Rosa Luxemburg


Was ist mit Liebknecht? [1]

(Juni 1916)


Flugblatt des Spartakusbundes vom Juni 1916 – der Artikel ist nicht gezeichnet.
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, D.F. V/14.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 194–197.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


3. In der Internationale liegt der Schwerpunkt der Klassenorganisation des Proletariats
4. Die Pflicht zur Ausführung der Beschlüsse der Internationale geht allen anderen Organisationspflichten voran.
(Leitsätze [der Gruppe Internationale]) [2]

Arbeiter! Parteigenossen! Die Säbeldiktatur ist drauf und dran, ihren unversöhnlichsten Feind zur Strecke zu bringen. Die militärische „Gerichtsverhandlung“ gegen Karl Liebknecht steht bevor. [3]

Diese Gerichtsverhandlung ist eine freche Komödie. Sie findet statt unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Verteidigung ist aufs äußerste beschränkt. Als „Richter“ führen den entscheidenden Vorsitz hohe Militärs, das heißt gerade die Vertreter derselben Säbelherrschaft, gegen die Liebknecht unerschrocken den Kampf führte.

Den Gipfel der Infamie bildet die Anklage. Sie lautet auf versuchten Kriegsverrat im Felde! Obwohl Liebknecht am 1. Mai nicht im Felde war, sondern in Berlin auf dem Potsdamer Platz, soll ihm eingeredet werden, dass er „im Felde“ die Maidemonstration mitmachte. Obwohl er als Reichstagsabgeordneter, als Volksvertreter in Berlin war, soll er als Soldat abgeurteilt werden. Obwohl er als Fahnenträger des internationalen Sozialismus am 1. Mai demonstrierte, um in allen Ländern die Volksmassen zum Kampfe gegen den Völkermord aufzurütteln, wird ihm „Kriegsverrat“ am deutschen Heere aufgehalst.

Es ist klar, die Regierung mit ihren Spießgesellen plant einen Justizmord an Karl Liebknecht! Der verhasste Vorkämpfer des Sozialismus, der unbeugsame Verteidiger der Arbeiterklasse soll von seinen Todfeinden gemeuchelt werden, er soll von der öffentlichen Bühne beseitigt werden, der Störenfried soll in der Versenkung verschwinden!

Und dieser saubere Plan wird mit allen raffinierten Mitteln vorbereitet. Die Militärjustiz, die sonst blitzschnell arbeitet wie eine Guillotine, ist diesmal so merkwürdig schleppend, dass die famose Anklage erst 5 Wochen nach der Festnahme Liebknechts fertig wurde. Weshalb? Weil man erst den Reichstag und den Landtag loswerden wollte! [4] So hündisch sich die beiden Körperschaften benommen haben, so befürchteten die Schergen der Säbeldiktatur denn doch, dass diese ungeheuerliche Anklage und diese blutige Farce der Gerichtsverhandlung ein gewisses Echo auf der Tribüne des Reichstags oder Landtags finden und das Volk dadurch aufgeregt werden könnte.

Noch besser! Am 9. Juni verbreitete das Sprachrohr der deutschen Regierung, das Wolffsche Telegraphenbüro, die Meldung, dass Liebknecht auf Grund des § 89 [5] des Strafgesetzbuchs angeklagt sei.

Das war eine bewusste Lüge. Die Regierung belog in schamloser Weise die öffentliche Meinung! Der § 89 des Strafgesetzbuchs kennt als Mindeststrafe Festung. Die Anklage gegen Liebknecht lautet aber in Wirklichkeit auf § 57 [6] des Militärstrafgesetzbuchs, und dieser Paragraph diktiert als Mindeststrafe 10 Jahre Zuchthaus!

Nur im günstigsten Fall kann auf ein Viertel dieser Strafe, d.h. auf 2½ Jahre Zuchthaus, erkannt werden. Liebknecht soll also auf jeden Fall zum Zuchthaus verurteilt werden, weil damit die Aberkennung aller Bürger- und Ehrenrechte verbunden ist, also auch der Verlust seines Reichs- und Landtagsmandats!

Dies ist der Zweck der ganzen Gerichtskomödie! Das Fälscherkunststück des Wolffschen Telegraphenbüros soll diesen vorbereiteten Streich maskieren, es soll die öffentliche Meinung im Inlande und im Auslande einschläfern, damit der Streich unerwartet in aller Stille fällt!

Nun aber der Gipfel der Mache! Vor zwei Wochen hat in Braunschweig eine Abordnung des Generalkommandos aus Hannover, mit einem Hauptmann an der Spitze, im „Ernährungsausschuss“ folgende Ansprache gehalten:

Dem Generalkommando sei bekannt, dass die Braunschweiger Arbeiterschaft in Gärung sei, die Erregung sei im Wachsen begriffen. Wenn man ihr nicht vorbeuge, werde der Generalstreik ausbrechen und wie an einer Zündschnur auf Hannover, Magdeburg, Leipzig, Berlin und andere Städte überspringen. Und dann wäre es ja mit dem Kriege aus! Dieses Unglück müsse verhütet werden! Zu diesem Zweck sollen in Braunschweig Massenspeisungen eingerichtet werden, um die Arbeiter zu beschwichtigen. Wenn die Stadtbehörden dabei versagen, dann werde das Generalkommando selbst eingreifen. Das Volk müsse um jeden Preis beruhigt werden!

So will man den Arbeitern um den Bart gehen, so will man ihnen, wie einem Hunde, den Knochen hinwerfen, damit der Justizmord an Karl Liebknecht ungehindert ausgeführt wird.

Arbeiter, Parteigenossen, ihr Frauen des Volkes! Werdet ihr euch von dieser infamen Mache einfangen lassen? Wollt ihr den Meuchelmord an eurem treuesten Führer dulden?

Liebknecht kämpfte für uns alle. Er hat sich für das Proletariat, für den internationalen Sozialismus geopfert. Er hat gezeigt, dass man auch in Deutschland für seine sozialistische Überzeugung mit dem ganzen Menschen einsteht. Liebknecht ist jederzeit bereit, den letzten Blutstropfen für die Befreiung der Arbeiterklasse hinzugeben. Werdet ihr ihn jetzt ruhig der Rache der Kapitalisten, der Junker, der Krupp-Sippe, der Militärkamarilla überlassen?

Arbeiter! Liebknechts Sache ist eure Sache. In Liebknecht will man euch treffen, euch meucheln, euch zum Verstummen bringen, damit der Völkermord ungehindert weitergeht. In Liebknecht soll die Auflehnung des deutschen Proletariats gegen das Verbrechen des Krieges niedergestampft werden. Werdet ihr das dulden?

Nein und tausendmal nein!

Der saubere Plan des Justizmordes hinter den Kulissen, im stillen Kämmerlein, soll zuschanden werden. Erhebt eure Stimme! Zeigt, dass hinter Liebknecht Hunderttausende, Millionen stehen, die ebenso fühlen und denken wie er. Die Schergen sollen versuchen, Liebknecht zum Zuchthaus zu verurteilen! Sie sollen es wagen! Das Urteil wird im Reich und in den Schützengräben ein solches Echo wecken, dass den Kriegsmachern Hören und Sehen vergeht!

Aus Millionen Kehlen soll ihnen der Ruf Liebknechts in die Ohren gellen:

Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!

Anmerkungen

1. Illegales Flugblatt der Spartakusgruppe vom Mai 1916. – Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. In Spartakus im Kriege: Die illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Krieg, gesammelt und eingeleitet von Ernst Meyer, Berlin 1927, wird Rosa luxemburg als Verfasserin genannt.

2. Auch in Entwurf zu den Junius-Thesen.

3. Die Verhandlung erster Instanz gegen Karl Liebknecht fand am 28. Juni 1916 vor dem Kammergericht Berlin statt. Das Urteil lautete auf 2 Jahre 6 Monate und 3 Tage Zuchthaus. Das Urteil zweiter Instanz, gefällt vom Oberkriegsgericht Berlin am 23. August 1916, lautete auf 4 Jahre 1 Monat Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für 6 Jahre. Dieses Urteil wurde in letzter Instanz am 4. November 1916 vom Reichsmilitärgericht bestätigt und damit rechtskräftig.

4. Durch kaiserliche Verordnungen wurden am 8. Juni der Reichstag bis zum 25. September und am 25. Juni der Landtag bis zum 14. November vertagt.

5. Der Paragraph 89 des Reichsstrafgesetzbuch lautete: „Ein deutscher, welcher vorsätzlich während eines gegen das Deutsche Reich ausgebrochenen Krieges einer feindlichen Macht Vorschub leistet oder der Kriegsmacht des Deutschen reiches oder der Bundesgenossen desselben Nachteil zufügt, wird wegen Landesverrats mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Festungshaft von gleicher Dauer bestraft. sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Festungshaft bis zu zehn jahren ein. Neben der Festungshaft kann auf Verlust der bekleideten öffentlichen Ämter sowie der aus öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte erkannt werden.“

6. Der Paragraf 57 des militärstrafgesetzbuches lautete: „Wer im Felde einen Landesverrat begeht, wird wegen Kriegsverrats mit Zuchthaus nicht unter zehn jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft.“


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012