialdemokratie scharen. Und dann vor allem: Die deutsche Sozialdemokratie wäre in dem allgemeinen Strudel, Zerfall und Zusammenbruch wie ein Fels im brausenden Meer der hohe Leuchtturm der Internationale geblieben, nach dem sich bald alle anderen Arbeiterparteien orientiert hätten. Die enorme moralische Autorität, welche die deutsche Sozialdemokratie bis zum 4. August 1914 in der ganzen proletarischen Welt genoß, hätte ohne jeden Zweifel auch in dieser allgemeinen Verwirrung in kurzer Frist einen Wandel herbeigeführt. Damit wäre die Friedensstimmung und der Druck der Volksmassen zum Frieden in allen Ländern gesteigert, die Beendigung des Massenmordes beschleunigt, die Zahl seiner Opfer verringert worden. Das deutsche Proletariat wäre der Turmwächter des Sozialismus und der Befreiung der Menschheit geblieben – und dies ist wohl ein patriotisches Werk, das der Jünger von Marx, Engels und Lassalle nicht unwürdig war.

Fußnoten von Rosa Luxemburg

1*. „Wenn trotzdem die sozialdemokratische Reichstagsfraktion jetzt einstimmig die Kriegskredite bewilligte“ – schrieb das Münchener Parteiorgan am 6. August –, „wenn sie heiße Wünsche des Erfolges allen auf den Weg mitgab, die zur Verteidigung des Deutschen Reiches hinausziehen, so war das nicht etwa ein ‚taktischer Zug‘, es war die ganz natürliche Konsequenz der Haltung einer Partei, die stets bereit war, ein Volksheer zur Verteidigung des Landes an die Stelle eines Systems zu setzen, das ihr mehr der Ausdruck der Klassenherrschaft als des Verteidigungswillens der Nation gegen freche Überfälle schien.“

Schien!! – In der Neuen Zeit ist der heutige Krieg gar direkt zum „Volkskrieg“, die stehende Armee zum „Volksheer“ erhoben (siehe Nr. 20 und 23 vom August–September 1914). – Der sozialdemokratische Militärschriftsteller Hugo Schulz rühmt im Kriegsbericht vom 24. August 1914 den „starken Milizengeist“, der in der habsburgischen Armee „lebendig“ sei!

2*. R. Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Hamburg 1907. [Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1972, S. 133/134.]



Anmerkungen

1. Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 360/361.

2. In der Quelle: idealen National.

3. Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 338, 346.

4. Friedrich Engels, Der Sozialismus in Deutschland, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 22, S. 255/256.

5. I. Auer, Sedanfeier und Sozialdemokratie, S. 6.

6. Der Leipziger Hochverratsprozeß vom Jahre 1872, Berlin 1960, S. 389, 392.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012